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E-Book

Psychotraumatologie

Das Lehrbuch

AutorGünter H. Seidler
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl286 Seiten
ISBN9783170235601
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Bei seelischen Krankheiten wird, im klinischen Kontext sowie in der Öffentlichkeit, zunehmend von 'Trauma' und 'Traumatisierung' gesprochen. Zahlreiche Therapeutinnen und Therapeuten haben sich auf die Behandlung seelisch traumatisierter Menschen spezialisiert, und viele Kliniken haben 'Traumastationen' eingerichtet. Zur Therapie psychisch Traumatisierter, deren Erkrankung auf überwältigende Erfahrungen zurückgeht, sind Spezialkenntnisse erforderlich. Dieses praxisorientierte, auf breiter klinischer Erfahrung beruhende Lehrbuch führt wissenschaftlich fundiert umfassend in die Geschichte, Theorie und Behandlungslehre der Psychotraumatologie ein. Es beschreibt alle relevanten Krankheitsbilder, deren Diagnostik und Therapie, und verdeutlicht, wo Weiterentwicklungen zu erwarten sind.

Prof. Dr. Günter H. Seidler ist Nervenarzt, Psychoanalytiker, ärztlicher Psychotherapeut und Psychotraumatologe. Er leitet in Heidelberg am Zentrum für Psychosoziale Medizin in der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik die Sektion Psychotraumatologie mit einer großen Traumaambulanz.

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Leseprobe

1 Einführung in Geschichte und zentrale Themen der Psychotraumatologie


1.1 Die Eisenbahn, der Vietnamkrieg und die Frauenbewegung: Stationen der Entwicklung eines Krankheitsmodells


Das, was wir heute »Traumafolgestörungen« nennen, dürfte es schon immer gegeben haben. Naturkatastrophen, große Hungersnöte und gewaltige Epidemien, Kriege, das, was wir heute »Arbeitsunfälle« nennen, Macht, die noch unverhüllter als gegenwärtig mit Mitteln der Gewalt durchgesetzt wurde, und Gewalt gegen Frauen und Kinder dürften allgegenwärtig gewesen sein. Eindrucksvoll ist der Versuch von Shay (1995), das Schicksal amerikanischer Vietnam-Veteranen auf dem Hintergrund des klassischen Stoffs der Ilias zu lesen und umgekehrt die Situation und das Erleben von deren Protagonisten Achill in Konzepten heutiger psychotraumatologischer Krankheitslehre zu beschreiben. Biologische Reaktionen auf Todesangst dürften weitgehend kulturinvariant ablaufen.

Die Geschichtsschreibung der Psychotraumatologie allerdings reicht nicht viel weiter zurück als bis in die zweite Hälfte des vorletzten Jahrhunderts (Fischer-Homberger 1975; Micale und Lerner 2001). Die Zeit davor ist medizinhistorisch unter einer Traumaperspektive kaum untersucht. Seidler und Eckart (2005 a) gehen einen anderen Weg in ihrem Versuch, Grundlagen einer historischen Traumaforschung zu legen, indem sie fragen, welche Auswirkungen Gewalterfahrungen auf verschiedene Systeme und Orientierungen in einer Gesellschaft haben. Diese Fragestellung ist aber zu unterscheiden von dem Versuch, die Geschichte einer bestimmten Disziplin – hier: die der Psychotraumatologie – zu schreiben. Die historische Traumaforschung ist vielmehr ein neuer Ansatz innerhalb der Psychotraumatologie, der überpersönliche Auswirkungen von individuellen Gewalterfahrungen vieler Menschen auf kulturelle Phänomene untersucht.

