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E-Book

Mit Recht gegen die Macht

Unser weltweiter Kampf für die Menschenrechte

AutorWolfgang Kaleck
VerlagCarl Hanser Verlag München
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783446250222
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Wolfgang Kaleck ist bekannt als Rechtsvertreter von Edward Snowden, doch seine Geschichte reicht viel tiefer. Als idealistischer junger Anwalt vertritt er zur Nachwendezeit in Deutschland Opfer von Stasi und Neonazis. Bei Reisen in Südamerika trifft er auf Menschen, deren Leben von Folter und Gewalt geprägt sind. Erst jetzt wird ihm klar, dass er sich ganz dem Kampf um Menschenrechte widmen will - nicht als Einzelner, sondern als einer von vielen, die sich für eine bessere, solidarische Welt einsetzen. Heute ist er ein weltweit agierender politischer Jurist und Aktivist. Wie er dazu wurde, was ihn geprägt hat und warum die Frage nach den Menschenrechten immer auch eine Systemfrage ist, davon handelt dieses Buch.

Wolfgang Kaleck, 1960 geboren, ist Rechtsanwalt und Menschenrechtsaktivist. Er leitet das von ihm mitbegründete European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin. International hat er sich einen Namen gemacht, als er Strafanzeige gegen den damaligen US-Verteidigungsminister Rumsfeld wegen Kriegsverbrechen und Folter erstattete. Kaleck ist der juristische Beistand Edward Snowdens in Deutschland. 2014 wurde ihm der Hermann-Kesten-Preis des PEN-Zentrums verliehen.

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Leseprobe

Der Verweigerer:
Von Jülich nach Bonn und Berlin


»Denn daß wir nirgendwo sonst zuhause waren als in unsrer Parteilichkeit, das war mir, obgleich ich erst am Anfang meiner Reise stand, deutlich geworden. (…) Was in Deutschland geschah, verbanden wir mit den Vorgängen in Frankreich, in Spanien, in China, und wenn ich mir Menschen dachte in Prag, in Paris, in Berlin, in einem Raum, dessen Adresse nicht mehr festzustellen, aus dem Gedächtnis gestrichen war (…), Menschen in einem kleinen Kreis, die zukünftige Entwicklung ihres Landes planend, so legte sich um ihre Worte jedesmal dieses weltweite Netz, das Besprochne wurde aufgenommen von einem Schwirren, hing unlösbar zusammen mit dem, was in Afrika, in Asien, den amerikanischen Kontinenten entworfen wurde und im Entstehn begriffen war. Wir waren Vereinzelte und gleichzeitig von einer Totalität umfangen, unsre Aufgabe war es, uns so viel wie möglich bewußt zu machen von dem, was ringsum geschah (…).«

Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands1

Lange hatte ich keine Antwort auf die Frage, warum ich mich eigentlich seit meiner Jugend politisch engagiere. Es gehört für mich einfach zu meinem Leben, seit ich denken kann. Bis vor wenigen Jahren wäre ich aber nicht auf die Idee gekommen, mein Antrieb könnte etwas mit meiner Familiengeschichte zu tun haben.

Ich wuchs in den sechziger und siebziger Jahren in Jülich auf, einer Kleinstadt im Rheinland. In meiner Familie redete man wenig über die Vergangenheit. Meine Mutter wurde 1936 als Teil der deutschsprachigen Minderheit in Siebenbürgen geboren. Doch wenn die Eltern uns Kindern von früher erzählten, begannen sie mit Kinobesuchen im München der Nachkriegsjahre, wo sie sich im Krankenhaus in der Heßstraße begegnet waren – meine Mutter arbeitete dort als Köchin, mein Vater finanzierte als Nachtportier sein Physikstudium. Über das, was davor war, sprachen sie nicht. Bei Kriegsende befand sich mein Großvater mütterlicherseits in sowjetischer Gefangenschaft, wo genau, wusste meine Großmutter nicht. Sie bestach rumänische Beamte, um dem Rest der Familie die Ausreise zu ermöglichen. Mit der Eisenbahn flüchtete sie mit meiner Mutter und deren jüngeren Geschwistern 1950 über Budapest und Österreich nach Freilassing in Bayern. Dort trafen sie den Großvater, er war beinamputiert, doch die Russen hatten ihn gut behandelt.

