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E-Book

Rechtsgeschichten

Über Gerechtigkeit in der Literatur

AutorRichard Weisberg
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl291 Seiten
ISBN9783518732717
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR


<p>Richard Weisberg ist Walter Floersheimer Professor an der Cardozo School of Law in New York.</p>

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Leseprobe

17Einführung


Mehrere Monate nachdem die französische Polizei 1943 zehntausende Juden zur Deportation nach dem Osten zusammengetrieben hatte, veröffentlichte ein Pariser Anwalt namens Joseph Haennig eine akademische Abhandlung über die Definition des Juden (Auszüge siehe Anhang, S. 269). Anhand mehrerer wohlwollend zitierter Gerichtsentscheidungen der Nazis legte Haennig eine geschickte Argumentation dafür vor, dass die Beweislast für das Judesein im zweifelhaften Fall einer Person mit nur zwei jüdischen Großeltern beim Staat verbleiben sollte. Manche französische Gerichte unter Vichy hatten die Deutschen durch ihre entschlossene Anwendung der Rassengesetze bereits übertroffen. Haennig setzte seine anwaltlichen Talente dafür ein, nicht die Existenz derartiger Gesetze anzugreifen, sondern für ihre »humane« Interpretation zu plädieren.

Joseph Haennig war alles andere als ein Schurke. Er war einer von den vielen Anwälten, die in aller Nüchternheit über die schicksalhaften Rechtsfragen einer Definition von Rasse diskutierten. Zu einem früheren Zeitpunkt der Besetzung Frankreichs hatte er einen Juden verteidigt, dem wegen eines »politischen« Verbrechens Haft und Tod drohten. Jetzt hoffte er, die Last von »Personen mit Mischlingsblut« zu erleichtern, die versuchten, den rechtlichen Status von Juden zu vermeiden. Doch wirft Haennigs Verhalten, wenn man es paradigmatisch versteht, erschreckende Fragen auf, deren Lösung potenziell noch katastrophaler wäre als die der von den Anführern von Unterdrückung und Rassismus in Europa gestellten. Denn in Joseph Haennigs Vermeidung zentraler Realitäten, in seiner Bereitschaft, Sprache im Dienst eines rechtlichen Überbaus zu schaffen, von dem er wusste, dass dieser soeben Tausende von Franzosen in Lager gefegt hatte, legte er dasselbe fatale ausweichende Verhalten an den Tag, durch das sich die breitere Kultur und deren Institutionen auszeichneten. Gute und schlechte Menschen hatten das Unakzeptable akzeptiert. Wörter, die einst schrill und propagandistisch klangen, förderten das monströse Vorhaben ohne großes Aufheben, indem sie es diskutierbar machten. War die grundlegende Prämisse des Rassismus erst einmal stillschweigend akzeptiert, konnte die Kasuistik juristischer Rhetorik so einfach angewendet 18werden, als handele es sich um einen Grundstücksvertrag oder einen Autounfall.

Ungefähr hundert Jahre früher hatten auch amerikanische Juristen und Gesetzgeber versäumt, eine verrottete, rassistische Struktur direkt anzugehen. Doch kennzeichnete sich das Haennig-Syndrom durch den merkwürdigen Aspekt, eine derartige Struktur ohne jeden offensichtlichen historischen oder wirtschaftlichen Grund bereitwillig zu akzeptieren. Frankreich weidete sich an den rassischen Möglichkeiten, die ihnen der fremde Eroberer ins Land gebracht hatte. Durch die Reaktion der französischen Kultur unter deutscher Besetzung schälte sich die Angelegenheit als paneuropäisches Dilemma heraus; der westliche Egalitarismus und der Liberalismus begrüßten die Ächtung von Rassen und letztendlich den Genozid mit mehr Enthusiasmus, als dies in den anscheinend neobarbarischen und tief romantischen germanischen Staaten der Fall war. Die Implikationen für die gesamte westliche Kultur einschließlich Amerika ließen sich nicht leugnen.

Auch in der literarischen Gemeinde Frankreichs führte die Anwesenheit des Hunnen zur Freisetzung vieler Bände veröffentlichter und ausgesprochener Worte. Und auch in diesem Fall wurden die virulenten Antisemiten wie Céline und Brasillach nach dem Ende des Wahnsinns nie als Repräsentanten französischer Kultur betrachtet. Aber die alltägliche Kollaboration weniger auffälliger Autoren und Verleger, die vom Schauspiel der Razzien des Jahres 1942 oder der Ächtung nicht arischer Künstler weitgehend ungestört blieben, führte zu Unklarheiten, die noch mehr Rätsel aufgaben als die Texte, die daraus entstanden. Simone de Beauvoir, deren Karriere florierte, hatte ein – nach ihren Worten politisch neutrales – beliebtes Programm im Vichy-Rundfunk. Der Terror in den Straßen ließ diejenigen ungerührt, die das Glück hatten, den umjubelten Pariser Premieren von Sartres Les Mouches und Huis clos beizuwohnen.

