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Radelnde Nationen

Die Geschichte des Fahrrads in Deutschland und den Niederlanden bis 1940

AutorAnne-Katrin Ebert
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl495 Seiten
ISBN9783593408606
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis52,99 EUR
Die Niederlande sind ein Fahrradland, Deutschland gilt eher als Land der Autobahnen. Wie es dazu kam, schildert Anne-Katrin Ebert in ihrer reichhaltigen Konsum- und Kulturgeschichte des Fahrrads. Mit dem Gebrauch des Fahrrads verband sich eine Fülle von Identitätskonstruktionen und sozialen Unterscheidungsmechanismen. Der menschliche Körper, das Verhältnis zwischen Männern und Frauen, Bürgerlichkeit und Arbeiterschaft sowie deutsche und niederländische Identität - das alles wurde auf und mit dem Fahrrad 'erfahren'. Die Affinität zum 'Drahtesel', so zeigt sich, ist mehr den sozialen und kulturellen Entwicklungen geschuldet als den geografischen Gegebenheiten.

Anne-Katrin Ebert, Dr. phil., ist Leiterin des Bereichs Verkehr am Technischen Museum Wien.

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Leseprobe

2. Eigensinn im Massenkonsum: Die Arbeiter-Radfahrer (S. 321-322)

Ab der Jahrhundertwende bröckelte das exklusive Recht auf das Radfahren in Deutschland und den Niederlanden. Ein immer größer werdender Personenkreis konnte sich die stetig fallenden Kosten eines Fahrrads leisten. Zusätzlich sorgten Sozialreformen ab den 1890er Jahren in beiden Ländern dafür, dass Arbeiter und Angestellte erstmals über geregelte Sonn- und Feiertage sowie über Urlaub verfügten. Auf diese Weise wurde die Nutzung des Fahrrads, die in beiden Ländern vor der Jahrhundertwende im Wesentlichen auf den Freizeitbereich beschränkt war, auch Personenkreisen ermöglicht, die bisher über weniger freie Zeit verfügt hatten. Kurzum, zu Beginn des 20. Jahrhunderts erodierte das bisherige, bürgerliche Distinktionsmuster beim Radfahren im Massenkonsum. Neue Unterscheidungen und Konsumpraktiken mussten an dessen Stelle treten.

Im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen Arbeiterorganisationen in Deutschland und den Niederlanden, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Opposition zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung konstituiert hatten. Wie machten sich die Arbeiter-Radfahrer das Massenkonsumgut Fahrrad zu eigen? Welche Werte und Praktiken verbanden sie mit dem Fahrrad und inwiefern unterschieden diese sich von den bisherigen bürgerlichen Praktiken? Erhielt der mit dem Fahrrad verbundene Emanzipationsprozess des bürgerlichen Individuums in Arbeiterkreisen eine neue Wendung? Wurde er den Arbeitern abgesprochen oder durch diese radikalisiert?

2.1 Die Anfänge des organisierten Arbeiter-Radfahrens

Am 2. August 1893 erschien im Berliner Volksblatt, der Beilage zum sozialdemokratischen Vorwärts, ein Aufruf an die »sozialdemokratischen Radfahrer Deutschlands«. Nach dem Vorbild der Arbeiter-, Gesangs-, Turn- und Vergnügungsvereine sollten sie einen »Verband über ganz Deutschland« bilden, der an verschiedenen Orten Filialen habe und »neben der Hebung des Radfahrsports« den Zwecke haben solle »uns [i.e. Radfahrer, A.E.] in den Dienst der Agitation zu stellen und uns der Partei und der Arbeiterbewegung soviel als möglich nützlich zu machen.« Am 1. und 2. Oktober 1893 beschloss in Leipzig eine Konferenz sozialdemokratischer Radfahrer die Gründung eines solchen Arbeiter-Radfahrerbundes.

Die Radfahrer lagen mit diesen Gründungsbemühungen voll im Trend. Mit der Nichtverlängerung des »Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie«, des sogenannten »Sozialistengesetzes «, das von 1878 bis 1890 die Bildung von Arbeitervereinen systematisch verhindert hatte, gründeten sich seit Beginn der 1890er Jahre zunehmend Arbeitervereine. Im Mai 1893 hoben die Arbeiter-Turner in Gera den »Deutschen Arbeiter-Turnerbund« aus der Taufe. Sie zählten damals bereits über 10.000 Mitglieder und sollten ihre Zahl kontinuierlich auf 186.958 Mitglieder im Jahr 1913 steigern.

Der Vorschlag zur Gründung eines Arbeiter-Radfahrerverbandes erntete jedoch nicht nur Beifall, sondern auch Kritik aus den eigenen Reihen. Eine Woche nach dem Kongress der Radfahrer in Leipzig prangerte der spätere bayerische Landtagsabgeordnete Johannes Timm in einem Artikel im Vorwärts unter dem Titel »Unfug« die »krankhafte Sucht« zur Gründung neuer sozialdemokratischer Vereine an und verurteilte namentlich die Bildung eines sozialdemokratischen Radfahrerverbands.

Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Einleitung10
I. Ein Sport für den selbstbewussten Mann und die »Neue Frau«: Bürgerliches Radfahren gegen Ende des 19. Jahrhunderts30
1. Das Fahrrad und die Konstituierung einer bürgerlichen Radsportkultur32
1.1 Das Fahrrad, ein Spiel33
1.2 Das Konsumregister des Radfahrens: Vom Luxus des Spiels39
1.3 Der Sport als »korrekte Konsumtion« des Luxusguts Fahrrad42
1.4 Die soziale Zusammensetzung der Radsportclubs: Eine Bestandsaufnahme51
1.5 Fazit: Vom Luxus des Radsports54
2. Radfahren und die Erfahrung des modernen Individuums56
2.1 Das stählerne Ross und die Eisenbahn: Das Fahrrad im Kontext der Technik seiner Zeit58
2.2 Zwischen Hochrad und Niederrad: Fahrradkonstruktionen als Mittler63
2.3 Der Reiz der Kontrolle: Das Fahrrad, der Körper und die Nerven70
2.4 Das Fahrrad und die Optimierung der menschlichen Körpermaschine78
2.5 Fazit: Der selbstbewusste Radfahrer89
3. Die »Neue Frau« auf dem Fahrrad92
3.1 Rad fahrende Frauen in der Statistik: Der Versuch einer Bestandsaufnahme97
3.2 Begleiterin des männlichen Individuums: Die Radfahrerin und die bürgerliche Geschlechterordnung101
3.3 Tandem, Dreirad und Niederrad: Fahrradmodelle und Geschlechterrollen111
3.4 Medizinische Bedenken? Die Radfahrerin im Visier der Ärzte116
3.5 Der feine Unterschied: Ästhetik des weiblichen Radfahrens123
3.6 Selbstständigkeit durch das Rad? Die »Neue Frau« und die Erfahrung des Radfahrens132
II. Schneller als das Pferd, die Schönheit des Landes vor Augen: Radfahren für die Nation146
1. Radsport und Nation: Verbände in Deutschland und den Niederlanden148
1.1 Vorbild England: Niederländische und deutsche Radsportverbände149
1.2 Transnational und national: Die Sprache des Radsports152
1.3 Lost in Transfer? Die Unterscheidung in »amateurs« und »professionals«155
1.4 Die Radsportverbände und die Etablierung des nationalen Anspruchs159
1.5 Aufbau und Struktur der Verbände163
1.6 Fazit: Nationale Interessen im internationalen Beziehungsgeflecht166
2. Das Radfahren als nationale Bewegung: »Erfundene Traditionen« und Inszenierungen168
2.1 »Erfundene Traditionen« des Radfahrens in den Niederlanden: Wanderer, Eisläufer, tugendhafte Bürger169
2.2 »Erfundene Traditionen« des Radfahrens in Deutschland: Turner, Reiter, wehrhafte Männer178
2.3 Nationale Inszenierung in Deutschland: Die Distanzfahrt Wien–Berlin 1893193
2.4 Nationale Inszenierung in den Niederlanden: Der Blumenkorso 1898207
2.5 Fazit: Von Blumen und Offizieren: Auf unterschiedlichen Wegen zur Nation221
3. Radfahren für die Nation: Deutsche und niederländische Verbandsarbeit223
3.1 Das schwierige Ornament: Radrennen in der niederländischen und deutschen Verbandsarbeit225
3.2 Dem Turnen verpflichtet: Das Saalradfahren als deutsche Spezialität241
3.3 Die Nation erfahren: Der Radtourismus in beiden Ländern244
3.4 Ringen um die Nation: Die Radfahrverbände und die Einheit im Verkehr265
3.5 Fazit: Nationsbildung per Rad: Möglichkeiten und Grenzen nationaler Verbandsarbeit275
III. Solidarische Arbeiter, besonnene Bürger: Radfahren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts280
1. Vom Luxus zum Massenkonsum: Radfahren nach 1900282
1.1 Statistische Daten zur Diffusion des Fahrrads in beiden Ländern284
1.2 Die Entwicklung der Fahrradindustrien in beiden Ländern289
1.3 Vom Sportgerät zum Verkehrsmittel302
1.4 Zwischen Statusbewahrung und Demokratisierungsphantasien: Bürgerliches Radfahren nach der Jahrhundertwende307
1.5 Krise oder Chance? Die bürgerlichen Radfahrerverbände im Wandel312
1.6 Fazit: Distinktionsmuster im Wandel320
2. Eigensinn im Massenkonsum: Die Arbeiter-Radfahrer322
2.1 Die Anfänge des organisierten Arbeiter-Radfahrens323
2.2 Agitation als wesentlicher Bestandteil des Selbstverständnisses der organisierten Arbeiter-Radfahrer331
2.3 Der Arbeiter-Radsport und die »Sportfexerei« bürgerlicher Prägung335
2.4 Radwandern: Solidarität und Gemeinschaft339
2.5 Saalfahren in der »Solidarität«349
2.6 Fazit: Der Drahtesel im Klassenkampf356
3. »Das vaterländischste aller Verkehrsmittel«: Radfahren und Nation360
3.1 Bürgerliche Verbandsarbeit im Zeitalter des Massenkonsums363
3.2 Der Erste Weltkrieg, das Fahrrad und die »besonnene Nation«372
3.3 Auf eigenen Wegen zur Nation: Der Aufbau eines Radfahrwegenetzes379
3.4 Von Wegen und Steuern: Das Radfahren im Visier des Staates391
3.5 Fazit: Das Fahrrad und die nationale Identifikation410
Schluss414
Anhang430
Literatur438
Danksagung481
Ortsregister483
Personenregister486
Sachregister490

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