Mein Großvater war auch der Einzige, der später über seine Herkunft redete. Daheim, das war für ihn Siebenbürgen, »meine Leut«. Seine Erzählungen waren nicht vom Revanchismus der Heimatvertriebenenverbände geprägt, dennoch ging er den anderen aus der Familie mit seinem Heimweh ziemlich auf die Nerven. »Du und deine Siebenbürger«, sagten sie dann.

Im Sommer 2008 besuchte ich meinen Onkel Fritz, den Bruder meiner Mutter. Er war als junger Mann Fabrikarbeiter, immer hatte er hart gearbeitet, mittlerweile besaß er mehrere Häuser in einem kleinbürgerlichen Stadtteil in München. Er kehrte gerade die Straße vor dem Block. Als wir das nahe gelegene Wirtshaus betraten, wurde er von einem ganzen Stammtisch begrüßt. Wir setzten uns an einen anderen Tisch, und als wir mit unserem ersten Hellen anstießen, sagte er: »Das sind meine Leut – von der Münchener Tafel.« Jeden Freitag teilten sie Essen an Obdachlose und andere Bedürftige aus, er war einer der Organisatoren. Ich hörte das erste Mal davon.

Fritz und ich kamen auf die Nachkriegszeit zu sprechen, als er mit meiner Mutter und den Geschwistern in Deutschland ankam. Bettelarm seien sie gewesen, beim Konsum-Laden mussten sie immer anschreiben lassen. Meine Mutter, obwohl sie die älteste der Geschwister war, habe nie eingekauft, weil sie sich geschämt habe. Ich erinnerte mich an meinen Großvater, der später in der Haushaltsgeräte-Fabrik von Weidenkaff in München-Milbertshofen als Arbeiter eine feste Anstellung bekam und deswegen stolz betonte: »Ich bin ein gemachter Mann.« Und der von seinem Arbeiterlohn spendete, wenn er vom Unglück anderer Menschen in der Zeitung las, einem Erdbeben in Peru, einer Überschwemmung in der Türkei. Auch die Familie meines Vaters wurde vom Krieg stark getroffen. Seine Mutter musste in den Wirren der letzten Kriegsmonate alleine mit ihm, seinem Bruder und seiner Schwester aus dem damaligen Königsberg und heutigen Kaliningrad vor der Roten Armee fliehen und geriet dabei immer zwischen die wechselnden Frontverläufe.

Während der Schulzeit saß ich oft mit meiner Mutter in der Küche, und als ich nach und nach meine politische Identität entwickelte, versuchte ich ihr klarzumachen, dass der Weg des Einfamilienhaus- und Autoeigentümers nicht der richtige für mich sei. Ich hielt ihr vor, mich unbedingt zum Kleinbürger erziehen zu wollen. Ihre entwaffnende Antwort: »Ich will, dass ihr normal seid und dass ihr nicht auffallt.« Schon damals hatte ich eine Ahnung, dass meine Eltern von ihren Migrationserfahrungen geprägt waren. Aber erst viel später begriff ich, dass es auch mein eigenes Werden beeinflusst hat, dass ich aus einer Familie komme, deren Geschichte wie die vieler Millionen Europäer von traumatischen Erlebnissen, von Flucht und von Armut handelt.

Ich bin meinen Eltern dankbar dafür, dass sie nie ein abstraktes Unglück für diese Erfahrung verantwortlich machten, sondern mir immer vermittelten, dass die Deutschen den Krieg verursacht und einen großen Teil der europäischen Juden ermordet hatten. Schon als Kind wusste ich, dass alle männlichen Verwandten, die alt genug dafür waren, die Uniform der Wehrmacht getragen hatten, und dass einer meiner Großonkel ein derart schlimmer Nazi gewesen war, dass die Familie deswegen mit ihm gebrochen hatte. Meine Mutter engagierte sich in der evangelischen Kirche und bei Terre des Hommes, sie ist alte SPD-Wählerin. Mein Vater klebte zwar noch Plakate für Willy Brandt, doch dann wurde ihm die SPD zu rechts und er ging zu den Grünen, bis er auch diese verließ, weil sie die Kriege in Afghanistan und Irak unterstützten. Beide haben mir Empathie und Solidarität für Ausgegrenzte vermittelt, und heute weiß ich, wie viel das mit dem zu tun hatte, was sie und ihre Familien erleben mussten.

