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Raabe und heute

Wie Literatur und Wissenschaft Wilhelm Raabe neu entdecken

VerlagWallstein Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl378 Seiten
ISBN9783835343412
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis25,99 EUR
Wie aktuell ist Wilhelm Raabe heute? Die Beiträge dieses Bandes beantworten diese Frage aus literarischer und literaturwissenschaftlicher Sicht. Kolonialismus, Umweltzerstörung, Umgang mit dem Fremden - erstaunlich viele der Themen, die uns derzeit umtreiben, finden sich bereits bei Wilhelm Raabe (1831-1910). Der Band versammelt Beiträge bedeutender Autorinnen und Autoren aus Gegenwartsliteratur und aktueller Literaturwissenschaft, die das Werk des großen realistischen Erzählers neu erkunden und in seiner Aktualität zugänglich machen. Sie zeigen, wie anregend und bereichernd es sein kann, sich auf die Eigentümlichkeiten und Komplexitäten von Texten wie »Abu Telfan«, »Pfisters Mühle«, »Die Akten des Vogelsangs« oder das unvollendete »Altershausen« einzulassen.

Moritz Baßler ist als Professor an der Universität Münster zuständig für Neuere deutsche Literatur von Poetischem Realismus bis Pop. Hubert Winkels, geb. 1955, ist Literaturredakteur des Deutschlandfunks in Köln und Literaturkritiker. Sein Schwerpunkt liegt in der deutschsprachigen Literatur.

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Leseprobe

Moritz Baßler


Einleitung


Wilhelm Raabes bürgerliche Radikalität


Dr. Friedrich Feyerabend, ein weltberühmter Arzt, der einst den Schah von Persien zu seinen Patienten zählte, bereist nach seiner Pensionierung aus einer Laune heraus Altershausen, den Ort seiner Kindheit irgendwo in der deutschen Provinz. Der etwas debile Träger, der dort am Bahnhof seine Koffer entgegennimmt, erweist sich alsbald als sein Spielkamerad Ludchen Bock, der kurz nach dem Wegzug der Feyerabends vom Baum gefallen war und seither auf dem geistigen Stand eines elfjährigen Jungen verblieben ist. In dieser unheimlich-vertrauten Begegnung mit dem Kindheits-Ich relativiert sich, plötzlich und radikal, Feyerabends gesamtes eigenes Leben.

 

Was für ein Einfall! Gibt es im europäischen Realismus etwas auch nur annähernd Vergleichbares? Die deutschsprachige Variante gilt ja gegen Balzac, Tolstoi oder Dickens oft als etwas provinziell und marottig; aber genau dieser Unterschied von vermeintlicher Weltläufigkeit und inniger Zurückgebliebenheit ist es schließlich, den Altershausen (1911), Wilhelm Raabes unvollendete letzte Erzählung, in ihrer überraschenden Konstellation selbst bearbeitet. So ist unser ›Poetischer‹ Realismus nicht selten ein Stückchen schlauer als seine Verächter, die hier allenfalls bürgerlichen Muff und Botschaften für die gymnasiale Mittelstufe erkennen wollen, und gar nicht so leicht auf der Höhe seiner Komplexität zu fassen.

 

Was sucht diese Literatur in den Verschrobenheiten ihrer Sonderlinge, an ihren wenig urbanen Schauplätzen jenseits der großen Welt des 19. Jahrhunderts? Anders als die Heimatkunst ab 1900 erhebt der Poetische Realismus ja die regionalen Eigenarten deutscher Stämme und Landschaften gerade nicht zu einem Antidot gegen die Moderne. Auch Raabes deutsche Provinz ist alles andere als idyllisch – ihre Bürger pflegen dieselbe philiströse Selbstgerechtigkeit, wie sie in verschärfter Form auch das Großstadtleben prägt. Das muss leidvoll etwa Leonhard Hagebucher erfahren, der Held von Abu Telfan oder Die Heimkehr vom Mondgebirge (1867), der aus der Sklaverei bei einer afrikanischen Matriarchin (wieder so ein Einfall!) freigekauft wird und daheim wieder Fuß zu fassen sucht. Erst nachdem allen und auch dem Leser klar geworden ist, dass aus ihm nach bürgerlichen Maßstäben nichts mehr wird, eignet er sich zur positiven Integrationsfigur inmitten einer intriganten Welt. Wie ihre Hauptfiguren, so suchen auch Raabes Texte selbst nach einem Standpunkt außerhalb, irgendeiner sinnvollen und sittlich diskutablen Alternative zur Entfremdung im ökonomischen Eigennutzenprinzip der Gründerzeit. Gar nicht so unaktuell, eigentlich.