Die Beschreibung der für die heutige Psychotraumatologie relevanten Krankheitsbilder beginnt im 19. Jahrhundert. Diese Zeit ist durch eine rasante Industrialisierung gekennzeichnet, aber auch durch Urbanisierung mit den Megametropolen London und Paris und durch eine neuartige, scheinbar alles umfassende Nachrichtentechnik (Eckart 1997), die auch Informationen über große Unfälle schnell in alle Welt trägt. Für viele Menschen wurde ein Bruch in einer vormals als intakt wahrgenommenen Welt spürbar. Die Welt war nicht mehr bergend – oder, wohl richtiger, eine entsprechende Illusion ließ sich nicht mehr aufrecht halten, und Menschen waren nicht das, was sie zu sein schienen. Entsprechend ist eines der Hauptthemen dieser Zeit das des Doppelgängers (Böschenstein 1987; Hoffmann 1815/1816; Stevenson 1886 b). Gegen Ende jenes Jahrhunderts entstanden in dem Bereich des Wissens, der heute »psychologische Medizin« heißt, die auch heute noch relevanten großen Krankheitslehren der psychosozialen Medizin. Janet (1889) entwarf seine Dissoziationslehre, Freud (1896c) seine Arbeiten zur Hysterie, Kraepelin (1883) publizierte seinen ersten Entwurf eines Systems zur Klassifizierung seelischer Störungen und Oppenheim (1889) sein Buch »Die traumatischen Neurosen«, wobei er diesen Begriff bereits ein Jahr zuvor eingeführt hatte (Oppenheim 1888).

Ein Kristallisationspunkt für Ängste vor technischen Neuerungen war die neu aufgekommene Eisenbahn. Wie auch die medizinische Welt auf diese Veränderungen reagierte, beschreibt Schivelbusch (1977). Zur Kennzeichnung der Krankheitssymptomatik von Menschen, die bei einem Eisenbahnunfall zu Schaden gekommen waren, tauchte Mitte des 19. Jahrhunderts der Begriff des »railwayspine« auf. Erstmals schriftlich scheint das Wort bei Erichsen (1866) vorzukommen, aber sein Gebrauch dieses Wortes lässt vermuten, dass der Begriff bereits benutzt wurde. Erichsen hält die Erkrankung für den Ausdruck einer chronischen Myelitis (darum »spine«), spricht aber auch – in sehr vorsichtiger Annäherung – der direkten psychischen Einwirkung ihre ursächliche Beteiligung an den körperlichen Symptomen nicht ganz ab. Diese Linie wird besonders sichtbar in seinem zweiten Buch zum Thema (Erichsen 1875), das eine Erweiterung und Überarbeitung des ersten darstellt. Obwohl er auch hier in erster Linie »molecular changes« im Rückenmark als Ursache vermutet und in zweiter Linie Entzündungsvorgänge (S. 15), kann er sich auch eine Situation von »mental or moral unconsciousness« vorstellen, hervorgerufen durch das Entsetzen des Unfalles, die zu einem Zusammenbruch der Kontrollfunktionen des Gehirnes führe (S. 195).

Einige der nachfolgenden Autoren haben dann immer stärker eine direkte Psychogenese der Symptomatik vertreten. Das gilt insbesondere für Page (1883), der als Kritiker der organ-genetisch orientierten Ansichten von Erichsen auftrat. Er betonte die Wirkung von Angst und Schreck und führte in seinem zweiten Buch (1891) den Begriff des »general nervous shock« (S. 62) ein, der als »Schreckneurose« von Kraepelin (1883) weiter tradiert wurde: »The thing essential for suggestion to have any influence is the special psychic state, induced immediately by nervous shock« (S. 69). Allerdings wurde die Position von Page dann vermehrt von den Eisenbahngesellschaften dazu herangezogen, Schadenersatzansprüche Geschädigter abzuwehren mit dem Argument, es lägen keine auf einen bestimmten Unfall zurückzuführenden körperlichen Schädigungen vor – im Übrigen eindeutig gegen seine Intention. Von der Systematik her rückt Page die – heute so genannten – posttraumatischen Störungen in die Nähe dessen, was (sc.: damals) als »Hysterie« bezeichnet wurde, insbesondere wegen des gemeinsamen Merkmals des Kontrollverlusts (Page 1891, S. 52 – 53). Harrington (2001) macht darauf aufmerksam, dass die Erstbeschreiber der Railway-Krankheiten Chirurgen waren. Auch nennt er Zahlen über die Häufigkeit von Eisenbahnunfällen in der damaligen Zeit. Danach waren es weniger die absoluten Zahlen der Todesfälle als vielmehr das mit ihnen verbundene öffentliche Interesse an der als überwältigend erlebten technischen Neuerung der Eisenbahn, das hier die Fachwelt und die Öffentlichkeit von einem neuen Krankheitsbild sprechen ließ, und zwar auch im Dienste der Warnung vor diesen technischen Neuerungen. Schon hier, in der Zeit der Genese erster Konzepte traumatogener Krankheitsbilder, beginnt die Funktionalisierung psychisch traumatisierter Menschen: Sie wurden offenbar von Anbeginn an ge- bzw. benutzt, um dieses oder jenes im Dienste ganz anderer Interessen zu beweisen oder zu widerlegen. Diese Art von Funktionalisierung dauert bis heute an und beraubt die Betroffenen jeweils erneut ihrer eigenen Subjektivität.

