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Pubertät - Die innere Welt der Adoleszenten und ihrer Eltern

Psychoanalytische Entwicklungstheorie nach Freud, Klein und Bion

AutorGertraud Diem-Wille
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl310 Seiten
ISBN9783170324596
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis31,99 EUR
Die Pubertät - der stürmische Übergang von der Kindheit in das Erwachsenenalter, wird durch einen hormonellen Entwicklungsschub ausgelöst. Für den Jugendlichen ein wichtiger Entwicklungsschritt hin zur Selbstständigkeit, stellt sie die Eltern vor einen schwierigen Balanceakt: Sie müssen loslassen, ohne sich vom Jugendlichen zu lösen. Das Buch beschreibt diese 'krisenhafte Normalität' mit ihren großen emotionalen Schwankungen auf Grundlage psychoanalytischer Entwicklungstheorien, ergänzt durch zahlreiche anschauliche Fallbeispiele. Es wird auf die Probleme eingegangen, die entstehen, wenn die Grenze zu antisozialen und selbstdestruktiven Handlungen überschritten wird. Die Problemfelder Gewalt, Promiskuität, frühe Schwangerschaften und suizidale Tendenzen werden thematisiert sowie die Ursachen und Lösungsmöglichkeiten anhand konkreter Beispiele vorgestellt.

Professorin Dr. Gertraud Diem-Wille leitet den Universitätslehrgang 'Psychoanalytic Observational Studies' an der Alpen Adria Universität Klagenfurt. Sie ist Lehranalytikerin der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV) und der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPA).

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Leseprobe

 

1          Das Körper-Ich


 

 

 

Zu keiner Zeit verändert sich der Körper – abgesehen von der Zeit in der Gebärmutter – so stark wie in der Pubertät. Körperliche Veränderungen unterliegen weder dem Willen noch der Kontrolle der Person. Sie brechen über den Jugendlichen herein und lösen heftige Gefühle aus. Weitere massive körperliche Veränderungen geschehen während der Schwangerschaft und im Alterungsprozess und haben immer eine gewaltige Auswirkung auf unsere emotionale Befindlichkeit, unser Identitätsgefühl und unsere Ängste. Freud betont, dass wir über unseren Körper nicht unmittelbar verfügen, es keine biologische unmittelbar wirksame Geschlechtsidentität gibt, sondern wir unseren Körper »libidinös besetzen«, d. h. wir bewusst und unbewusst aus einer inneren Quelle eine bestimmte Triebenergie mit dem Körper oder einem Körperteil verbinden. Davon hängt es ab, ob jemand seinen Körper als zu sich gehörig oder fremd und wie eine Maschine erlebt, ob jemand seinen Körper oder Körperteil liebt oder hasst, ihm vertraut oder abweisend gegenübersteht. Jeder Wachstumsschub oder jede Veränderung durch Wachsen oder einer Krankheit verändert diese emotionale Haltung dem eigenen Körper gegenüber. Die libidinöse Besetzung ist plastisch und veränderbar. Schmerzt etwa ein Zahn oder die große Zehe, so wird ein besonderes Maß von Aufmerksamkeit und Zuwendung mobilisiert: man denkt dann nur mehr an diesen kranken Zahn oder die große Zehe – sie steht dann für eine gewisse Zeit emotional im Zentrum des Lebens.

In der relativ stabilen Phase der Latenz stand die körperliche Ertüchtigung und Beweglichkeit im Vordergrund. Geschicklichkeitsübungen, Sport und Bewegung waren im Wettstreit mit den Gleichaltrigen ein wichtiges, Freude bereitendes Medium. Ohne Vorwarnung und ohne Zutun des Kindes verändert sich nun der vertraute Körper. Es ist ungewiss, wie das Endprodukt dieses Wachstums und dieser Veränderung sein wird. Der vertraute Körper wird fremd. Die Harmonie der Bewegung wird durch den Längenwachstumsschub empfindlich gestört. Die neuen, schlaksigen Gliedmaßen verändern die Art des Gehens und der Bewegung. Dieses körperliche Wachstum findet oft schon am Ende der Latenz statt und kann sich häufig erst nach ein bis zwei Jahren emotional auswirken. So haben Mädchen heute schon oft mit zehn Jahren die erste Regel ohne mental und psychisch bereit für eine Mutterschaft zu sein. Die große psychische Aufgabe der Adoleszenz besteht darin, seinen Platz in der Welt und einen Übergang von der Familie in die große Welt der Erwachsenen zu finden. Es sollen zunächst die physiologischen Veränderungen beschrieben werden, um dann die emotionale und mentale Antwort darauf zu untersuchen.