 

Schon für seinen erfolgreichen Erstling, Die Chronik der Sperlingsgasse (1856), erfindet sich der erst 23-jährige Raabe einen greisen Erzähler, der in seinem Leben stets entsagt hat: der Liebe, der Politik, wirtschaftlichem Erfolg und künstlerischem Anspruch: »ich schreibe, wie das Alter schwatzt« – so fängt weiß Gott keine Jugendbewegung an. In Raabes umfangreichem Gesamtwerk von ca. 70 über die gesamte zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandenen Erzählungen wimmelt es geradezu von solchen alternden Käuzen, die sich immer wieder zu ganzen Rettungsteams zusammentun, um gerade solchen jungen Leuten aus ihrer Hilflosigkeit zu helfen, wie sie in beinahe jeder anderen Epoche zu literarischen Helden berufen gewesen wären. Und es ist nicht zu leugnen, dass die Marottifizierung seiner Protagonisten häufig auch auf die Sprache Raabes durchschlägt. Wunderliche Wendungen wie »nicht totzukriegen« oder »im Zusammenhang der Dinge« werden zum Charakteristikum für bestimmte Personen, ja mitunter zum Running Gag – hier hat Thomas Mann das gelernt! – und immer wieder baut der Jean-Paul-Fan Raabe umständliche Einleitungen, Erzählerkommentare, Abschweifungen und Zitate genüsslich und mit voller Absicht ein. Man braucht als Leser also durchaus eine gewisse Anfangsenergie, um in den Raabe’schen Erzählkosmos einzusteigen, aber die Investition wird – versprochen! – reich belohnt.

 

Denn es gibt in der deutschen Literatur kaum jemanden, der das poetisch-realistische Erzählprojekt so konsequent und unbestechlich vorantreibt wie dieser Autor aus dem Weserbergland, der nach Stationen in Berlin, Wolfenbüttel und Stuttgart ab 1870 in Braunschweig lebte und schrieb. Charakteristisch für Raabe, wie für den nicht-trivialen Realismus insgesamt, ist nämlich, dass er die aktuellen Entwicklungen der Ökonomisierung, Globalisierung, Verstädterung und Industrialisierung sehr wohl registriert, sie ablehnt (Pfisters Mühle, 1884, ist der erste deutsche Öko-Roman) und alles daran setzt, Alternativen zu formulieren, diese aber niemals wirklich findet – und es deshalb immer weiter versucht. Man hat in diesem Zusammenhang von einem »Verbrauchen der Codes« gesprochen: Religion, Liebe, Kunst, Vaterland, Familie und viele andere Optionen werden durchgespielt, aber keine will so recht tragen. Deshalb ist den Raabe’schen Helden auch jede Form von Opfer fremd – »nothing to kill or die for / and no religion, too«, könnte man mit John Lennon als Motto darübersetzen. Der Poetische Realismus will zwar die Wirklichkeit auf keinen Fall einfach so, naturalistisch, darstellen, sondern will sie im Gegenteil, wie der Name schon sagt, unbedingt poetisieren, ›verklären‹, d. h. ihren positiven Wesenskern bloßlegen. Aber immer, wenn er das ernsthaft versucht, scheitert er daran und kippt zurück in die nüchterne Wirklichkeit, nur um diese so schnell wie möglich wieder zu poetisieren und so weiter ad infinitum. Das ist der verfahrensgeschichtliche Witz realistischer Texte: Sie können in einem emphatischen Sinne nicht zur Ruhe kommen, sie können nicht schließen; weder Tod noch Hochzeit sind hier Optionen, denn die würden den Text am Ende ja doch auf einen ›Code‹, eine Ideologie festlegen. Weshalb Raabes Helden eben regelmäßig in der Entsagung enden als einer lebbaren, ›realistischen‹ Form des Durchwurschtelns, die im Negativen aber immer noch das ungestillte Begehren nach einem leitenden Sinn offenhält – wie die Texte selbst eben auch.

