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Raphaël

Die Wiederkehr eines Erzengels

AutorPaul Badde
VerlagHerbig
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783776681802
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Als kleiner Junge brachte der Halbjude Walther den für den Transport ins KZ zusammengepferchten Juden Laubfrösche zur Aufmunterung. Durch seine arische Mutter geschützt, half er während der Kriegsjahre Verfolgten. Im zertrümmerten München stahl er aus Protest gegen die Gleichgültigkeit der Menschen, und seine Tür stand allen Obdachlosen offen. Schließlich konvertierte er zum Christentum, sein Taufname wurde Raphaël. 50 Jahre nach seinem Tod versucht Paul Badde diesen radikalen Menschen greifbar zu machen. Durch die Berichte der Freunde und Weggefährten setzt er die Facetten von Raphaëls kompromissloser Menschenliebe zusammen. Dabei wird klar: Die Wahrheit ist nie ganz zu fassen. Es gibt tatsächlich Engel. Sie sind nur ganz anders, als wir sie uns vorstellen.

Paul Badde, geboren 1948, ist Historiker und Journalist. Nach seiner Laufbahn bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung arbeitet er seit 2000 als Korrespondent der Tageszeitung 'Die Welt', zunächst in Jerusalem, heute in Rom und im Vatikan. Er ist Herausgeber des Magazins 'Vatican' und Autor erfolgreicher Sachbücher, u.a. von 'Das Göttliche Gesicht', 'Heiliges Land' und 'Das Grabtuch von Turin' oder 'Das Geheimnis der heiligen Bilder'.

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Leseprobe

There’s no success like failure – and failure is no success at all

Ein Vorwort

Mein Leben besteht aus Missverständnissen. Meine Frau mag nicht, dass ich davon spreche. Sie geniert sich immer noch sehr deswegen. Doch es muss ihr ja keiner verraten, wenn ich jetzt, da ich alt bin, zumindest vom vielleicht größten dieser Missverständnisse erzähle und wie es sich aufgelöst hat. Das ist die Geschichte eines Engels. Zuerst hatte ich ihn für eine Art katholischen Kabbalisten gehalten, später für einen frühen frommen Freak, dann für einen Nichtsnutz. Doch er war ein Engel.

Wenn ich die Augen schließe und an ihn denke, fallen mir Rosmarin und Lavendel ein. Die Erinnerung verleiht mir Flügel. Ich sehe die Steine Jerusalems vor mir, greife in einen blau blühenden Busch vor der Stadtmauer, zerreibe die harzigen Nadeln zwischen den Fingern und rieche daran. Ich lege den Kopf in den Nacken, und es ist sonnenhell. Glück durchströmt meine Beine, die nicht mehr so gut laufen können wie damals, als ich noch hinter ihm her die Hügel über dem Fluss hinauf und hinab lief. Es war ein langer Weg, der mich weit weg geführt hat, am Ende zu einer Entdeckung, von der ich später berichten werde. Zuerst aber muss ich ein wenig von dem Weg erzählen, der mich dorthin geführt hat.

Nennen Sie mich deshalb heute einmal Tobias, auch wenn ich nicht so heiße. Sie werden noch verstehen, warum. Denn bis auf den Namen Joseph Ratzingers und anderer Päpste, den Namen eines alten Dichters, und einiger Figuren der öffentlichen Zeitgeschichte habe ich in diesen Aufzeichnungen die Namen des wichtigsten Personals, das im folgenden Drama auftreten und agieren wird, vollständig verfremdet. Denn dieses Buch ist keine Belletristik oder Literatur und damit eine Erfindung, wie viele vielleicht denken mögen. Es ist keine Phantasie. Es ist ein Sachbuch. Mit anderen Worten: Die Sache ist wahr.

Ich bin 1948 geboren, drei Jahre nach Europas Mord an den Juden. Die Tyrannei war vorbei. Auch der große Krieg. Deutschland in Trümmern, bis auf unser Dorf, das nur eine – wohl versehentliche – Bombe abbekommen hatte. Friede war. Ich wurde groß wie ein verträumter kleiner Prinz. Mein Reich: ein Fenster zum Hof, ein Fenster zur Dorfstraße, vier ältere Brüder und ein jüngerer.

