Die spezifischen Entwicklungslinien des Beats in der DDR sind ohne ihr historisches Vorfeld nur schwer begreiflich zu machen. Im ersten Jahrzehnt der DDR-Geschichte wurde das Feld „sozialistische Tanz- und Unterhaltungsmusik“ noch als kulturpolitisches Neuland wahrgenommen. Der eigentliche Aufbruch tanzmusikpolitischer Auseinandersetzungen folgte mit der Ausprägung von Jugendmusikkulturen (vgl. Rauhut 1993, 19).
In den 1950er Jahren preschten Musikrichtungen wie Boogie-Woogie, Bebop, insbesondere aber der Jazz aus dem kapitalistischen Westen von den USA aus über die BRD hervor. Gerade das Phänomen des Jazz in der DDR lässt einen ersten Blick auf kulturpolitischen Maßnahmen der SED-Führung zu. „Die Geschichte des Jazz in der DDR der fünfziger Jahre belegt geradezu mustergültig den Balanceakt kulturpolitischen Effizienzstrebens, der Intention und Wirklichkeit zu tarieren trachtete. Sie stellt das Auf und Ab zwischen staatlicher Anerkennung bis partieller Förderung (Medienproduktionen, Foren, Veranstaltungen u.v.a.m.), und offizieller Ablehnung bis massiver Repression (Diffamierung, Verbot, Kriminalisierung etc.)“ dar (Rudorf 1964; zit. nach Rauhut, 20).
Die aufkommenden, westlichen Musikkulturen erreichten schließlich mit dem Rock N’ Roll den vorläufigen Gipfel der „amerikanischen Unkultur“[7] (vgl. Rauhut 1993, 7). Lederjackentragende Halbstarke mit Pomadenfrisuren erhoben die kapitalistisch-feindliche Musik zu ihrem Symbol und passten so gar nicht ins Bild der Parteiführung von der sozialistischen Jugend - denn Rock N’ Roll war dekadent, manipulativ und vor allem amerikanisch. So sahen das auch die Medien in der DDR. Eines der damals üblichen Urteile über die musikalische Substanz des Rock N’ Roll war am 23. Januar 1959 in der „Nationalzeitung“ zu lesen.
„Der Kontrabassist bekommt gläserne Augen und rutscht in einer Pose vollendeter Geistlosigkeit am langen Hals seines Instrumentes entlang in die Knie. Dieses Stadium höchster Ekstase ist vom Schlagzeuger, der mit souveräner Stupidität über ein oder zwei Dutzend Krawallinstrumente herrscht, schon mit den ersten Takten erreicht worden. Heisere Schreie, verkrampfte Zuckungen, wirres Haar, verrutschte Krawatten sind die Begleiterscheinungen dieses entsetzlichen Infernos, das sich tagtäglich in den westlichen Ländern abspielt: Das aufgepeitschte Publikum hebt an, das Mobiliar zu zerkleinern […]. Der melodische Verflachungs- und Zerstörungsprozess erreicht mit ihr [der Rock N’ Roll-Musik] eine kaum noch zu überbietende Stufe. Die Komponisten verwenden kurzatmige, abrupte Motivfetzen an Stelle eines schöpferisch konzipierten Melodieaufbaus. Die monotone Wiederholungsmanier und die primitiven rhythmischen Wendungen kennzeichnen die Zerstörung jeglicher nationaler Intonation.“[8]
Man erkannte, dass man reagieren muss. Dass man Alternativen bieten muss, um die Jugend für sich zu gewinnen. Sehr treffend formulierte das Problem der DDR-Jugendkultur Hans Kahle, ein Schauspieler der Volksbühne.
„Die [nach] drüben gehen und sich das ganze Geheul von Haley oder Presley anhören, sind an heißen, scharfen Schnaps gewöhnt, jetzt kommen wir und wollen ihnen Brauselimonade anbieten. […] Wenn wir uns einen Karl-Marx-Bart umhängen und predigen, damit erreichen wir gar nichts.“[9]
Die ersten Konzepte, wie zum Bespiel der hausgemachte, volkseigene „Lipsi-Tanz“, der - exemplarisch für andere Projekte der SED - mit immensen finanziellen und propagandistischen Aufwand popularisiert wurde, ereilten allerdings nach kurzer Zeit „das Schicksal, als kuriose Fußnote in die Annalen der DDR-Populärmusikgeschichte zu entschwinden.“ (Rauhut 1996, 41). Zur Wende zu den 1960er Jahren flaute der Rock N’ Roll-Boom langsam ab, für die Medien war das Kapitel damit erledigt. Anfang der 1960er Jahre sollte sich die Lage für die SED jedoch drastisch verschärfen.