 

Diese Kippfigur hat dem Poetischen Realismus über ein halbes Jahrhundert lang sozusagen als Motor gedient. Dumpf wird es immer nur dann, wenn sich doch ein positiver Code durchsetzt, wie zumindest scheinbar in Raabes ungeliebtem Erfolgsroman Der Hungerpastor (1863). Hier kommt der Held ein bisschen sehr treudeutsch daher, heißt auch Hans, während der intrigante, ökonomisch und sexuell aktive Gegenspieler, nach dem Vorbild von Gustav Freytags Soll und Haben, mit einem Juden besetzt ist. Das hat Raabe immer wieder den Ruf eines Antisemiten eingetragen – Reich-Ranicki konnte ihn daher nie würdigen –, zu Unrecht, wie ich meine: Raabe hat diese Sünde nicht wiederholt, und jüdische Figuren stehen in seinem späteren Werk stets auf der andern, positiven Seite der Dichotomie (z. B. in Frau Salome, 1875), während die Agenten mit den definitiv falschen Werten (Geld, Besitz, Sex, Ansehen) gute Deutsche, oftmals Familienangehörige der Helden selbst sind.

 

Mit Raabes Texten ist es wie mit römischen Kirchen oder Country-Songs: Eine(r) allein packt einen vielleicht noch nicht, aber spätestens, wenn man in Serie geht, wird es spannend. Hat man die Problemkonstellation einmal erfasst, werden die einzelnen Lösungen höchst aufregend, und keine Erzählung ist hier wie die andere. Bereits das mittlere Werk lässt alle simplen Dichotomien hinter sich. Die erschütternde Erzählung Zum wilden Mann (1874) etwa setzt bereits mit jener Entsagung ein, in der die frühen Texte enden, um sie erneut auf die Probe zu stellen. In das Leben des Apothekers Philipp Kristeller, der mit seiner buckligen Schwester in einer vermeintlichen bürgerlich-dörflichen Idylle lebt, bricht unversehens ein wilder Amerikafahrer ein, der Geld als Darlehen und Investitionsmittel versteht und den braven Kristeller, der dem Wirbel nicht folgen kann, geschweige denn ihm etwas entgegenzusetzen hätte, in den Ruin treibt. Die Erzählung endet trostlos, mit einer kerzen- und baumlosen Weihnacht; der von allen verlassene Protagonist aber will seine Situation, gut poetisch-realistisch, immer noch positiv verklären – immerhin ist er sich ja treu geblieben. Auch für den Leser wäre eine solche Wendung durchaus erwartbar – man vergleiche etwa den Schluss von Storms Carsten Curator. Doch hier, zum ersten Mal, geht der Text nicht mehr mit, er verweigert die Verklärung, und so entsteht der schwärzeste Novellenschluss, den die deutsche Literatur bis dahin kennt.

 

Dennoch gibt Raabe das Verklärungsbegehren in der Folge keineswegs auf – wider besseres Wissen, so scheint es, setzt er mit jeder Erzählung wieder aufs Neue an und fährt die immer gleiche Ausgangssituation in variierenden Experimentalanordnungen ungebremst gegen die Wand. Dabei kommen großartige Erzählungen zustande. So entsteht eine Geschichte aus drei verschiedenen Perspektiven (Drei Federn, 1865) oder Raabe erzählt die Französische Revolution in Form einer Provinzposse (Die Gänse von Bützow, 1866), und schließt den mexikanischen Befreiungskrieg mit der Verschönerung (bzw. Verschandelung) eines deutschen Kurortes kurz (Prinzessin Fisch, 1882). Andere Texte führen einen so jovialen wie...

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