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Psychotherapie in der Psychiatrie

Störungsorientiertes Basiswissen für die Praxis

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl362 Seiten
ISBN9783170235700
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis25,99 EUR
In der heutigen Psychiatrie stellt die Psychotherapie einen Hauptpfeiler der Therapie dar. Es gilt, ausgehend von den zahlreichen Therapiemethoden und Techniken eine auf die individuellen Patientenbedürfnisse angepasste Psychotherapie anzubieten, die die Komplexität der Erkrankung, Stärken und Schwächen im Funktionsniveau sowie den sozialen Kontext berücksichtigt. Das vorliegende Lehrbuch bietet Ärzten und Psychologen eine systematische Grundlage für die psychotherapeutische Tätigkeit in der Psychiatrie. Es vermittelt einerseits psychotherapeutische Kernkompetenzen für das Fach Psychiatrie und andererseits störungsorientierte Behandlungsmethoden für die wesentlichen psychischen Störungen und setzt diese in Bezug zu den Richtlinienverfahren und wissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweisen. Dabei werden typische Kontexte der psychiatrischen Versorgung von der ambulanten Behandlung bis zur stationären Notfallversorgung inklusive der Wechselwirkungen von Psycho- und Pharmakotherapie berücksichtigt.

Prof. Dr. Sabine C. Herpertz, Beisitzerin Psychotherapie im DGPPN-Vorstand, leitet die Klinik für Allgemeine Psychiatrie an der Universität Heidelberg. PD Dr. Knut Schnell ist dort leitender Oberarzt und leitet die Arbeitsgruppe translationale psychiatrische Therapieforschung. Prof. Dr. Peter Falkai, Präsident der DGPPN, leitet die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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Leseprobe

2 Allgemeine Grundlagen und Basiskompetenzen


Knut Schnell und Sabine C. Herpertz

1 Was ist Psychotherapie? – Die Beziehungsperspektive


Was verstehen wir eigentlich unter dem Begriff Psychotherapie? Man kann mit dieser Frage den Alltag der psychiatrischen Versorgung von Patienten mit psychischen Störungen betrachten bzw. sich fragen, in welchen Situationen psychotherapeutische Interventionen stattfinden. Dabei wird man Probleme haben zu bestimmen, welche Formen der Interaktion mit Patienten keine Effekte auf deren psychischen Zustand haben. Tatsächlich liegt der Schluss nahe, dass jeder Arzt-Patienten-Kontakt Effekte auf den psychischen Zustand des Patienten hat, sei es in positiver oder negativer Weise. Damit aus diesen Interaktionen Interventionen werden – d.h. geplante, indikationsbezogene Anwendungen psychotherapeutischer Techniken, die sich positiv auf den Zustand von Patienten auswirken, ist ein Basiswissen über die Effekte eigenen Verhaltens auf den psychischen Zustand des Patienten erforderlich. Dieses Wissen soll die Auswahl von Verhaltensweisen mit dem Ziel therapeutischer Wirkungen ermöglichen.

Dabei ist nicht in allen Fällen von Anfang an eine störungsspezifische Auswahl von Interventionen, wie sie in den folgenden Kapiteln dargestellt werden, möglich. Ein naheliegender Grund hierfür ist die Notwendigkeit, zunächst mit einer ausreichenden Sicherheit eine Diagnose zu stellen, was ggf. einige Tage mit entsprechender Diagnostik dauern kann. Ein wesentliches Argument für den Erwerb von Basiskompetenzen ist daher die Tatsache, dass symptom- bzw. syndromorientierte (Krisen-)Interventionen oft auch vor Stellung einer definitiven Diagnose – z.B. bei Behandlung von Notfällen – notwendig werden. Schließlich muss auch ein Notfallmediziner in der Lage sein, ohne definitive Diagnose die vitalen Körperfunktionen eines Patienten zu stabilisieren.

