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E-Book

Putin kaputt!?

Russlands neue Protestkultur

AutorMischa Gabowitsch
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl294 Seiten
ISBN9783518740569
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR


<p>Mischa Gabowitsch, geboren 1977 in Moskau, ist nach Stationen in Oxford, Paris und Princeton heute wissenschaftlicher Mitarbeiter am Einstein Forum in Potsdam.</p>

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Leseprobe

PROLOG


Marsch der Millionen


Am Montag, dem 7. Mai 2012, sollte Wladimir Putin zum dritten Mal als Präsident der Russländischen Föderation vereidigt werden. Die Wahlen, denen er die Rückkehr in dieses Amt nach vier Jahren als Premierminister verdankte, waren unter unfairen Bedingungen und mit massiven Fälschungen verlaufen. Für den Vortag seiner Amtseinführung hatten Aktivisten der außerparlamentarischen Opposition in Moskau eine Demonstration angemeldet, die Putin die Legitimität als Präsident absprechen sollte. Die Stadtverwaltung hatte den Bolotnaja-Platz als Veranstaltungsort genehmigt. Hier hatte bereits am 10. Dezember 2011 die erste Riesendemonstration gegen Wahlfälschungen bei der Parlamentswahl stattgefunden. Der weitläufige, parkähnliche Platz befindet sich im Stadtzentrum, am gegenüberliegenden Ufer der Moskwa sind die Türme und Zacken des Kremls zu sehen, den man normalerweise über die Große Steinerne Brücke erreichen kann. Sein Name bedeutet wörtlich »Sumpfplatz«. Um die Sümpfe auszutrocknen, die dort jedes Frühjahr nach der Schneeschmelze entstehen, hatten die Moskauer Oberbefehlshaber Sacharij Tschernyschow und Jakow Brjus in den Jahren 1783 bis 1786 den sogenannten Wasserumleitungskanal anlegen lassen. Dadurch entstand parallel zur Biegung der Moskwa eine lange, bumerangförmige Flussinsel; der Platz befindet sich auf deren westlicher Hälfte. Blickt man von Süden über die Kleine Steinerne Brücke in Richtung Kreml, rückt linker Hand das legendäre, inzwischen geschlossene Kino »Udarnik« ins Bild. Das Lichtspielhaus ist Teil eines monumentalen konstruktivistischen Baus, des Hauses an der Uferstraße, in dem sich Funktionäre der Kommunistischen Partei luxuriöser Wohnbedingungen erfreuten, bis sie in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre Stalins Großem Terror zum Opfer fielen.

Die zentrale, zugleich isolierte und überschaubare Situation macht den Bolotnaja-Platz für die Polizei gut kontrollierbar. Daher verlegt die Stadtregierung Demonstrationen von Oppositionellen, Bürgerrechtlern und sonstigen Protestierenden in den letzten Jahren gerne dorthin – oft als Ersatz für symbolträchtigere Orte entlang der Twerskaja-Straße in der Innenstadt, die vom Manegenplatz vor dem Kreml über den Puschkinplatz am Boulevardring bis zum Triumphplatz am Gartenring verläuft.

Die Demonstration trug den auch innerhalb der Protestbewegung umstrittenen und von vielen belächelten Titel »Marsch der Millionen«. Angelehnt war diese Bezeichnung an einen gleichnamigen Aufmarsch in Kairo vom 1. Februar 2011 im Zuge der Revolution gegen Hosni Mubarak.1 Es war das erste Mal seit Beginn der Bewegung für faire Wahlen im Dezember 2011, dass Bürger aus dem ganzen Land ermuntert wurden, nach Moskau zu kommen, statt Parallelveranstaltungen in ihrer Stadt durchzuführen. Die Teilnehmer kamen mit Zügen, in Fahrgemeinschaften, mit Linienbussen, per Flug oder per Anhalter nach Moskau, einige von ihnen aus weit entfernten Landesteilen, sogar aus dem über 6000 Kilometer entfernten Petropawlowsk-Kamtschatskij nordöstlich von Japan. Wichtigstes Kommunikationsmittel war das Internet-Netzwerk vkontakte – ein Facebook-Klon, dessen Reichweite in der russischsprachigen Welt größer ist als die des Originals. Über vkontakte-Gruppen organisierten sich Autokorsos; allein unter dem Motto »Ich will selbst sehen, was aus dem Mutterland geworden ist« reisten Autofahrer aus 55 Städten an.