Recht und Literatur, die wichtigsten Stützen einer modernen, genormten europäischen Sprache, verbogen sich und brachen schließlich unter den Stiefeln der Faschisten. Zu Fragen, die von der europäischen Kultur früher als exzentrisch und widerlich befunden worden wären, ergoss sich ein endloser Strom ernsthafter Diskussionen. Viele Karrieren von Juristen und Künstlern gingen unverändert weiter; nicht wenige blühten auf.

19Was Friedrich Nietzsche vorhergesehen hatte, ein Europa, das von Menschen voller gewaltsamer Ressentiments bevölkert wurde und zum Tode krank war, kam in Sicht- und Hörweite, und das mit der Unterstützung von Männern und Frauen mit außerordentlichen sprachlichen Talenten. Ihre passive oder aktive Beteiligung hat für die kommenden Generationen nichts weniger als die Sprachen und Organisationsstrukturen ihrer diversen Betätigungsfelder in Misskredit gebracht. Haennigs Aufsatz, der in der Gazette du Palais, der traditionellen Zeitschrift für französisches Recht, veröffentlicht worden war, macht die Alltagsrhetorik seines Berufsstands problematisch. Und Sartres Nachkriegsphilosophie (wie Heideggers vor dem Krieg erschienenes Werk Sein und Zeit) scheint den Makel seiner komfortablen Karriere während der Besatzungszeit zu tragen.

Die Problematik europäischer Werte – ihr Umkippen im Holocaust und die Suche nach Ersatz – reicht weit über Einzelpersonen und sogar die speziellen Institutionen hinaus. Dostojewski stellte sich diese Fragen wie sein Bewunderer Nietzsche schon zwei Generationen vor dem Fall. Auch er erkannte – freilich aus der Perspektive einer Kultur, die noch hoffte, ihre eigenen, nicht westlichen Werte zu finden –, dass sich das Christentum in großer Bedrängnis befand. Vermittelt durch seine intellektuellen und juristischen Figuren sagte Dostojewski die brutale Kraft fehlgeleiteter Wörter, die Grausamkeit der Sprache und der Formen voraus, die von geistig-seelisch hohlen Individuen geschaffen würden.

Und in der Tat zeigt sich in der modernen Literatur verschiedener nationaler Kulturen der Jahre vor und während des Zweiten Weltkriegs in den Schriften von ansonsten recht unterschiedlichen Autoren ein sehr stark selbstkritisches Interesse an verbaler Falsifizierung. Protagonisten mit ansonsten makellosen intellektuellen Referenzen bemühen sich, die Realität mit narrativem Sinn zu füllen, doch enden ihre Versuche mit bemerkenswerter Übereinstimmung im Scheitern. Unabhängig von ihren persönlichen Schicksalen in diesen Werken lassen die wortreichen Protagonisten oder ihre in weniger zentralen Figuren heraufbeschworenen Abbilder eine Reihe verwirrender, wenn nicht sogar verlogener verbaler Strukturen hinter sich.

Iwan Karamasow übernimmt wie der Mann aus dem Kellerloch, sein literarischer Vorläufer, eine von allen Formen freie Philosophie 20und legt gleichzeitig eine überwältigende Unfähigkeit an den Tag, sich positiv in die tatsächlichen menschlichen Situationen einzubringen, mit denen er konfrontiert wird. Nikolai Neljudow, Ippolit Kirillowitsch und Fetjukowitsch, die sprachbegabten Juristen in Die Brüder Karamasow, konstruieren eine Theorie zur Ermordung von Fjodor Karamasow, die logisch und künstlerisch bestechend, aber total falsch ist. In ähnlicher Weise führt die Weigerung, wesentliche Informationen zu erfassen, in Der Fremde zur ironischen Verzerrung der Argumentation des Untersuchungsrichters und des Staatsanwalts in der Konfrontation mit der unstrukturierten, nicht kognitiven und sinnlichen Realität Meursaults. Noch unverhohlener warnt uns der Anwalt Jean-Baptiste Clamence, Camus’ dostojewskischster Protagonist, nichts von dem zu glauben, was er sagt. Seine Ausbildung und seine Neigung lassen ihn Sprache und Form zur Täuschung seiner Zuhörer und seiner selbst verwenden. Und Melvilles Kapitän Vere, der als eine Art Staatsanwalt agiert, übernimmt, was er als »Form, Maß und Form« des Rechts ausgibt, und lässt sich zu einer Reihe von juristischen und moralischen Irrtümern hinreißen, die er seinen eingeschüchterten Zuhörern nur aufgrund seiner Redegewandtheit verbergen kann.