Ein Grund für die den Eisenbahnunfällen damals zukommende Aufmerksamkeit war offenbar auch darin zu suchen, dass deutlich wurde, dass es lediglich von äußeren Zufälligkeiten abhing, ob jemand verletzt wurde bzw. zu Tode kam oder unversehrt den Ort des Geschehens verließ.

In Deutschland wurde der Neurologe Hermann Oppenheim (1858 – 1919) für die frühe Psychotraumatologie bedeutsam. Er löst sich aus der einengenden Fokussierung auf Überlebende von Eisenbahnunfällen und bezieht Betroffene von Arbeitsunfällen mit ein – auch auf dem Hintergrund, dass 1884 in Deutschland eine gesetzliche Unfallversicherung wirksam geworden war und Nervenärzte jetzt Unfallfolgen zu begutachten hatten. Im Vorwort zu seinem Buch »Die traumatischen Neurosen« (1889) nennt Oppenheim seine Absicht, »eine zusammenfassende Darstellung jener durch Verletzungen hervorgerufenen Erkrankungen des Nervensystems zu liefern, die nicht durch eine direkte Beschädigung der nervösen Centralorgane oder des peripherischen Nervenapparates, sondern auf dem Wege der Erschütterung im allgemeinsten Sinne des Wortes entstanden sind« (S. V). In seinem Theorieteil heißt es dann: »Die Hauptrolle spielt das psychische: der Schreck, die Gemüthserschütterung« (S. 123, Hervorhebung im Original). »Die im Momente des Unfalls eintretende schreckhafte Aufregung ist meistens so bedeutsam, daß sie eine dauernde psychische Alteration bedingt« (S. 124). Insgesamt führen ihn seine Beobachtungen zu der Auffassung, dass posttraumatische Symptome eine eigene Krankheitskategorie darstellen, für die er die Bezeichnung »traumatische Neurose« vorschlägt.

Die Reichsversicherungskammer sah auch die traumatischen Neurosen als erstattungspflichtig an (Fischer-Homberger 1987). Eine Leistungspflicht wurde häufig auf der Grundlage des Ansatzes von Oppenheim begründet. Deshalb wurde dieser Autor für diese zahlenmäßig zwar geringen, trotzdem aber von vielen als ungerechtfertigt angesehenen Rentenansprüche verantwortlich gemacht. Wortführer war der Psychiater Hoche (1935) mit dem Argument, die Entschädigungsmöglichkeit habe ein pathologisches Rentenbegehren induziert – auch heute noch taucht es gelegentlich in klinischen Konferenzen und Gutachten auf, sicherlich häufiger als angemessen. Damals wie heute gilt, dass Traumatisierte in der Regel in erster Linie als solche wahrgenommen werden wollen und eher selten an Geld und damit an einer Festlegung auf eine Opferrolle interessiert sind (Maercker und Müller 2004). Es begann eine sehr scharf geführte Diffamierungskampagne gegen Oppenheim (Lerner 1997, 2001). Eine Marginalisierung von Forscherinnen und Forschern sowie Therapeutinnen und Therapeuten, die sich mit Traumatisierten beschäftigen, durchzieht allerdings die gesamte Geschichte (Herman 1992 b, S. 19).

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Psychoanalyse. Ihr Interesse galt von Anfang an zwischenmenschlichen Beziehungserfahrungen mit ihren Auswirkungen und Konsequenzen, historisch damals sehr bald eingeengt auf deren motivationale, intrapsychische, unbewusste Seite im Individuum, weniger den...

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