Als weiteres Argument für die Vermittlung psychotherapeutischer Basiskompetenzen ist anzuführen, dass zu Beginn der Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie bzw. der Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten i.d.R. noch kein entsprechend differenziertes Methodenwissen bzw. keine Fertigkeiten existieren, um unmittelbar auf störungsspezifische Methoden zurückgreifen zu können. Unabhängig vom Ausbildungsstand wird die Auswahl von Interventionen auch durch weitere Faktoren erschwert. Zu nennen sind die Komorbidität verschiedener Störungen, die Interaktion mit körperlichen Erkrankungen und pharmakologischen Effekten.

1.1 Das konsistenztheoretische Modell der Allgemeinen Psychotherapie


Für den Erwerb psychotherapeutischer Basistechniken ist es sinnvoll, zunächst ein allgemeines Modell psychischer Störungen und der Wirkung psychotherapeutischer Interventionen zu kennen. Dieses Modell soll gleichzeitig den bio-psycho-sozialen Kontext der Entstehung und Behandlung psychischer Störungen beschreiben. Als Grundlage hierfür erscheint das von Klaus Grawe (2004) in seinem Buch Neuropsychotherapie dargestellte konsistenztheoretische Modell psychischen Geschehens geeignet. Als Basis der Entwicklung einer Allgemeinen Psychotherapie zielt es explizit darauf ab, psychische Störungen ebenso wie ihre Behandlung auf der biologischen Basis der Informationsverarbeitung im menschlichen Gehirn zu verstehen. Dies erscheint für psychotherapeutisches Handeln in der Psychiatrie angesichts des Nebeneinanders von psychotherapeutischen und biologischen Interventionen (z. B. Pharmakotherapie, EKT, Behandlung organischer Erkrankungen) angemessen. Prinzipiell lassen sich im konsistenztheoretischen Modell hierzu zwei verschiedene Ebenen berücksichtigen ( Abb. 2.1):

  1. Die Ebene des unmittelbar beobachtbaren situativen Verhaltens und des mitteilbaren Erlebens von Menschen in ihrer Interaktion mit der Umwelt
  2. Die neurobiologische Systemebene, d.h. die Ebene der Informationsverarbeitungsprozesse des Gehirns
Beispiel

Man kann sich zum besseren Verständnis dieser Betrachtungsweise in eine nächtliche akute Aufnahmesituation in einer psychiatrischen Klinik versetzen. Eine Frau, die nach einem Streit mit einem Familienangehörigen plötzlich auf eine vielbefahrene Straße gelaufen ist, wird vom Notarzt in Polizeibegleitung in die Klinik gebracht. Sie gibt zu Beginn des Gespräches in erregtem Zustand unvermittelt an, dass sie die Klinik sofort wieder verlassen möchte, um daraufhin zunächst weitere Antworten zu verweigern.

Betrachtet man diese Situation im Konzept der Allgemeinen Psychotherapie (Grawe 1998), so können sich zunächst folgende Überlegungen ergeben:

1. Auf der Ebene des unmittelbar beobachtbaren situativen Verhaltens und mitteilbaren Erlebens, lassen sich Symptome psychopathologisch durch Beobachtung und Exploration beschreiben. Nicht zu vernachlässigen ist hierbei auch die Information, die sich im Rahmen der Interaktion ergibt.

Psychopathologisch lässt sich – auch aus den spontanen Berichten der Angehörigen – Folgendes erheben: Die Patientin hat unmittelbar zuvor das o.g. impulsive, zunächst als suizidal einzuschätzende Verhalten gezeigt. Die Angehörigen berichten zudem von gedrückter Stimmung, Schlafstörungen, Ängsten und verminderter Nahrungsaufnahme in den Vortagen. Die Patientin habe viel geweint und am heutigen Abend Alkohol getrunken. Im unmittelbaren Kontakt erscheint die Patientin gesperrt, was sich bei weiterer Befragung in Kombination mit einer Zunahme der bereits beobachteten psychomotorischen Anspannung verstärkt.