Wie massiv die Veränderung ist, die der Jugendliche in kurzer Zeit bewältigen muss, zeigt der Unterschied der körperlichen Erscheinung zwischen 12 und 20 Jahren; manche Personen verändern sich so stark, dass man sie kaum wiedererkennt: aus dem kleinen Mädchen wird eine sexuell attraktive junge Frau, aus dem kleinen Jungen wird ein großer, stattlicher junger Mann. In wenigen Jahren müssen die Jugendlichen eine Veränderung ihrer Körpergröße und ihrer körperlichen Kraft verkraften. Die Form des Körpers, der Klang der Stimme, die Ausbildung der primären und sekundären Sexualorgane und die Entwicklung der Brüste vermitteln ein neues Körpergefühl. Der wesentliche Unterschied besteht in der biologischen Fähigkeit, Mutter oder Vater werden zu können. Anderson spricht von dem, was wir in der Psychotherapie sehen, »als Art und Weise wie sich ein Jugendlicher seinem Körper gegenüber wie einem Behälter (container) seiner Geschichte der sexuellen und anderen primitiven Objektbeziehungen in Zweier- und Dreierbeziehungen verhält« (Anderson 2009, 1; Übers. GDW). Dieses massive körperliche Wachstum bringt eine Veränderung der emotionalen Balance und wirkt sich auf der tiefsten Schicht der Persönlichkeit aus. Viele Jugendliche, die in Therapie kommen, präsentieren körperliche Symptome wie Magersucht, Drogenmissbrauch, Selbstverletzungen wie Sich-Schneiden und andere Formen von selbst schädigendem Verhalten, die auf tiefe unbewusste Ängste schließen lassen. Diese oft bizarren Symptome, die an Borderline (als ernsthafte psychische Störung) oder psychotische Phänomene denken lassen, sollen eher, so meint Anderson, als Übertreibung der normalen Veränderung der Persönlichkeit gesehen werden. Für die Jugendlichen entsteht die Notwendigkeit einer neuen Selbstdefinition, sich eben nicht nur mehr als die Tochter oder den Sohn seiner Eltern zu betrachten, sondern einen eigenen Platz in der Welt zu finden, ein potentieller Ehemann oder eine mögliche Ehefrau zu sein und eine Fähigkeit zur Intimität und Sexualität in einer engen Beziehung zu erwerben.

Diese Aufgaben müssen in einer Zeit entwickelt werden, wo die tiefsten Wünsche und Leidenschaften, die seit der frühen Kindheit entstanden sind, wieder lebendig werden. Sie müssen nun eine Liebesbeziehung zu einer gleichaltrigen Person eingehen und die frühen Wünsche dem gegengeschlechtlichen Elternteil gegenüber aufgeben. Innerlich muss alles neu geordnet werden. Es existieren gleichzeitig widersprüchliche heftige Wünsche:

Der Wunsch, geliebt, betreut und genährt zu werden und die Quelle dieser Zuwendungen zu besitzen, und der entgegengesetzte Wunsch, selbständig zu werden und einen besseren, interessanteren Platz in der Welt zu finden, bestehen nebeneinander. Die emotionale und mentale Entwicklung wird in den weiteren Kapiteln ausführlich behandelt. Zunächst soll die körperliche Veränderung genauer dargestellt werden.

Mit der Hormonausschüttung und der physischen und biologischen Veränderung ist eine Intensivierung dieser emotionalen und mentalen Konflikte verbunden.

Freud schreibt in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie 1905 zur Umgestaltung der Pubertät:

Mit dem Eintritt der Pubertät setzen die Wandlungen ein, welche das infantile Sexualleben in seine endgültig normale Gestaltung überführen soll…Er (der Sexualtrieb) betätigte sich bisher von einzelnen Trieben und erogenen Zonen aus, die unabhängig voneinander eine gewisse Lust als einziges Sexualziel suchten. Nun wird ein neues Sexualziel gegeben, zu dessen Erreichung alle Partialtriebe zusammenwirken, während die erogenen Zonen sich dem Primat der Genitalzone unterordnen. (Freud, 1905, 112)

Das Besondere an dieser Entwicklungsphase ist die neue Prioritätensetzung, dass die verschiedenen erogenen Zonen, wie etwa der Mund, die Haut, die Analzone, das lustvolle Betrachten und Schauen dem Ziel der sexuellen Vereinigung untergeordnet werden. Freud betont aber an zahlreichen Stellen, dass diese »Partialtriebe« (das Anschauen, das Sich-Herzeigen, orale Befriedigung etc.) eine wichtige Rolle im Vorspiel und in der Bereicherung der sexuellen Vereinigung spielen.

1.1       Der Körper als Objekt der Betrachtung


Ein besonderes Phänomen stellt das stundenlange Sichbetrachten des Mädchens im Spiegel dar. Zur großen Überraschung und bald auch zum Ärger der Eltern beginnen Mädchen in der Adoleszenz, viel Zeit vor dem Spiegel zu verbringen. Sie betrachten ihren sich verändernden Körper von allen Seiten, ziehen sich verschiedene Kleider an und posieren vor dem Spiegel, als ob er eine Kamera wäre. Der Spiegel scheint emotional befriedigender zu sein als ein lebender Beobachter oder Bewunderer. Für Eltern ist es erstaunlich, dass sich dieses »Zwiegespräch« über einige Stunden am Tag erstrecken kann. Oft wird dieses Motiv, sich im Spiegel zu betrachten, nicht so direkt ausgelebt, sondern unter einem anderen Grund verborgen: die Haarpflege erfordert ein sorgfältiges Föhnen der Haare, die Hautunreinheiten wollen genau betrachtet werden. Pickel und Mitesser werden beobachtet, entfernt, entzünden sich und müssen daher noch genauer betreut werden. In Gruppen besuchen Mädchen Flohmärkte, erwerben Kleider, die sie modifizieren, Hüte und ausgefallene Requisiten, aus denen sie oft verblüffend schöne Accessoires herstellen. Sie schminken und bemalen sich alleine oder zu zweit. Sie fotografieren sich selbst oder einander in den unterschiedlichen Posen und mit unterschiedlichen Gesichtsausdruck. Sie stellen diese Bilder ins Netz.

Welche Motive werden durch diese Handlungen sichtbar? Die häufig...

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