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Ratgeber Autismus-Spektrum-Störungen

Informationen für Betroffene, Eltern, Lehrer und Erzieher

AutorChristine M. Freitag, Hannah Cholemkery, Janina Kitzerow, Sophie Soll
VerlagHogrefe Verlag GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl64 Seiten
ISBN9783844427059
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Der Ratgeber liefert aktuelles und kompaktes Wissen zur Autismus-Spektrum-Störung. Es wird erläutert, was genau sich hinter dem Begriff der 'Autismus-Spektrum-Störungen (ASS)' verbirgt, woran man eine Autismus-Spektrum-Störung erkennen kann, welche typischen Verhaltensweisen und praktischen Schwierigkeiten im Alltag auftreten können und was über die Entstehung von ASS bekannt ist. Der Ratgeber zeigt weiterhin auf, welche spezifischen Möglichkeiten der Förderung und Behandlung derzeit zur Verfügung stehen. Betroffenen selbst, Eltern, Lehrern und Erziehern wird vermittelt, was sie selbst tun können, wann professionelle Hilfe notwendig wird und welche Maßnahmen weniger hilfreich sind. Zahlreiche konkrete Hinweise ermöglichen es, die Verhaltensweisen von Betroffenen besser verstehen zu können und mit den Betroffenen im Alltag hilfreich und fördernd umzugehen. Schließlich wird über evidenzbasierte Interventionen sowie weitere Unterstützungsmöglichkeiten und deren Finanzierung informiert.

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Leseprobe

|14|2 Symptomatik


2.1 Woran erkenne ich ein Kind mit einer Autismus-Spektrum-Störung?


Sie haben sicher bemerkt, dass die vorgestellten Kinder sich sehr stark in ihrem Verhalten und ihren Schwierigkeiten unterscheiden. Vielleicht sind Ihnen aber auch Gemeinsamkeiten aufgefallen?

Im Folgenden werden wir die wichtigsten diagnostischen Merkmale einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) beschreiben. Der Begriff „Autismus-Spektrum“ bezeichnet eine ganze Bandbreite an verschiedenen Symptomen, die je nach Bereich stärker oder schwächer ausgeprägt sein können. Für die Diagnose einer ASS müssen nicht immer alle Symptome vorliegen. Allerdings müssen die vorhandenen autismusspezifischen Symptome einen gewissen Schweregrad aufweisen und das Kind sowie die Familie im Alltag beeinträchtigen. Daneben kommen auch weitere Verhaltensauffälligkeiten bei den Kindern und Jugendlichen vor, die jedoch nicht zu den Diagnosekriterien gehören und deshalb hier nicht gesondert beschrieben werden. Eine ASS kann ab etwa dem 2. Lebensjahr erkannt und diagnostiziert werden. Die zentralen autismusspezifischen Symptome werden den folgenden Kernbereichen zugeordnet: Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion und der Kommunikation sowie stereotype, sich wiederholende Verhaltensmuster und eingeschränkte Interessen und Aktivitäten.

Beeinträchtigungen in der sozialen Interaktion zeigen sich in der Kontaktgestaltung mit anderen Menschen. Joscha beispielsweise hat Schwierigkeiten, mit anderen Kindern in eine adäquate Kontaktgestaltung zu treten. Das äußert sich darin, dass er andere kneift, anstatt zu fragen, ob er mitspielen kann. Katharina empfindet das Verhalten ihrer Klassenkameraden als undurchsichtig, sodass sie sich zurückzieht und Interaktionen vermeidet. Ferdinand lässt andere nicht zu Wort kommen, sodass keine Wechselseitigkeit in der Unterhaltung entstehen kann, und Maxi fängt an zu schreien, wenn andere etwas tun, was ihr nicht gefällt, anstatt es angemessen mitzuteilen, obwohl sie einige Worte sprechen kann. Zudem nutzt Maxi auch keine alternativen sprachfreien Mittel zur Interaktion, wie Blickkontakt oder Gesten, um ihre Wünsche zu äußern. Obwohl die Verhaltensweisen der vier Kinder sehr unterschiedlich sind, betreffen sie alle Schwierigkeiten in der |15|sozialen Interaktion mit anderen Menschen. Auch soziale Signale wie Blickkontakt, Mimik und Gestik werden nicht oder nur reduziert zur Gestaltung von Interaktionen eingesetzt (z. B. um Interesse zu signalisieren). Sicher ist Ihnen bei der Beschreibung der Kinder auch aufgefallen, dass keines der Kinder über andauernde Freundschaften verfügt. Viele Menschen mit ASS weisen mangelnde Kompetenzen zum Aufbau von Beziehungen oder Freundschaften zu Gleichaltrigen auf. Das liegt auch daran, dass sie sich so schwer tun, eine wechselseitige Interaktion zu gestalten und innere Zustände auszudrücken. Sie wirken so häufig auf sich selbst bezogen und wenig interessiert an der Befindlichkeit oder den Interessen des Gegenübers. Das Sozialverhalten erscheint für Außenstehende manchmal merkwürdig oder unangemessen. Ferdinand haut beispielsweise auf den Tisch und brüllt, um für Ruhe zu sorgen. Er kann, wie viele andere Menschen mit ASS, die Absichten und Gefühle seiner Klassenkameraden nicht nachvollziehen, weil es ihm sehr schwer fällt, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Gleichzeitig kann er sein eigenes Verhalten nicht flexibel an die jeweilige Situation anpassen. Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion betreffen demnach verschiedene, manchmal merkwürdig wirkende Verhaltensweisen, die sich in der Kontaktgestaltung mit anderen Menschen beobachten lassen.

