3. Theoretischer Rahmen
Die Geschichte der älteren Totalitarismusforschung und -theorie bot den Kontext für die Entstehung des Extremismusbegriffs. Die deutschen Verhältnisse der Nachkriegszeit begünstigten die Entwicklung einer theoretischen Basis, die allerdings häufig hinsichtlich deren Möglichkeiten und Risiken analysiert werden sollte.1 Bei dem extremismustheoretischen Ansatz handelt es sich um ein deutsches Spezifikum, das im Anschluss an die Entstehungsgeschichte vorgestellt werden soll.2 Die in den letzten Jahrzehnten seit dem Aufkommen der extremismustheoretischen Ansatzes kontrovers geführte Debatte hinsichtlich dessen akademischen Potenzials wird im Anschluss daran dargelegt.3 Darauf folgt eine Analyse der Ergebnisse.
3.1 Genese des Extremismusbegriffs
In der Extremismustheorie und -forschung der Nachkriegszeit kam dem US-Amerikaner Seymour M. Lipset eine zentrale internationale Rolle zu.4 Die Werke Lipsets verankerten Extremismus in der wissenschaftlichen Terminologie. Während Lipsets soziologischer Ansatz ungleich bekannter ist, bildete die gemeinsam mit Earl Raab aufgestellte politikwissenschaftliche Definition die Grundlage für die deutsche Extremismusforschung der letzten Jahrzehnte.5
Im Folgenden steht die Extremismustheorie Backesʼ et al. im Mittelpunkt. Prinzipiell machen diese Extremismustheoretiker Demokratie und Verfassungsstaat als gemeinsame Feindbilder politischer Extremisten aus. Beim Extremismuskonzept als analytischem Ansatz handelt es sich speziell in Deutschland um ein sozialwissenschaftliches Standardinstrument.6 Aus diesem Grund bleibt der Extremismusbegriff eng mit seinen Ursprüngen als ablehnender Haltung gegenüber der freiheitlich demokratischen Grundordnung (fdGO) im deutschen Verfassungsschutz verknüpft.7
Laut Jesse gestaltet sich politischer Extremismus demnach folgendermaßen: „Unter Extremismus sind jene Bestrebungen zu verstehen, die den demokratischen Verfassungsstaat mit seinen Prinzipien der Volkssouveränität und des Pluralismus ablehnen.“8 Lipset und Raab beschreiben den Extremismus zwar mit weniger allgemeinen Kategorien wie Jesse, Backes et al., die vom demokratischen Verfassungsstaat als dessen Feindbild sprechen. Lipset und Raabs Definition des Kerns von Extremismus läuft jedoch auf erhebliche Schnittmengen mit Backes et al. hinaus: „[E]xtremism basically describes that impulse which is inimical to a system of many nonsubmissive centers of power and areas of privacy. Extremism is antipularalism or – to use an only slighlty less awkward term – monism.“9 Extremismus versteht sich ergo als verfassungs- und demokratiefeindlich, weil er ein totalitäres System anstrebt.10
Mudde fasst den Terminus „extreme Rechte“ als „Sammelbegriff für Rechtsradikalismus und Rechtsextremismus“ auf. Mudde geht von konkurrierenden Auffassungen und Definitionen von Rechtsextremismus aus. Diese unterschiedlichen Definitionen betreffen auch Parteien.11 Die Menge unterschiedlicher theoretischer Herangehensweisen in der Rechtsextremismusforschung nimmt weiter zu. Um die Vielzahl unterschiedlicher Merkmale in den Kategoriensystemen verschiedener Theoretiker zu verdeutlichen, verweist Mudde auf eine von ihm selbst durchgeführte Stichprobe. Diese Überprüfung ergibt lediglich eine Übereinstimmung in fünf Kategorien in mehr als der Hälfte von 26 Rechtsextremismusdefinitionen.12
3.2 Der extremismustheoretische Ansatz
Das Streben nach Totalitarismus in demokratischen Verfassungsstaaten bedeutet Extremismus in der Definition des extremismustheoretischen Ansatzes.13 Ähnliche Begriffsauffassungen von Extremismus finden sich nicht nur bei Eckhard Jesse, Uwe Backes und Armin Pfahl-Traughber. Diese drei Politikwissenschaftler zählen zu den wichtigsten Vertretern der extremismustheoretischen Tradition.14 So entwirft Backes eine „normative Rahmentheorie“. Diese Theorie geht im Verständnis der Politikwissenschaft als „Demokratiewissenschaft“ oder „Integrationswissenschaft“ vor. Die Ablehnung allgemeiner Grundrechte und der Demokratie kennzeichnet demzufolge die Extremisten als Anhänger totalitärer Ziele und Ideen.15
Zentral für eine demokratiewissenschaftliche und damit normative Interpretation erweist sich der Pluralismus, weil Politik als fortwährender Konflikt verstanden wird. Dazu gehöre die „Verwendung sowohl empirisch-deskriptiver als auch normativer Methoden“.16 Entsprechend beschreiben Hirscher und Jesse in ihrem einleitenden Kapitel Extremismus in Deutschland in dem gleichnamigen Sammelband Extremismus als „das Gegenstück zum demokratischen Verfassungsstaat“.17 Repräsentativ für den extremismustheoretischen Ansatz stellt Backes die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede politischer Extremismen heraus:
Auch wenn extremistische Akteure fundamentale Werte und Verfahrensregeln demokratischer Verfassungsstaaten (wie insbesondere Menschenrechte, Pluralismus, Gewaltenkontrolle) explizit oder implizit negieren, unterscheiden sie sich gravierend in der Wahl der Mittel bei der Verfolgung ihrer Ziele.8
Das Links-Rechts-Schema versinnbildlicht Backes als Hufeisen, was die Parallelen, aber zugleich auch die Distanz zwischen den Extremismen im politischen Spektrum verdeutlichen soll.19
Abbildung 1: Hufeisen-Schema 20
Entsprechend lautet Jérôme Jamins Beschreibung von Backesʼ Lehre, wie folgt:
[H]e [Backes] therefore thinks that a definition of right-wing extremism should have two components: the first should show in what way the phenomenon is extremist, the second should show in what way the phenomenon is right-wing.21
Wie Jamin konstatiert, zeichne sich die wissenschaftliche Literatur, die sich mit der extremen Rechten beschäftigt, durch Beschreibungen mit zahlreichen Adjektiven aus, welche das Präfix „anti“ davorgestellt hätten oder in ihrer Aussage gegen Werte gerichtet seien.22 Somit lassen sich unterschiedliche Schwerpunkte in der Festlegung und Interpretation des demokratischen Verfassungsstaats schon bei ähnlichen theoretischen Ansätzen desselben Autors feststellen.23
Bei Uwe Backesʼ Monographie Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten handelt es sich um den umfangreichsten Entwurf einer Extremismustheorie, wie sie in der deutschen Tradition Jesses et al. verstanden wird.24 Dieses Werk diskutiert zwei Entwürfe zur Erfassung und Beschreibung von politischem Extremismus. Die erste davon angeführte Definition versteht sich ex negativo, während es sich bei der zweiten um eine definitio ex positivo handelt.25
Die Negativdefinition besteht aus der Ablehnung von Demokratie und Verfassungsstaat. Backes bestimmt in seiner Rahmentheorie Minimalvoraussetzungen des demokratischen Verfassungsstaats. Das Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit und Verschiedenheit, die Prinzipien der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit, Toleranz und Offenheit sowie Werte, Verfahrensregeln und Institutionen kennzeichnen den demokratischen Verfassungsstaat. 26
Neben der Negativdefintion stellt Backes im Rahmen der Positivdefinition Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen links- und rechtsextremistischen Doktrinen fest, wie er die geschlossenen extremistischen Ideologien nennt. Backes arbeitet sechs Merkmale extremistischer Doktrinen heraus. Politische Doktrinen sind für Andreas von Weiss per definitionem als kollektive ideologische Gebilde mit höherem Systematisierungs-/ Rationalisierungsanspruch als Ideologien einzuordnen.27 Damit entsprechen sie den Vorstellungen Carl J. Friedrichs und Hannah Arendts von totalitären Ideologien von ihrer Funktionsweise und ihren Grundmerkmalen her. Somit ist Backesʼ Extremismuskonzept von den Totalitarismustheorien inspiriert.28 Bei diesen sechs Eigenschaften handelt es sich um offensive und defensive Absolutheitsansprüche, Dogmatismus, Utopismus und kategorischer Utopieverzicht, Freund-Feind-Stereotype, Verschwörungstheorien sowie Fanatismus und Aktivismus.29
Daraus folgt, dass die Totalitarismusnähe des Extremismus sowohl in der Positiv- als auch in der Negativdefinition besteht. Für eine umfassende Bestimmung von Extremismus bedarf es also einer Kombination beider Definitionen.
Alle diese Merkmale des Rechtsextremismus kennzeichnet ein Antiegalitarimus, der sich in der Verneinung der Gleichwertigkeit der Menschen niederschlägt. Diese Betonung der Ungleichheit unterscheidet den Rechts- vom Linksextremismus, welcher den Gleichheitsgrundsatz unverhältnismäßig stark zulasten der Freiheiten des demokratischen Verfassungsstaats herausstellt. 30
Backes zufolge handelt es sich bei den „wichtigsten intellektuellen Nährströmen“ des Rechtsextremismus um Ultranationalismus und Rassismus.31 Nationalismus wird als integral im Zusammenhang mit Rechtsextremismus definiert. Darunter wird die Forderung und Betonung einer Kultur-, Werte- und Rassegemeinschaft verstanden, die die Nation an die Stelle des Demos rückt und Einheit suggeriert. Diese Bindewirkung besteht in einer Ideologie, die auf kulturellen Gemeinsamkeiten, geteilten Werten sowie einer rassistischen und...