Mit dem wahrlich kometenhaften Aufstieg der Beatles fiel der Startschuss für den weltweiten Siegeszug des Beats. 1964, als die vier Liverpooler Pilzköpfe im Zuge einer gigantischen, von den Medien geschürten „Beatlemania“ gegen den Zenit ihres Ruhmes strebten, schlug die durch sie so mustergültig repräsentierte Musik auch in der DDR zahllose Mädchen und Burschen in ihren Bann. Mit der gleichzeitig boomenden geglätteten Form des Rock N’ Roll, dem „Twist“, erlebte nebenher auch das so genannte „offene Tanzen“ eine Hochkonjunktur (vgl. Rauhut 1993, 49f). Ohne entsprechende populärmusikalische Vorleistungen sind aber die gewaltigen, ins Rollen geratenen Entwicklungen undenkbar.[10]
Anfang der 1960er Jahre entstand in der DDR eine Vielzahl an Beatbands, in deren Repertoire sich vorerst ausschließlich Rock N’ Roll- und Twist-Nummern fanden. Eine ganz neue Klangästhetik sogen die Bands aber durch den so genannten „Twangy-Sound“ der E-Gitarre auf, der durch die britische Band „Shadows“ begründet worden war. Letztere war dann auch das allererste Vorbild der meisten bekannten DDR-Kapellen, wie die Berliner Formation Franke-Echo-Quintett, Sputniks, Diana-Show-Quartett und die Leipziger Combo The Butlers. Besonders diese Bands haben maßgeblich zur Entstehung einer DDR-Beatszene beigetragen (vgl. Rauhut 1993, 50f). Ihr Programm bestand damals hauptsächlich aus Instrumentalnummern von Kopien international gängiger Beat-Titel sowie aus Rock N’ Roll-Klassiker im Twist-Gewand.
Der Beat revolutionierte den kulturellen Alltag einer breiten Schicht von jungen Leuten in der DDR. Allerorts wurden Hits imitiert, die über die westlichen Medien bekannt wurden. Musikalischer Perfektionismus stand nur peripher in der Intention des Schaffens der Jugend, vielmehr waren es Spontaneität, Spaß und glühende Begeisterung. Der Beat funktionierte als „ein Massenmedium, durch das hindurch kulturelle Werte und Bedeutungen zirkulieren, soziale Erfahrungen weitergegeben werden, die über ihre klingende Materialität weit hinausgehen.“ (Wicke 1987, http://www2.hu-berlin.de/fpm/texte/mediumin.htm).
In den 1960er Jahren waren praktisch alle Musiker der DDR Autodidakten. Im Handel waren zudem lediglich für Beat gänzlich ungeeignete Resonanzgitarren erhältlich. Daher überrascht es kaum, dass eine Vielzahl der Musiker in der DDR in der Mechanik- oder Elektriker-Branche beschäftigt waren, galt es doch Gitarren zu frisieren, Schlagzeuge zu basteln, Rundfunkempfänger zu Verstärkern umzufunktionieren oder Effektgeräte zu konstruieren. Selbst Gitarrensaiten waren nicht vorrätig – der Schwarzmarkt aus dem Westen blühte (vgl. Rauhut 1993, 52f).
War die Rock N’ Roll-Bewegung von SED-Seite allzeit verpönt, so standen beim Beat die Zeichen vorerst nicht auf vollkommener Ablehnung – man versuchte mithilfe des staatlich geförderten Jugendverbands „Freie Deutsche Jugend“ (FDJ), der ja schon rein ressortmäßig dafür zuständig war, mit den Verfechtern der neuen „Tanzmusik“ zu kooperieren. Das Credo der programmatischen Erklärung lautete:
„Werfen wir die Probleme der Jugend in aller Öffentlichkeit auf. Die Jugend wird darauf ganz gewiss mit neuen Taten für den Sieg des Sozialismus antworten.“[11]
Freilich ist es aber grob vermessen zu sagen, dass die SED in den ersten 1960er Jahren einen einheitlichen Pro-Beat-Kurs fuhr. Die jugendpolitische Öffnung verlief vor allem bis 1964 sehr zäh und wurde phasenweise – z.B. mit dem Kommuniqué „Macht und Kontrolle“ von 1963 - jäh unterbrochen. Eine gewisse Tendenz zu einer bemühten, vertrauensvolleren Zusammenarbeit mit der Jugend lässt sich aber durchaus bemerken.
1964 wurde von der FDJ-Führung das Programm der so genannten „Gitarrenbewegung“ entworfen, das tatsächlich viele Buben und Mädchen zum Musizieren ermutigte und das spürbaren Einfluss auf jugendliches Freizeitverhalten zu gewinnen schien. Der Beat wurde „auf ‚brauchbare’ Tendenzen hin abgeklopft und dann unter bestimmten Zwecksetzungen sogar massiv gefördert.“ (Rauhut 1993, 65). Im Rahmen des Programms wurde auch ein „Leistungsvergleich der Gitarrengruppen“ ausgerufen. In der SED war man gewissermaßen erleichtert, dass die FDJ „das heiße Eisen Beat“[12] nun angestrengt anpackte.
Den Höhepunkt des FDJ-Programms sollte die Organisation des dreitägigen „Deutschlandtreffens der Jugend für Frieden und Völkerfreundschaft“ in Ost-Berlin zu Pfingsten 1964 darstellen. Rund 500.000 DDR- und 20.000 BRD-Teens kamen zu einem gigantischen Propaganda-Fest, das „deutsche Einheit“ proklamieren sollte, allerdings fest unter der Schirmherrschaft von Parteichef Walter Ulbricht und unter der Regie von SED-Spitzenfunktionär Erich Honecker stand. Es standen erstmals DDR-Bands auf einer großen Bühne und vom neuen DDR-Radiosender „Jugendstudio DT64“ (siehe dazu Kapitel 3.3.) wurde sogar erstmals öffentlich englische Musik gespielt. Daneben standen Vorträge und Diskussionsveranstaltungen auf dem Programm. Alles in allem verliefen die drei Pfingsttage ohne Zwischenfälle, die teilnehmenden Jugendlichen waren beigeistert und die gesteckten Ziele der SED wurden erfüllt (vgl. Rauhut 1993, 78ff sowie Arnold/Classen 2004,...