Aufgrund dieser Symptome kann zunächst eine Verdachtsdiagnose aus katalogisierten kategorialen Systemen wie dem ICD oder DSM abgeleitet werden, die im Verlauf überprüft werden muss und den Charakter einer Arbeitshypothese hat. Gleichzeitig besteht auch die Möglichkeit einer dimensionalen Erfassung von Erleben und Verhalten z.B. mit klinischen Scores für Symptomausprägungen oder Profilen (Interaktionsverhalten, z. B. Kiesler Kreis, vgl. Abschnitt 3.2 v. Kap. 4 »Chronische Depressionen« sowie Abb. 4.2). Das Interaktionsverhalten ist in dieser Akutsituation von großer Bedeutung, da es den weiteren Verlauf und die Möglichkeiten einer gemeinsamen Therapieplanung bestimmt.

2. Auf der neurobiologischen Ebene, d.h. der Ebene der parallelen Informationsverarbeitungsprozesse des Gehirns sind nicht nur die Effekte von Psychotherapie zu beobachten, sondern auch Störungen, die als Effekte körperlicher Erkrankungen entstehen, sowie erwünschte und unerwünschte pharmakologische Wirkungen.

Im vorgestellten Fall wäre beispielsweise zu berücksichtigen, dass die Patientin alkoholisiert war, als sie auf die Straße lief. Der pharmakologische Effekt des Alkohols hat hier also möglicherweise zu einer erhöhten Impulsivität, d. h. einer verminderten Selektivität in der Auswahl motivationaler Schemata und ihrer Umsetzung in Verhalten geführt ( Abb. 2.1). Es ist davon auszugehen, dass sich dieser pharmakologische Einfluss auf die Konsistenzregulation auswirkt.

Zu den wichtigsten und gleichzeitig schwierigsten Aufgaben der Psychotherapie im psychiatrischen Versorgungssetting gehört es, die Interaktion der beschriebenen Ebenen zu berücksichtigen. Einen solchen theoretischen Rahmen bildet das konsistenztheoretische Modell ( Abb. 2.1). Dieses Modell beschreibt auf der Ebene des Erlebens und Verhaltens die Differenz zwischen einem motivationalen Ziel und der Rückmeldung aus der Umwelt über das Erreichen dieses Zieles mit dem Begriff der Inkongruenz (Powers 1973). Aus dem kontinuierlichen Abgleich der Ziele aktivierter motivationaler Schemata mit den sensorischen Rückmeldungen aus der Umwelt entstehen ständig Signale über Kongruenz bzw. Inkongruenz. Sie geben dem Individuum Rückmeldung über die Befriedigung seiner Grundbedürfnisse. Die aktuelle neurobiologische Forschung zeigt, dass sich solche Vorhersagefehler tatsächlich auch funktionell nachweisen lassen, z.B. anhand der Aktivierungsabnahme oder -steigerung des ventralen Striatums bei sensorischen Widersprüchen zu einer Belohnungserwartung (Knutson 2001).

Die motivationalen Schemata bilden das Bindeglied zwischen den Grundbedürfnissen und dem tatsächlichen Verhalten in der Interaktion mit der Umwelt. Sie lassen sich prinzipiell in Annäherungs- und Vermeidungsschemata unterteilen. Diese Einteilung lässt sich auch neurobiologisch abbilden, zum Beispiel im von Gray (1981) beschriebenen Modell der antagonistischen Wirkungen eines »Behavioral Approach Systems« (BAS) und eines »Behavioral Inhibiton Systems« (BIS). Dementsprechend können entweder Annährungsinkongruenz (z.B. bei Nichterreichen einer Belohnung, fehlender Zuwendung/Aufmerksamkeit im sozialen Kontakt etc.) oder Vermeidungsinkongruenz (z.B. bei Persistenz eines angstauslösenden Stimulus) fortbestehen und zu innerer Anspannung führen trotz Bemühungen, diese zu beenden.

Abb. 2.1: Konsistenztheoretisches Modell psychischer Regulation nach Grawe (2004): Die Prozesse auf der Systemebene des Gehirns wirken im Sinne der Konsistenzsicherung der parallel ablau fenden Informationsverarbeitungsvorgänge (linker weißer Pfeil). Dies bestimmt auch, welche Grundbedürfnisse zu einem bestimmten Zeitpunkt Einfluss auf die...

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