Schwierigkeiten in der Kommunikation können sich ebenfalls auf verschiedene Arten zeigen. So weist Maxi eine verzögerte Sprachentwicklung auf, da sie mit 4 Jahren nur einzelne Worte spricht. Zudem nutzt sie die beherrschten Worte nicht in sozialen Kontexten, wie zur Wunschäußerung oder um Erlebtes oder Freude mit anderen zu teilen. Katharinas Sprache hingegen ist normal entwickelt, klingt jedoch altmodisch und steif und damit vor allem für die Gleichaltrigen seltsam. Zudem nimmt sie Redewendungen wörtlich und wundert sich da|16|rüber, dass ihre Mitschüler „keinen Bock“ haben. Die Sprachentwicklung bei ASS kann also verzögert oder zunächst unauffällig verlaufen. Allerdings zeigen sich bei einer zunächst unauffälligen Sprachentwicklung trotzdem viele qualitative Besonderheiten. Häufig kommt es beispielsweise zu einer Verwechslung der Personalpronomen „ich“ und „du“, oder auch zu Wiederholungen des Gehörten („stereotype Sprache und Echolalien“), wie z. B. einer Aufforderung durch die Eltern, aber auch Zitate aus Filmen. Auch Wortneuschöpfungen („Neologismus“) sind manchmal zu beobachten. Am Auffälligsten jedoch ist, dass viele Menschen mit ASS unabhängig von ihrem allgemeinen Sprachniveau eine mangelnde Fähigkeit haben, Sprache zum sozialen Kontaktaufbau, zum angemessenen Kommunikationsaustausch oder für soziales „Geplauder“ (z. B. Small Talk) zu nutzen. Demnach fallen Abweichungen in der allgemeinen Sprachentwicklung, aber vor allem im sozialen, sogenannten pragmatischen Sprachgebrauch in den Bereich der Kommunikationsauffälligkeiten.

Der dritte Bereich umfasst Verhaltensweisen, in denen sich sogenannte repetitive und stereotype Verhaltensmuster zeigen. Hierunter versteht man, dass sich Personen mit einer Aktivität oder einem Thema, das meist in ein ganz bestimmtes Interessensgebiet fällt, umfassend und ausdauernd befassen. Joscha kennt beispielsweise ein Computerspiel bis ins Detail und verfällt bei diesem Thema in längere Monologe. Ferdinand interessiert sich für das Papsttum und beschäftigt sich für einen 12-Jährigen ungewöhnlich ausdauernd damit. Katharina hingegen kann tagelang mit dem Malen japanischer Comics verbringen. Maxi folgt gerne wiederkehrenden Mustern und sortiert ihre Spielsachen auf dieselbe Art und Weise ein oder reiht sie auf. Zu diesen Verhaltensweisen gehört auch die Veränderungssensitivität. Diese Sensitivität zeigt sich immer dann, wenn unerwartete Veränderungen des gewohnten täglichen Ablaufs auftreten. Häufig reagieren Kinder mit ASS dann mit hohem Widerstand. Neben den umgrenzten Interessen bzw. Aktivitäten und dem Bedürfnis nach einem recht starren, routinierten und ritualisierten Tagesablauf gehört in diesen Symptombereich auch das Auftreten von sich wiederholenden, ungewöhnlichen motorischen Bewegungen und ein auffälliges Interesse an Teilelementen von Gegenständen (z. B. dem Geruch oder der Oberflächenbeschaffenheit). Maxi beispielsweise zeigt auf den ersten Blick merkwürdig anmutende Körperbewegungen, wenn sie sich freut, indem sie sich im Kreis dreht oder mit den Armen „flattert“. Diese Bewegungsmuster werden in der Fachsprache als Manierismen bezeichnet. Häufig weisen zudem viele Menschen mit ASS sensorische Überempfind|17|lichkeiten oder Interessen auf. Einige Betroffene betrachten, befühlen oder riechen an verschiedenen Materialen sehr interessiert und sind davon schwer abzulenken. Der Bereich der stereotypen, sich wiederholenden Verhaltensmuster und eingeschränkten Interessen und Aktivitäten umfasst also gleichbleibende und intensive Interessensmuster, ritualisierte Verhaltensweisen, Manierismen und sensorische Interessen.

Merke:

Das Erscheinungsbild einer ASS unterscheidet sich individuell sehr stark. Schwierigkeiten im Kontakt mit anderen Menschen, Auffälligkeiten im sozialen Sprachgebrauch sowie sich wiederholende Verhaltensweisen, sensorische Besonderheiten oder Sonderinteressen kommen jedoch bei allen Personen mit ASS, wenn auch in unterschiedlicher Konstellation, vor. Eine zusätzliche geistige Behinderung liegt bei ca. 50 % der betroffenen Personen vor.

2.2 In welchen Situationen treten Probleme auf?


Autistische Störungen werden im Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation als tiefgreifende Entwicklungsstörung definiert. Durch diese Begrifflichkeit soll betont werden, dass es sich um eine chronische Störung des gesamten Entwicklungsprozesses handelt. Das bedeutet, dass die Schwierigkeiten meist bereits in der frühen Kindheit beginnen und bis ins Erwachsenenalter hin fortbestehen. Da der gesamte Entwicklungsprozess betroffen ist, zeigen sich die autismustypischen Auffälligkeiten in den verschiedensten Lebensbereichen, wie beispielsweise zu Hause, dem Kindergarten, der Schule, im Urlaub, im Sportverein oder dem Studium. Insbesondere in Situationen, die soziale Anforderungen stellen, können sich vermehrt autismustypische Verhaltensweisen zeigen. Es gibt...

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