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Raum und Subversion

Die Semantisierung des Raums als Gegen- und Interdiskurs in russischen Erzähltexten des 20. Jahrhunderts (Charms, Bulgakov, Trifonov, Pelevin)

AutorIrene Lamberz
VerlagHerbert Utz Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783831609505
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis47,99 EUR
Im 20. Jahrhundert trat die Sowjetunion mit dem Anspruch auf, Mensch und Raum neu zu definieren. Auch mit Hilfe der Literatur als Medium kultureller und politischer Ver­änderungen sollte die revolutionäre Umgestaltung der Lebenswirklichkeiten und die Implementierung neuer Ideale aktiv in die gewünschte Richtung gesteuert werden. Wie sich literarische Texte einer solchen Einschränkung ihrer Darstellungsauto­nomie widersetzen, wird an Textbeispielen der Autoren Daniil Charms (1905-1942), Michail Bulgakov (1891-1940), Jurij Trifonov (1925-1981) und Viktor Pelevin (geboren 1962) deutlich: In den vorgestellten Romanen werden eigenständige fiktionale Raumwelten entwickelt, die angesichts eingeschränkter Lebenswirklichkeiten und ideologischer Bevormundung das semiotische Potential des Raums und damit auch die dahinterliegende Symbolkraft subtil zurückerobern. Parallel zur Entschlüsselung textspezifischer Raumcodes verbindet die Autorin gängige mit weniger erschlossenen Theorien zur literarischen Raumdarstellung und -semantisierung und erweitert damit den Zugang zu einem zentralen Aspekt literarischer Wirkung und Ästhetik.

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Leseprobe
7. Schlussbemerkungen: Die Ausspielung des fiktiven gegen den realen Raum (S. 273-274)

Die zentrale Frage, wie gegen den hermetischen Raum angeschrieben, literarische Gegenräume entwickelt, und so auch eine Art Gegendiskurs initiiert wurde, ist für die vorliegende Arbeit zentral gewesen. Dabei bildete der Gedanke, dass die Literatur in Russland als diskursstiftend durchaus sehr ernst genommen wurde, einen wichtigen Fixpunkt in der Argumentation.

Im Vordergrund stand die Absicht zu ergründen, auf welche Weise literarischer Raum überformt, neu gestaltet und mit neuer Bedeutung aufgeladen werden kann. Insbesondere fallen dabei neben der Nutzung von Äquivalenzen, die sowohl aus dem literarischen als auch aus anderen Kontexten implizit oder explizit aufgegriffen werden, diejenigen Raumsemantisierungsverfahren ins Gewicht, die auf den beiden Konzepten Chronotopos und Heterotopos basieren.

7.1. Chronotopisierung vs. Auflösung des Chronotopos

Chronotopoi, die semantisierten und zugleich semantisierenden Gefüge von Raum und Zeit, bilden den zentralen Kern eines Sujets.505 Sie bilden ein Koordinatensystem, in das spezifische Eigenschaften des dargestellten bzw. historischen Raums ebenso wie andere, z. T. sehr heterogene Bedeutungsaspekte einfließen. Die Komposition, die der Autor vornimmt, wenn er Aspekte von Zeit und Raum aus unterschiedlichen Zusammenhängen – seien es individuell erlebte, literarisch rezipierte, erinnerte oder imaginierte – in einen Text überführt, ist besonders vielschichtig insofern, als er explizit eine Art Archivierung vornehmen möchte.

Zuvor selektierte Räume und deren Attribute und Zusammenhänge werden neu kombiniert und können so die damit verbundenen Deutungskonventionen (und Diskurse) anders beleuchten; wenn das sinnverhaftete bzw. - stiftende Raumzeit-Gefüge in seiner Struktur verändert wird, gerät auch die dahinterstehende Ordnung ins Wanken, und der Leser muss sich neue Fixpunkte suchen, die seine Koordinaten auch im Blick auf seine eigene Realität (bzw. deren Interpretation) verrücken können. Die ‚Deformation (Lotman) tradierter Chronotopoi im Zuge ihrer (wiederholten) Fiktionalisierung gehört daher zu den zentralen Aspekten der Semantisierung und der Diskurskritik.

Wie in den Interpretationen gezeigt werden konnte, geht es dabei nicht um die einfache Präsenz eines Chronotopos wie eines „fixen Bausteins“ im Text. Man kann vielmehr davon ausgehen, dass Chronotopoi sich dynamisch innerhalb eines Textes entwickeln, indem sie mit verschiedenen anderen Chronotopoi in einen Dialog treten, so dass sich quasi eine textspezifische Art der Polyphonie der Räume herausbildet; im Andeuten, im Zitieren, in der Montage, der Verfremdung, im Überformen und Zerstören übernommener Chronotopoi bildet sich ein jeweils eigener, spezifischer Chronotopos im literarischen Text heraus.

