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E-Book

Rebellion und Wahn

Mein '68

AutorPeter Schneider
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl368 Seiten
ISBN9783462306552
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,49 EUR
»?Rebellion und Wahn? - das ist das Lebensbuch Schneiders und das der Generation.« Der Spiegel Peter Schneider war einer der Akteure von '68, mit Rudi Dutschke, Gaston Salvatore, Ulrike Meinhof. Als einer von ganz wenigen unter ihnen hat er damals Tagebuch geführt - ein Schatz, den er erst jetzt hebt. Die Jahre 1967/68 waren eine Zeit des Aufbruchs, die Peter Schneider und viele seiner Generation als eine zweite Geburt erlebten. Schneider blättert in seinen Tagebuch-Aufzeichnungen und setzt sich mit den Hoffnungen, Utopien und Verstiegenheiten dieser Zeit auseinander. Es ist kein nostalgischer Rückblick, der da entsteht - eher ein Streitgespräch des 68-Jährigen mit dem 68er über den Frühling vor dem Deutschen Herbst. Dabei wird Ernst gemacht mit dem Anspruch, alles Politische sei privat und umgekehrt. In Schneiders Darstellung verschränkt sich der weltweite Aufbruch von 67/68, der der Generation der Väter den Gehorsam verweigerte und eine neue Gesellschaft nach neuen Regeln erschaffen wollte, und eine Amour fou, die den Tagebuchschreiber womöglich mehr umwühlte als seine revolutionären Überzeugungen; der Widerstreit zwischen Künstlerehrgeiz und politischen Aktivismus; das Nebeneinander von Welterlösungsideen und tiefer persönlicher Verzweiflung; der Absturz einer historisch notwendigen Erneuerungsbewegung in persönliche ideologische Erstarrung.

Peter Schneider, geboren 1940 in Lübeck, wuchs in Freiburg auf, wo er sein Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie aufnahm. Er schrieb Erzählungen, Romane, Drehbücher und Reportagen sowie Essays und Reden. Zu seinen wichtigsten Werken zählen »Lenz« (1973), »Der Mauerspringer« (1982), »Rebellion und Wahn« (2008), »Die Lieben meiner Mutter« (2013) und »Club der Unentwegten« (2017). Zuletzt erschien sein Roman »Vivaldi und seine Töchter« (2019). Seit 1985 unterrichtet Peter Schneider als Gastdozent an amerikanischen Universitäten, unter anderem in Stanford, Princeton, Harvard und an der Georgetown University in Washington D.C.

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Leseprobe

Prolog


An einem Herbsttag des Jahres 1967 standen fünf junge Männer in einem großen, fensterlosen Zimmer in Berlin-Schöneberg um einen mit Stößen von Flugblättern bedeckten Tisch herum und tranken sich Mut für ihre nächste politische Kampagne an: Es ging um nicht weniger als um die Enteignung Axel Cäsar Springers, des größten deutschen Zeitungsverlegers, der in Berlin siebzig Prozent des Pressemarktes beherrschte. Als Büro und Headquarter diente eine jener 5-Zimmer-Wohnungen, die damals nach einem identischen Design entstanden: Sperrmüllmöbel, Rohholztüren auf Holzböcken, die als Tische dienten, chinesische Papierlampions an der Decke, Büchergestelle aus Holzbrettern auf Ziegelsteinen, Plakate und handgeschriebene Sprüche an den Wänden, darunter ein brachialer Reim, den ein mir bekannter Genosse mit einem mädchenhaften Gesicht verfaßt hatte: »Brecht dem Schütz die Gräten, alle Macht den Räten!« Bei dem Genannten handelte es sich um den Regierenden Bürgermeister Klaus Schütz.

Trotz des trüben Wetters herrschte im Büro eine ausgelassene Stimmung. Die Straßen Berlins hallten wider von Sprechchören, die die Verbrechen der USA in Vietnam anklagten, auf den verfallenen Hausfassaden erschienen fast täglich neue Slogans, die den »Sieg im Volkskrieg« ankündigten. Auf dem Rohholztisch lag der Entwurf für eine »Anleihe der Anti-Springer-Kampagne« über 1000 Mark. Text: »Der Springerkonzern schuldet dem Inhaber dieser Anleihe 1000 DM. Die Zinsen werden von den Inhabern selbst bestimmt und können durch gemeinsame Aktionen gegen das Springerhochhaus in Berlin und alle Zweigstellen des Springerkonzerns Tag und Nacht eingelöst werden.« Und dann fett gedruckt: »Zögert nicht! Die Enteignung des Springerkonzerns hat schon begonnen. Weder die internationale Konterrevolution noch ihre Läufer und Springer können gerettet werden. Brecht die Macht der Manipulateure!«

Die Revolution schien nur ein paar Straßenecken entfernt zu sein.