Wenn unter unserem Fenster im ersten Stock ein Leichenzug von der Kirche zum Friedhof zog – ein Pferdegespann vor einer schwarzen Kutsche hinter dem Pfarrer her, gefolgt von der Trauergemeinde –, betete meine Mutter oben am Fenster neben mir ein Vaterunser und ein Avemaria für die Seele des Toten und bat ihn, doch eine Warze von ihrem Fuß mit ins Grab zu nehmen. Eine Woche später zeigte sie dann meinem kleineren Bruder Klaus und mir an ihrem Fuß die Stelle, an der die schmerzende Warze vollkommen verschwunden war. Dieses Heilungsverfahren hatte sie von ihrer Mutter aus der Schnee-Eifel, die es wiederum von ihrer Mutter hatte. Meine älteren Brüder lachten darüber, doch uns Kleinen – Klaus und mir – imponierte die Sache sehr.

Ich kann nicht behaupten, dass auch ich nicht inzwischen im 21. Jahrhundert angekommen bin. Doch was meine Mutter betrifft, bin ich wohl eher ein Kind des 19., 18. und 17. Jahrhunderts und habe das immer als sehr luxuriös empfunden.

Beim Spülen und Putzen sang meine Mutter Marienlieder, erzählte von der schrecklichen Zeit zweier Weltkriege, und wenn sie sonntags Huhn mit Kapern und Reis kochte, sprach sie von den jüdischen »Herrschaften«, bei denen sie in Krefeld als Hausmädchen gearbeitet hatte. Da hatte sie dieses Rezept kennengelernt. Sie erzählte uns auch die Geschichten der Bibel nach, als sei es ihre Familiengeschichte, von Adam und Eva über Abraham und David, Tobias und Tobit und alle Erzengel bis hin zu Maria Magdalena und dem Apostel Paulus. Es war also in gewissem Sinne auch meine Familiengeschichte, die unser Pfarrer später im Kommunionunterricht weitererzählte.

Ich konnte nicht genug davon bekommen. Mich faszinierte die rätselhaft schöne Sprache der Bibel, die ich Sonntag für Sonntag an der Hand meines Vaters in unserer Dorfkirche hörte, etwa von einer fernen »Stadt, die weder Sonne noch Mond braucht, die ihr leuchten. Denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie, und ihre Leuchte ist das Lamm«. Staunend sah ich neben meinem Vater von einer Säule her dem Messdiener beim Schwingen des Weihrauchfasses in Gestalt eines kreisrunden silbernen Hauses mit vielen Fenstern zu, aus denen sich rauchender Duft mit dem Gesang lateinischer Choräle zur Höhe hin kräuselte. Die ersten Bilder Jerusalems und Bethlehems, den Jordan und die judäischen Hügel lernte ich dazu von klein auf an der Hand meiner Eltern auf den Altartafeln unserer Dorfkirche kennen, auch den Kreuzweg, Maria Magdalena und das Schweißtuch Christi, das auf manchen Bildern von Engeln, auf anderen von einer Frau namens Veronika gehalten und emporgehoben wird.

Nie wäre mir in den Sinn gekommen, dass uns irgendetwas fehlte, auch wenn meine Eltern das wohl bisweilen ganz anders sahen. Ich war ja ein Kind. Mein Vater war als Gefreiter in den Zweiten Weltkrieg gezogen und als Gefreiter aus dem Krieg herausgekommen. Karriere hatte er nicht gemacht, aber er hatte mit der Wehrmacht die Welt kennengelernt, wie die Fotos festhielten, die meine Mutter in das Familienalbum eingeklebt hatte. Er war mit seiner Flak-Einheit nach Paris gekommen, an die Kanalküste, nach Rumänien, nach Russland, auf die Krim und nach Stalingrad, wo er mit einer der letzten Maschinen ausgeflogen wurde, weil meine Mutter ihm wieder einmal einen Sohn geboren hatte, meinen Bruder Werner. Danach war der Kessel an der Wolga zu, und er konnte nicht mehr zurück. Im Album klebte auch ein frühes Familienfoto (ohne mich und Klaus), das an zwei Ecken verkohlt war, weil mein Vater es nach einem Angriff an der Front aus seinem brennenden Biwak gerettet hatte.