Im Zusammenspiel mit anderen Textkomponenten, in einem ständigen Prozess der Selektion und Kombination, bilden sich neue Semantisierungsaspekte heraus, die sich auf den ursprünglichen Semantisierungskontext fördernd oder hemmend auswirken. In einigen Texten von Charms wird beispielsweise jeglicher Versuch einer logischen Verbindung räumlich-zeitlicher Dimensionen unterlaufen und ins Absurde geführt: Raum und Zeit passen hier nicht mehr zusammen und scheinbar eindeutige Raumkonzepte werden gegeneinander ausgespielt oder prallen unvermittelt aufeinander, ohne eine eindeutige Lösung anzubieten."
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis8
VORWORT10
1. Raum als zentraler Aspekt der Selbst- und Fremdwahrnehmung in der russischen Kultur11
1.1. „Wir verwandeln die ganze Welt in einen blühenden Garten“ – die Sakralisierung des Alltagsraumes und die Rolle der Literatur16
1.2. Die Literatur als Medium des Neuen Raums und als Ort zwischen den Zeilen17
1.3. Raummythen als Grundlage der Raumsemantisierung23
1.4. Das kulturspezifische ‚Raumvermögen.. der russischen Literatur36
2. Raum als literatur- und kulturwissenschaftlicher Parameter39
2.1. Methodische Vorüberlegungen zum Umgang mit künstlerischem Raum42
2.2. Raum als Erinnerungsmedium der Literatur44
2.3. Überblick über einige zentrale literatur- und kulturwissenschaftliche Betrachtungsweisen des Raums46
3. Daniil Charms absurde Erzählungen als poetologische Transzendierung und ‚Umkehrung‘ einer verkehrten Welt164102
3.1. Der Petersburger Raum als ‚heterologischer (Hetero)Topos‘?102
3.2. Ob..riutische Konzepte von Gegenstand und Raum108
3.3. Weitere zeitgenössische Raumwahrnehmungen und Konzeptualisierungen110
3.3. Charms´ philosophisches Raumkonzept als (meta)fiktionale Grundierung123
3.4. Die sakrale Transformation des Raumes in Starucha130
3.5. Zeitloser Raum in Starucha?133
3.6. Die (umgekehrte/ inverse) Perspektivenstruktur in Starucha137
3.7. Wunder und Transzendierung des (Alltags-)Raumes146
4. Die topologische Unbeherrschbarkeit des Raums als Semantisierungs-strategie163
in Michail Bulgakovs Master i Margarita163
4.1. Moskau und Jerusalem als Antipoden168
4.2. Fragmentarisierungen und Synthetisierungen des Raums173
4.3. Die Karnevalisierung als ‚teuflische Infektion‘ und subversive Grenzauflösung176
4.4. (Mind)Mapping – fiktionalisierte Raumerinnerung als dialogische Überblendung189
4.5. Wohnung, Haus, Heimat – die Reintegration des Privaten191
4.6. Bulgakovs phantastische Raumerweiterung als Subversion195
4.7. Die Resakralisierung des sowjetischen Raums im Sinne des Gottesnarren-tums199
(‚jurodstvo‘)199
5. Vom semantisierten Raumkontext zum semantischen Textraum: Moskau als ‚stiller Winkel‘ in den Romanen Jurij Trifonovs205
5.1. Moskau als ideologischer und als lebensweltlicher Chronotopos bei Jurij Trifonov206
5.2. Überformung des sozial(real)istischen Chronotopos bei Trifonov213
5.3. Der erinnerte Raum als Gegendiskurs: Erinnerung statt Prospektivität222
5.4. Raum am Anfang und am Ende: Ränder als ‚human mapping‘225
5.5. Der Roman als Ort der Grenzüberschreitung und der ‚Norm(al)isierung‘229
5.6. Moskau als Zentrum des Sozialismus und als ‚stiller Winkel‘234
5.7. Trifonovs Raumdarstellung als Evokation und als Provokation237
6. Viktor Pelevins multiple und virtuelle Räume als Ausdruck eines neuen (Anti-)Bewusstseins244
6.4. Raummythen der Vergangenheit als halluzinogene Zwischenräume: Hyperspace und Hyperbewusstsein248
6.2. ..apaev i Pustota als Archiv fiktionaler und kultureller Räume und Raumtypen255
6.3. Die metafiktionale Rahmung als ‚Interspace‘ ?256
6.5. Leere, Wüste, Nirwana, Nichts – Konzeptionalisierung vs. Semantisierung?261
6.6. Die Frage nach dem virtuellen Raum – nach der Utopie – nach Russland265
6.7. Das Spiel mit den Raumerwartungen: fiktionalisierte Chronotopoi und Meta- bzw. Hybrid-Räume267
6.8. Die Halluzination als Verfahren – Dekonstruktionen des mythisierten Raumes269
6.9. Russland als Psychotop oder als Durchgangsstation auf dem Weg der Initiation?272
7. Schlussbemerkungen: Die Ausspielung des fiktiven gegen den realen Raum278
7.1. Chronotopisierung vs. Auflösung des Chronotopos278
7.2. Das Ende der Heterotopie vs. unerschöpfliche Gegenwelt Literatur280
7.2. Dimensionen zwischen den Zeilen – Raum als (mehrdimenisonales) Zeichen284
7.4. Die (Re)Sakralisierung des Raums als subtile (Re-)Integration des285
entfremdeten Raums285
8. Abbildungsübersicht287
9. Literaturverzeichnis289
9.1. Untersuchte und kontextualisierende Primärtexte289
9.2. Sekundärliteratur292

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