Im folgenden Kapitel wird auf das vor Wirtschaftsgerichten anwendbare materielle Recht eingegangen und somit die rechtlichen Bestimmungen für ausländische Investoren auf dem russischen Markt aufgezeigt. Hierbei werden häufig Vergleiche mit deutschem Recht angestellt, um dem Leser eine bessere Vorstellung über die rechtlichen Rahmenbedingungen in Russland zu gewährleisten.
Bei den Kodifikationsarbeiten für das russische Zivilrecht waren zahlreiche ausländische – hauptsächlich niederländische und deutsche – Experten eingebunden.[57] Dadurch ist das russische Zivilgesetzbuch in hohem Maße von westlichem Rechtsdenken sowie von internationalem Recht (etwa dem UN-Recht) geprägt.[58] Die vier Bücher des ZGB sind stufenweise zwischen 1994 und 2008[59] in Kraft getreten und lassen sich – nach kontinentaleuropäischem Vorbild[60] – in einzelne Abschnitte gliedern:[61]
I. Allgemeine Bestimmungen
II. Eigentum und andere dingliche Rechte
III. Allgemeines Schuldrecht
IV. Besonderes Schuldrecht
V. Erbrecht
VI. Internationales Privatrecht
VII. Immaterialgüterrecht
Im Folgenden wird auf die einzelnen Besonderheiten des russischen Zivilrechtes eingegangen, die für Direktinvestoren von Bedeutung sind.
Der erste Teil des russischen Zivilgesetzbuches[62] enthält den Allgemeinen Teil, der viele Ähnlichkeiten zum deutschen BGB-AT aufweist, sich aber im Detail häufig unterscheidet. So enthält beispielsweise das ZGB Vorschriften über bürgerrechtliche Gesetzgebung sowie verfassungsrechtliche Bezugnahmen, die im deutschen BGB als selbstverständlich gelten.[63] So ist zum Beispiel im Art. 1 Abs. 1 ZGB u. a. die Unzulässigkeit der willkürlichen Einmischung in bürgerrechtliche Beziehungen von außen (durch Privatpersonen oder den Staat) geregelt. Auch der Art. 1 Abs. 2 ZGB geht auf die Abschlussfreiheit und Inhaltsfreiheit von Verträgen (konkretisiert in Art. 421 ZGB) ein. Der Allgemeine Teil des ZGB geht, im Zeichen der Abkehr von sowjetischen Wertvorstellungen[64], auf Rechtsgebiete ein, die im deutschen Recht in der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG verankert sind.
Die Rechtssubjekte sind im russischen Zivilgesetzbuch wesentlich ausführlicher geregelt als im deutschen BGB. So wurde zum Beispiel neben der Geschäftsfähigkeit auch die Vormundschaft im Allgemeinen Teil des ZGB normiert.[65] Im deutschen Recht wurde die Vormundschaft im Familienrecht reguliert.[66] Im Gegensatz zum deutschen Recht unterteilt das ZGB die Geschäftsfähigkeit in vier Altersstufen.[67] Minderjährige bis zum sechsten Lebensjahr sind nicht in der Lage Rechtsgeschäfte zu tätigen und müssen durch ihren gesetzlichen Vertreter bzw. Vormund vertreten werden.[68] Russische Minderjährige zwischen 6 und 14 Jahren können grundsätzlich auch keine Rechtsgeschäfte abschließen, gemäß § 28 Abs. 1 ZGB. Ausgenommen davon sind jedoch Rechtsgeschäfte, die der Minderjährige mit Mitteln getätigt hat, die ihm von seinem gesetzlichen Vertreter[69] zur freien Verfügung überlassen worden sind und aus denen der Minderjährige einen unentgeltlichen Vorteil erlangt.[70] Ein Minderjähriger im Alter zwischen 14 und 18 Jahren kann in Russland nur Rechtsgeschäfte abschließen mit der schriftlich erklärten Einwilligung oder Genehmigung ihres gesetzlichen Vertreters.[71] Ansonsten gelten für sie dieselben Regeln wie für die 6 bis 14-Jährigen.[72] Die Fähigkeit Geschäfte einzugehen beginnt ähnlich wie im BGB[73] erst mit der Vollendung des 18. Lebensjahres.[74]
Rechtsgeschäfte können gemäß dem russischen ZGB mündlich und in einfacher oder notarieller Schriftform geschlossen werden (Art. 158 Abs. 1 ZGB). Vergleichbar mit §§ 126a und 126b BGB sind die elektronische Form und die Textform in Art. 160 Abs. 2 ZGB geregelt. Wenn keine zwingend einzuhaltende gesetzliche Formvorschriften oder vertragliche Formabreden existieren, herrscht Formfreiheit.[75] Der Grundsatz der Formfreiheit wird jedoch durch bestimmte Regelungen eingeschränkt. In § 160 Abs. 1 ZGB ist ausdrücklich vorgeschrieben, dass Verträge zwischen juristischen Personen[76] grundsätzlich in einfacher Schriftform abzuschließen sind. Ferner sind Verträge, deren Betrag das Zehnfache des gesetzlich festgelegten Mindestmonatslohns[77] übersteigt, schriftlich zu schließen, gemäß Art. 161 Abs. 2 ZGB.