2009 wurde ich zu einer Konferenz in Bukarest eingeladen, bei der es um die Verschleppung und Folter von Terrorverdächtigen durch die CIA und die Komplizenschaft der Europäer ging. Auch Rumänien stand im Verdacht, ein CIA-Geheimgefängnis unterhalten zu haben. Ich hatte selbst nie etwas unternommen, um in das Geburtsland meiner Mutter zu reisen. Doch jetzt war ich dort und nutzte die Einladung, um vor der Tagung nach Siebenbürgen zu fliegen. Ich schlenderte durch das historische Zentrum des mit europäischen Fördergeldern sanierten Sibiu/Hermannstadt. Dann fuhr ich nach Pretai, dem Herkunftsort meiner Mutter und Großeltern. Helena, eine rumänische Freundin unserer letzten Verwandten, die in den neunziger Jahren nach Deutschland kamen, empfing mich in ihrem Haus mit Süßspeisen, hausgemachtem Speck und selbstgebranntem Schnaps. Ich drehte eine Runde durch das Dorf. Auf den matschigen, ungepflasterten Straßen waren Hunde und Pferdefuhrwerke unterwegs, vor einigen Häusern standen Mittelklasseautos. Der ruhige Ort wirkte freundlich, fast alle Häuser waren bunt gestrichen. Auf dem Friedhof fand ich die Gräber meiner Urgroßeltern, und dann stand ich vor einem orangefarbenen Haus mit schiefergedecktem Holzdach – dem Gebäude, in dem meine Mutter geboren wurde. Die jetzigen Eigentümer, eine Roma-Familie, begrüßten mich. Die Frau wollte sich nur mit mir fotografieren lassen, wenn man auf dem Foto nicht sieht, dass sie zu der roten Jogginghose unterschiedliche Turnschuhe trug. Ich rief meine Mutter an, um ganz sicher zu sein. Doch als ich gerade ansetzen wollte, ihr das Haus zu beschreiben, fiel sie, die zuletzt vor über sechzig Jahren dort gewesen war, mir ins Wort und sagte mir, was ich sah: »Hinter dem Haus ist ein kleiner Hügel mit Obstbäumen. Da, wo du stehst, fließt ein Bach. Die Straße links hinunter siehst du die Schule und rechts die Kirche.«

Kurz nach der Rückkehr von meiner Rumänienreise traf ich meinen Freund Nino Pusija auf einer Ausstellungseröffnung in Kreuzberg. Nino stammt aus Sarajewo und ist Fotograf. Als er hörte, von welcher Reise ich gerade zurückgekehrt war, umarmte er mich, dann rief er nach Schnaps und stieß mit mir an: »Wir Bosnier sagen, erst wenn du das Geburtshaus deiner Mutter gesehen hast, bist du ein vollständiger Mensch.«

Wie so viele spätere Berliner wuchs ich also in der Provinz auf. Jülich liegt im flachen Land nahe der niederländischen Grenze, der größte Arbeitgeber der Stadt war eine Kernforschungsanlage. Beides, das Forschungszentrum und die Grenznähe, strahlte zwar eine gewisse Internationalität aus, dennoch wurde es einem als junger Mensch schnell zu eng dort. Die Hauptattraktion für uns Schüler waren nicht von ungefähr die leicht zu erreichenden holländischen und belgischen Diskotheken, die Kneipen Aachens und der Ratinger Hof in Düsseldorf. Ich war froh, Jülich nach dem Abitur verlassen zu können.

Nach einer langen Rucksackreise in Griechenland musste ich im Oktober 1979 den Grundwehrdienst antreten. Ich hatte den Kriegsdienst nicht verweigert, zunächst in der Hoffnung, ausgemustert zu werden, dann aufgrund der etwas unreifen Idee, für mich als angehenden linken Umstürzler könnte es vielleicht nützlich sein, den Gebrauch der Waffe zu erlernen. Und überhaupt: Die können mir gar nichts! Mit zu langen Haaren und Anti-Atomkraft-Aufklebern fuhr ich zu meiner Einheit und lernte dort in den nächsten zwei Monaten viel über hierarchische und autoritäre Apparate. Dabei behandelten mich die Unteroffiziere eigentlich vernünftig – selbst...

Blick ins Buch

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