Bereits im April war in Samara an der Wolga eine Initiative entstanden, die über das Internet Spenden sammelte, um Freiwilligen aus dem ganzen Land die Fahrt ins südrussische Astrachan zu ermöglichen und den dortigen Bürgermeisterkandidaten Oleg Scheïn zu unterstützen, der aus Protest gegen Wahlfälschungen in den Hungerstreik getreten war. Unmittelbar vor dem »Marsch der Millionen« wurde die Spendeninitiative wiederbelebt, diesmal um für Provinzbewohner Zugtickets nach Moskau zu kaufen. Zahlreiche Bürger in der Hauptstadt stellten den Demonstranten Zimmer oder Bettplätze zur Verfügung. Oft kam der Kontakt über Netzwerke von Landsleuten zustande. Auch auf dem Marsch noch fanden Menschen aus derselben Region zueinander – anhand von Postern oder im zufälligen Gespräch. Während des Marsches und danach waren hin und wieder ältere Damen zu sehen, die per Plakat anboten, Nichtmoskauer kostenlos bei sich aufzunehmen. Immer wieder gab es Berichte, dass Protestteilnehmer in der Provinz von staatlichen Stellen oder von ihren Arbeitgebern eingeschüchtert, mit oder ohne Angabe von Gründen schon zu Beginn der Fahrt an der Anreise gehindert oder unterwegs von der Polizei aufgehalten oder beschattet worden seien. Als Vorwand dienten häufig Drogenkontrollen. Von Fällen wurde berichtet, in denen junge Männer zwischen 18 und 27 nach ihrer Verhaftung sofort zur Armee eingezogen wurden.2

Die Moskauer Protestkundgebungen von Dezember bis März waren von Journalisten und Schriftstellern mit angemeldet worden, die sich im Januar zu einer überparteilichen »Wählerliga« vereinigt hatten. Die Diskussionen des Komitees, das die Großdemo am 24. Dezember 2011 organisiert hatte, waren live im Internet übertragen worden, auch die offizielle Korrespondenz wurde veröffentlicht. Diesmal traten ausschließlich Aktivisten der außerparlamentarischen Opposition als formale Organisatoren auf.3 Über Sinn und Zweck der Veranstaltung herrschte Uneinigkeit. Ein Bündnis namens »Aktion für eine faire Staatsmacht« hatte dazu aufgerufen, am Vorabend der Amtseinführung den Manegenplatz neben dem Kreml zu besetzen und den »Dieb« gar nicht erst in den Kreml einziehen zu lassen: echter Protest dürfe sich nicht in ein staatlich kontrolliertes Reservat zwängen lassen.4 Politiker der legalen Oppositionsparteien und einige andere prominente Figuren hatten erklärt, sie würden dem Marsch fernbleiben, da die vorangegangenen Demonstrationen nicht das erwünschte Resultat gebracht hätten und man sich auf andere Protestformen, auf mühevolle Kleinarbeit oder aber auf bevorstehende Wahlen konzentrieren sollte.5 Der Skandalschriftsteller und Protestveteran Eduard Limonow, Führer der nicht zugelassenen Partei »Anderes Russland«, nannte die Aktion zögerlich und verspätet. Die bürgerlichen Anführer hätten die Revolution gestohlen und zugrunde gerichtet; die Polizei habe genug Zeit gehabt, um den Manegenplatz abzuschotten und ein Zeltlager zu verhindern.6 Die sowjetnostalgische Kommunistische Partei und kleinere linke Gruppen konzentrierten sich auf Veranstaltungen zum 1. Mai – dem Tag der Arbeit – und zum 9. Mai – dem Tag des Sieges. Einige kurzgeschorene Ultranationalisten veranstalteten am 6. Mai eine eigene Aktion auf dem Theaterplatz; am Ausgang aus der Metro warteten bereits Polizisten mit einem Gefangenentransporter auf sie.7 Am Freitagabend, zwei Tage vor dem »Marsch der Millionen«, hatte die »Allrussländische Volksfront« erklärt, sie würde am selben Tag ihr einjähriges Bestehen auf dem Poklonnaja-Hügel feiern. Die nur auf dem Papier bestehende Vereinigung von Pro-Putin-Organisationen, im Jahr zuvor als potenzieller Ersatz für die immer unbeliebtere Staatspartei »Geeintes Russland« gegründet, setzte dem »Meeting« der Protestbewegung ein straff durchorganisiertes und überwachtes »Puting« mit bezahlten Teilnehmern entgegen, das in den Nachrichten des Staatsfernsehens als die zahlenstärkere Veranstaltung präsentiert wurde.8