Viele seiner Kameraden waren tot oder in russische Gefangenschaft geraten, was fast auf das Gleiche herauskam. Auch Hitler war tot und die Nazis nicht mehr da. Ich wuchs auf in einer Welt, in der das Böse überwunden und vernichtet schien. Alles Böse war früher. Es war vergangen – oder sehr ferne. Im Zeitalter des Kalten Krieges war die Welt des Westens deshalb im Grunde auch eine Welt ohne Russen und Chinesen, die heute Städte wie Rom und Jerusalem und den Rest der Welt überfluten.

Was ich in meiner Jugend und viele damals für die ganze Welt hielten, war deshalb höchstens die Hälfte der Welt oder noch viel weniger. Ja, wir hatten ein Halbes für das Ganze gehalten. Das mag vielen heute völlig unwahrscheinlich erscheinen, auch wenn es uns in gewisser Weise wohl immer so gehen mag. Doch ich will nicht abschweifen.

Ein Jahr vor meiner Geburt war mein Vater als nervös gewordener frommer Friseur aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft in Bensheim an der Bergstraße zu meiner Mutter und meinen vier älteren Brüdern zurückgekehrt an den Niederrhein. Ein Held war er nie gewesen. Meine Mutter erzählte, dass er vor dem Krieg mit ihr oft Umwege gemacht habe und der marschierenden SA ausgewichen sei, um vor den Uniformierten nicht den Arm für den Hitlergruß recken zu müssen.

Was er im Krieg genau gemacht hat, weiß ich nicht und werde es nie mehr erfahren. Als ehemaliger Friseur vom Krefelder Stadt-Theater hatte er einen alten Karton mit Schminkutensilien und eine Perücke mit Glatze, die mich faszinierte. Das einzige Mitbringsel aus Krieg und Gefangenschaft waren ein Wams aus hartem Drillich mit inwendigem Katzenfell und ein olivfarbener wollener Ohrenschutz, der sich wie ein offener Strumpf über den Kopf ziehen ließ. Beides habe ihm das Leben gerettet, erzählte meine Mutter. Dafür sei er mit dem »Gefrierfleisch«-Orden für das Überleben im russischen Winter ausgezeichnet worden. Es war wohl die einzige Auszeichnung seines Lebens.

Morgens beobachtete ich neugierig, wie mein Vater sich an unserem Waschbecken in unserer Wohnküche mit herunterhängenden Hosenträgern vor dem Spiegel mit der Klinge rasierte, die er vorher blitzschnell an einem Ledergürtel abgezogen hatte, und wie das Blut in roten Tropfen durch den weißen Rasierschaum drang, bevor er das Haus mit vier, fünf kleinen Zeitungsschnipseln an den Schnittwunden im Gesicht verließ. Abends kam er gewöhnlich spät von der Arbeit nach Hause zurück. Ich war sein Friedenskind, das erste, das er von klein an aufwachsen sah, doch bevor ich mit ihm ins Gespräch kommen konnte, war er tot. Da war er 52 Jahre alt und hatte zwei Weltkriege überlebt, und ich war zehn.

Plötzlich war er nicht mehr da, wie seine Kriegskameraden auf den Fotos im Fotoalbum – und wie die Juden, von denen mir meine Mutter erzählte. Ihre »Herrschaften« im fernen Krefeld und Düsseldorf waren ermordet worden. In den 1950er-Jahren waren Flüchtlinge aus dem Osten um uns herum einquartiert worden. Doch es gab keine Juden in meiner Umgebung, weder in meinem Heimatdorf, noch später in Aachen im Gymnasium, noch zu Beginn meines Studiums in Freiburg im Breisgau. Ich sah sie nicht und erkannte sie nicht. Es gab sie in der Bibel und in Geschichtsbüchern. Lebendig vermutete ich sie mehr oder weniger unbewusst nur noch im fernen Israel, wo sie heldenhafte Kriege kämpften und wo sie einen gewissen Eichmann vor Gericht gestellt hatten. In Deutschland waren sie unsichtbar, zumindest für mich. Es war mir ganz unvorstellbar, dass nach dem Massenmord noch einige hier geblieben waren.

Außerhalb des Elternhauses, wo meine Mutter von ihnen erzählte, kamen – wie gesagt – auch die Nazis und ihre Verbrechen nicht vor in meiner Jugend, zumindest nicht in meiner Wahrnehmung. Es war ein Missverständnis, wie ich längst weiß,...

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