Als die dritte oder vierte Flasche des badischen Billigweins kreiste, warf Hans-Joachim, Spitzname »Chefchaot«, die Frage auf, wie wir uns eigentlich die »Lösung der Machtfrage« in der Stadt vorstellten.

Machtfrage? Welche Machtfrage?

Hans-Joachim hatte das Thema mit einem Lächeln in die Runde geworfen, aber seine Frage war offenbar nicht rhetorisch gemeint. Mit einem provokanten Glitzern in den Augen blickte er von einem zum anderen. Er war der politisch Erfahrenste unter uns, ein gutaussehender Endsemester mit Kurzhaarschnitt, der ein erstaunliches Charisma entfalten konnte, sobald er ein Megaphon in der Hand hielt. Der Berliner Senat sei am Ende, fuhr er fort. Ob wir wollten oder nicht – wir müßten auf den Fall vorbereitet sein, daß uns die Macht zufiele bzw. von der zutiefst ratlosen herrschenden Klasse auf dem Tablett überreicht würde.

Die Runde war verblüfft, aber absurd erschien das Szenario nicht. Bei der letzten, bisher größten Vietnamdemonstration am 21. Oktober waren (nach unserer Zählung) über zehntausend Menschen auf der Straße gewesen.

Überraschend schnell nahm die Lösung der Machtfrage im Berliner Zimmer in Schöneberg ihren Lauf. Bald stritten wir nicht mehr über die Wahrscheinlichkeit unseres Amtsantritts, sondern über die politisch korrekten Amtsbezeichnungen der neuen Machthaber. Natürlich durften die Genossen, die die Stadt regieren würden, nicht »Senatoren« heißen. Sie würden als jederzeit abwählbare Räte einer Rätedemokratie vorstehen. Und schon wurden die Ressorts verteilt. Der wichtigste Posten – Regierender Bürgermeister – blieb für einen der nicht anwesenden führenden Genossen der »Bewegung« reserviert. Aber auch für uns fiel etwas ab. Hans-Joachim, unser Chefchaot, sollte als Rat für Inneres die Polizei und den Verfassungsschutz umkrempeln. Der Bücherwurm Bernhard – damals der einzige Marxismus-Leninismus-Kundige unter uns – sollte die Schulen und Universitäten revolutionieren. Der Theaternarr Kajo sollte die Opern und Theater umgestalten und revolutionäre Spielpläne erstellen – mit Bert Brechts »Maßnahme« und Alfred Jarrys »Ubu Roi« als Schwerpunkten. Der kleine Manfred, der die Kasse führte, würde im Senat für Finanzen das Unterste nach oben kehren. Und ich, Spitzname »Dichter«, sollte mich als Rat für Kultur bewähren. Unbesetzt blieben – mangels Interesses – die Ressorts Verkehr, Soziales, Post und Müll.

Wir, die zukünftigen Räte, schüttelten tapfer unsere Köpfe, zeigten uns gegenseitig den Vogel, schlugen andere Namen vor – unter Genossen verstand es sich, daß niemand sich nach vorne drängte. Aber im Ernstfall, soviel war klar, würde keiner von uns sich dem Dienst in einer revolutionären Räterepublik verweigern, wenn ihn denn »die Massen« dazu beriefen.

In einem Anfall meiner kleinbürgerlichen Zweifel fragte ich Hans-Joachim, wie er sich die Machtergreifung konkret vorstelle. Würden sich die Berliner Parteien alle in Luft auflösen, die Berliner Gewerkschaften mitsamt ihrem Vorsitzenden Sickert (»es sickert und sickert und sickert«, hatte ihm ein Flugblatt prophezeit) in den Gullis verschwinden, die Berliner Polizei und der Verfassungsschutz ihren Eid auf uns und die neue Räterepublik schwören? Und die Alliierten, ja, was würden eigentlich die Alliierten sagen, die schließlich in Berlin immer noch das Sagen hatten?

Irgendwie waren es, fand Hans-Joachim, die falschen Fragen – »zu konkretistisch«. Es gehe um die große Ansage, die Langzeitperspektive. Und falls dann doch alles anders kam, falls die alten, abgewirtschafteten Kräfte am Ende obsiegten, konnten wir unser Szenario immer noch zum Happening erklären.