[78] Die Nichteinhaltung dieser Formvorschrift hat zur Folge, dass im Falle eines Rechtsstreites die Parteien das Recht verlieren, zum Beweis von Abschluss und Inhalt des Rechtsgeschäfts den Zeugenbeweis anzutreten (§ 162 Abs. 1 ZGB). Schriftliche und andere Beweismittel dürfen beigebracht werden. Obwohl diese Vorschrift im ZGB geregelt ist, handelt es sich um eine prozessrechtliche Vorschrift.[79] In gesetzlich ausdrücklich vorgesehenen Fällen[80] oder bei Parteivereinbarungen führt die Nichteinhaltung der einfachen Schriftform zur Nichtigkeit[81] des Rechtsgeschäftes, gemäß § 162 Abs. 2 ZGB. Wie auch das deutsche Recht in den §§ 119, 123 BGB unterscheidet das russische ZGB zwischen der Anfechtbarkeit wegen Irrtums gemäß Art. 178 ZGB und der Anfechtung wegen Gewalt, Drohung oder Ausnutzung einer Zwangslage.[82] Die Irrtumslagen erinnern ebenfalls stark an das deutsche Recht.[83]
Für das Bestehen oder Nichtbestehen eines Vertrages sind im russischen wie im deutschen Recht häufig nicht die Normen aus dem Kaufrecht verantwortlich, sondern die aus dem ersten Teil des Zivilgesetzbuches.[84] Für den Abschluss von Verträgen sieht das ZGB grundsätzlich drei Fallkonstellationen vor. Die erste Konstellation regelt, dass der Vertragsabschluss durch Einigung über die wesentlichen Vertragsbestandteile durch Angebot und Annahme erfolgt.[85] In Bezug auf die essentialia negotii eines Vertrages gibt es jedoch Unterschiede zwischen deutschem und russischem Recht. So gehört beispielsweise die Mengenbestimmung im deutschen Recht im Gegensatz zu russischen Recht nicht zu den wesentlichen Bestandteilen des Kaufvertrages.[86] Ferner zählt der Preis nach dem ZGB nicht zu den wesentlichen Bedingungen eines Vertrages.[87] Das weitverbreitete Institut der invitatio ad offerendum existiert auch in der russischen Rechtsordnung. Die in Art. 437 Abs. 1 ZGB verankerte Aufforderung zur Abgabe eines Angebots an einen unbestimmten Personenkreis[88] ähnelt sehr stark der Regelung im deutschen Recht, nach welcher Verlautbarungen an die Allgemeinheit aufgrund fehlender Geschäftswillens nur eine Aufforderung zur Offerte darstellen[89]. Sowohl gemäß der deutschen sowie der russischen Rechtsordnung können Angebot und Annahme nur bis zum Moment des Zugangs widerrufen werden.[90] Danach, soweit nichts anderes bestimmt, ist ein Angebot unter Abwesenden innerhalb der festgelegten, ansonsten innerhalb der normalerweise für eine Annahme erforderlichen Zeit bindend.[91] Als Moment des Vertragsschlusses gilt gemäß Art. 433 Abs. 1 ZGB der Zugang der Annahme beim Anbietenden.[92]
Bei der zweiten Konstellation kommt der Vertrag ausnahmsweise nicht durch die Willenserklärungen, sondern durch einen Realakt, also eine tatsächliche Handlung zustande. Jedoch muss der zivilrechtliche Realakt die Voraussetzungen einer Willenserklärung erfüllen.[93] Ähnlich wie im deutschen Recht findet sich im Kaufrecht ein solcher Vertragsschluss explizit nicht. Zu den sogenannten Realverträgen werden in erster Linie der Darlehensvertrag (Art. 807 ZGB und § 488 BGB) und der Verwahrungsvertrag (Art. 907 ZGB und § 688 BGB) gezählt, die im Zeitpunkt der Übergabe des als Darlehen gewährten Geldes oder der zur Verwahrung übergebenen Sache wirksam werden.[94] Dabei ist zu beachten, dass nicht nur die tatsächliche Übergabe an den Vertragspartner zum Vertragsschluss führt, sondern auch die Übergabe des Vermögensgegenstandes an eine Transportgesellschaft zur Lieferung der Ware an den Empfänger. Es ist gleichzusetzen mit der Ausgabe eines Konnossements oder eines anderen Transportdokumentes, das ähnliche Rechtskraft besitzt.[95]
Die dritte Konstellation beschäftigt sich mit Fällen, in denen eine staatliche Registrierung die Voraussetzung für die Wirksamkeit des Vertrags ist. Somit werden Verträge, die einer staatlichen Registrierung bedürfen, erst mit dieser wirksam.[96] Das betrifft insbesondere Verträge, die Rechte an Immobilien zum Gegenstand...