Trotz allem stand der »Marsch der Millionen« im Brennpunkt der Aufmerksamkeit. Aus technischen Gründen war eine Demonstration mit 5000 Teilnehmern angemeldet: für so viele Menschen ist der Platz nach amtlichen Vorgaben ausgelegt. Über die tatsächliche Teilnehmerzahl entbrannte der übliche Zahlenkrieg. Die Polizei bezifferte sie mit 8000; die BBC sprach von 20 000 nach Angaben der Organisatoren. Der Landvermesser Nikolaj Pomeschtschenko, der sich im Zuge der Protestbewegung auf die Zählung von Teilnehmern bei Massenveranstaltungen spezialisiert hatte, kam auf ungefähr 60 000 Menschen.9 Für die höhere Zahl spricht, dass sich sowohl Demonstranten und Veranstalter als auch die Polizei von der hohen Beteiligung überrascht zeigten. Immerhin lag das Datum der Vereidigung – wie schon seit Putins erster Amtseinführung im Jahr 2000 – zwei Tage vor dem 9. Mai, der als »Tag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg von 1941-45« de facto Russlands wichtigsten Nationalfeiertag darstellt. Die Zeit ab dem 1. Mai gilt traditionell als Feierwoche und für ausreichend Betuchte als gute Gelegenheit für eine Fahrt zur Datscha oder an die türkische Mittelmeerküste. Mit Verweis auf anstehende Proben für die Siegesparade hatte die Stadtregierung die Genehmigung für den Protest erst zwei Tage zuvor erteilt. Daher hatte es im Vorfeld Spekulationen gegeben, der Aufmarsch könnte abgesagt oder verschoben werden, was nach Ansicht vieler die Absicht der Verzögerung gewesen war.10

Der Großteil der Teilnehmer, die sich ab dem Vormittag außerhalb der Metrostation Oktjabrskaja versammelten, fühlte sich keiner der politischen Gruppierungen zugehörig, die die Veranstalter repräsentierten. Die Demonstranten identifizierten sich mit Hilfe von Bannern, Flaggen, Plakaten, Buttons, Luftballons, Flugblättern und Kostümen als Einwohner bestimmter Städte, als Umweltschützer, Menschenrechtler, Homo-Aktivisten, Sozialprotestler, Studenten, Rocker, Anarchisten, Kommunisten, Christen, Abstinenzler, NATO- oder WTO-Gegner und Mitglieder einer breiten Palette von zumeist kleinen Bündnissen und...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover
1
Informationen zum Buch oder Autor
2
Autorenfoto
3
Bildnachweis
4
Titel
5
Impressum
6
Widmung
7
Inhalt9
Prolog11
Marsch der Millionen11
Kaleidoskop des Protests22
Bewegung im Wandel28
I Das System Putin33
Warum Putin?37
Die Errichtung der Machtvertikale42
Informelle Praktiken42
Das Prinzip der Loyalität48
Autoritär, korporatistisch, neopatrimonial54
Nationale Einheit, Zynismus und Korruption61
Die politische Ökonomie der Gefühle70
II Der Aufstand der Beobachter77
Der Schock des Wahltags80
Wahlbeobachtung als soziale Bewegung85
Wahlrecht und Wahlfälschung89
Die kommunale Revolution96
Bürger Wahlbeobachter101
Woher der Zorn?110
III Die Struktur des Protests114
Wer spricht für die Protestierenden?119
Von Oppositionsparteien zu außerparlamentarischen Milieus123
Parteien in der gelenkten Demokratie123
Außerparlamentarische Koalitionen128
Oppositionelle Milieus137
Zivilgesellschaft?139
Sozialprotest und gesellschaftliche Selbstorganisation147
Traditionen kollektiven Handelns149
Der Protest gegen die Monetisierung152
Neue lokale Bewegungen155
Von Wladiwostok bis Kaliningrad160
Der Protest bekommt Adressaten162
Von den Dezemberdemos zu neuen Bürgerräten166
Wer vertritt wen?170
Wie sich organisieren?175
Der Koordinationsrat der Opposition179
IV Der Fall Pussy Riot185
Punk-Gottesdienst188
Pussy Riot und die Protestbewegung190
Musik, Kunst und Politik194
Strukturwandel der Kirche205
Religiöser Protest212
Feminismus und Homophobie217
V Protest und Neugier224
Erkenntnisräume226
Zählproteste und Protestzähler231
Forscher, Forschende und Erforschte239
Wem gehört die Stadt?250
Symbolische Geographie253
Geschlossene Räume256
Topographie und Dramaturgie261
VI Gewaltfreiheit und Gewaltphantasien267
Gewaltkulturen268
Gewaltfreiheit und Widerstand272
Die Angst vor dem Aufstand280
Mit Gewalt gegen die Gewalt?287
VII Der staatliche Gewaltapparat291
Männer in Uniform292
Der Gewaltapparat - ein kollektives Porträt297
Die russische Armee303
Die Geheimdienste308
Die Polizei316
Von der Demonstration ins Gefängnis323
VIII Die transnationale Dimension330
Wer ist das Ausland?333
Westliche Einflussnahme?337
Die neue russische Diaspora344
Transnationale Korruptionsbekämpfung: die Magnitskij-Affäre354
IX Zwischenbilanz362
Abkürzungen372
Anmerkungen373
Prolog373
Kapitel I382
Kapitel II390
Kapitel III397
Kapitel IV408
Kapitel V415
Kapitel VI420
Kapitel VII423
Kapitel VIII428
Kapitel IX433
Dank435
Ausführliches Inhaltsverzeichnis439

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