Keine Frage, die revolutionäre Pöstchenverteilung war ein Spiel, ein absurdes und übermütiges Spiel, aber ich kann mich nicht erinnern, daß einer von uns in herzliches Gelächter ausgebrochen wäre.

Wir, die Machthaber eines künftigen »Freistaats Westberlin«, waren damals Anfang und Mitte Zwanzig.

Ein paar Tage später stand ich am Häuschen der Bahnaufsicht im Bahnhof Zoo und beobachtete die ein- und ausfahrenden Züge. Damals gab es dort nur zwei Gleise für den Fernverkehr – der sogenannte »Ersatz-Hauptbahnhof« der geteilten Stadt hatte die Kapazität eines Provinzbahnhofs. Mit dem leisen Schauder eines Geburtstagskindes, das von seinen Eltern eine viel zu große Spielzeugeisenbahn geschenkt bekommen hat, hörte ich den Lautsprecheransagen zu, die die Züge ankündigten. Sie kamen aus Hamburg, Frankfurt, Köln und München, manche auch von weiter her, aus Amsterdam und Paris, und fuhren weiter nach Prag und Warschau. Aber von Minutentakt konnte keine Rede sein. Während ich dort stand und die Züge meist pünktlich, manchmal auch mit angekündigter Verspätung ein- und ausfahren sah, überkam mich ein überwältigendes Gefühl der Überforderung. Wer von uns, überlegte ich, würde imstande sein, all diese Züge zu dirigieren? Wer würde die Weichen stellen? Etwa der abgebrochene Germanist Hans-Joachim, der nichts als reden konnte? Oder der Theaterwissenschaftler Kajo, der in ewiger Trennung mit seiner Frau lebte und unter Schlaflosigkeit litt? Oder ich, der selbsternannte »melancholische Revolutionär«? Wir waren allenfalls fähig, die bestehenden Fahrpläne abzuschaffen; wehe uns und den Passagieren, falls wir jemals die Chance erhalten sollten, die deutsche Bahn zu beaufsichtigen.

 

Unser unumstrittener »primus inter pares« Rudi Dutschke war an dieser Fata Morgana nicht ganz unschuldig. In einer Kneipe hatte er, so hat er es in seinen Tagebüchern festgehalten, schon im Juni 1967 seinen »Machtergreifungsplan« ausgepackt.

»Es ist nicht mehr übermütiger Irrsinn«, so hat er in diesen Tagen formuliert, »in dieser Stadt die Machtfrage zu stellen und positiv zu beantworten. ›Positiv‹, d.h. durch schon vor der Machtfrage sich herstellende Räteorgane das Gleichgewicht verschieben. Freistaatstatus. Abschaffung der Armee [bis] auf ein notwendiges Minimum, tote Kosten suchen und positiv verwerten für unser Alternativprogramm.«

Später hat er den Plan zusammen mit Gaston Salvatore im Oberbaumblatt ausgeschrieben. Darin behaupteten die beiden allen Ernstes, die Lage sei reif für die »Schaffung einer von kapitalistischen und stalinistischen Bürokraten unabhängigen Assoziation freier Individuen in einem ›Freistaat Westberlin‹«.

Ausformuliert kommt einem der Plan noch irrwitziger vor als das oben skizzierte Gespräch zwischen fünf beschwipsten jungen Männern in einer Berliner Wohnung. Denn wie nebenbei schloß Rudis und Gastons Vision ja auch gleich noch die Befreiung Ostberlins mit ein.

 

Was war passiert? Wie war es dazu gekommen, daß wir uns kaum ein oder zwei Jahre nach unserer politischen Initiation mit derartigen Plänen beschäftigten? Daß wir auch nur eine Sekunde lang an eine Entwicklung glauben konnten, die uns – selbstverständlich ganz unabhängig »von unserem persönlichen Wollen oder Streben« – dazu »zwingen« würde, die »Verantwortung« in der Stadt zu übernehmen?

Aber ich würde uns und der damaligen Stimmung in Berlin nicht gerecht, würde ich nicht von dem Hochgefühl sprechen, das in jenen Monaten wie ein berauschender Wind durch die Berliner Straßen fuhr. Damals schien alles möglich, besonders das Unmögliche – und wir, die von diesem Wind Getragenen, fühlten uns von der Geschichte selbst dazu berufen, eine andere Gesellschaft nach neuen Regeln aufzubauen. Es war ein Rausch ohne Drogen, der Rausch einer »historisch notwendigen« und »wissenschaftlich begründeten« Utopie, der von unseren Gehirnen und Herzen...

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