Doch fast alle diese Figuren haben Bewunderer bei denen gefunden, die sich mit ihren Dilemmata beschäftigen. Auch der sorgfältigste Leser, der ihre literarischen Sensibilitäten teilt, übersieht manchmal die negative Grundeinstellung dieser Figuren oder hat die Tendenz, sie zu entschuldigen, wenn er sie erkennt. Der Leser kann bei solchen Figuren sogar dasselbe narrative Faible gutheißen, das für ihn die Lektüre selbst attraktiv macht; sicher kann ein redegewandter Sprecher fast immer damit rechnen, mit Sympathie statt mit harscher Kritik aufgenommen zu werden.

Die Fähigkeit zu gutem Sprechen und Schreiben ist beim wortreichen Protagonisten freilich häufig mit einer Tendenz zur Selbstbespiegelung gepaart. Die exzessive Wahrnehmung der Funktionsweise seines eigenen kognitiven Apparats wiederum rührt von einem generalisierten Drang her, alle Phänomene zu überanalysieren, so dass in der Regel die für eine akkurate Erfassung von Handlungen erforderlichen Grenzen überschritten werden. In allen hier behandelten repräsentativen Texten gerät der von mir so genannte »Hang zum Juristischen« des Formulierungskünstlers in Konflikt mit der sich um ihn entwickelnden Realität, und er scheitert daran, 21mit dieser Realität ehrlich umzugehen. Würde es sich lediglich um ein...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Informationen zum Buch / Autor2
Impressum4
Widmung5
Motto6
Inhalt7
Vorwort11
Danksagung16
Einführung17
Teil 1 – Der Konflikt zwischen Ressentiment und Gerechtigkeit27
1 – Das Verschwinden des Gerechten29
Ressentiment in der Kultur des 19..Jahrhunderts29
Ressentiment im Recht37
Ressentiment in der Kunst40
2 – Phänomenologie und Prototyp45
Max Scheler und die Modernität des Ressentiments45
Das formalistische Modell:
51
Teil 2 – Das Scheitern der christlichen narrativen Vision: Dostojewskis juristische Romane71
3 – »Künstlerische Legalität« und die Figur des Untersuchungsrichters73
Eine aus dem Strafgesetzbuch abgeleitete Romanfigur73
Der Untersuchungsrichter in Schuld und Sühne:
77
»Vernünftigkeit« und falsch berechnete Schuld:
86
4 – Dostojewskis gebrochene Struktur99
Der Großinquisitor99
Dostojewski als Iwan: Ressentiment im Roman106
Teil 3 – Das Scheitern der heroischen Sicht im Roman: Die französische Literatur im Belagerungszustand121
5 – Flaubert, der Revisor: Salammbô123
Flauberts Dilemma:
123
Doppelbödige Beziehungen im karthagischen Epos133
Salammbô und Schahabarim143
6 – Juristen und Lügner: L’éducation sentimentale150
Eine Auflösung zeichnet sich ab:
150
Vom Helden zum Juristen: Der Prototyp157
7 – Literarische Legalität im Holocaust: Camus’ Variationen zum Thema des neunzehnten Jahrhunderts164
Geschichte und Einflüsse164
Legalistische Verzerrungen eines nicht ästhetisierten Weltbilds in Der Fremde166
Der Jurist im Roman und faschistische Herrschaft:
178
Teil 4 – Kreative Verwendung von Gesetzen für subjektive Zwecke: Der Fall von Billy Budd187
8 – Narrativer Plot und juristische Dimension189
Eintritt ins Allerheiligste189
Melvilles juristischer Hintergrund190
Plots und Abschweifungen193
Die Prozessszene: Das Dilemma
201
9 – »Bedachtsame« Kommunikation und Veres verborgenes Motiv227
Vere und Nelson227
Das vorletzte Wort: Melville und Homer240
Schlussbemerkung249
»So seid denn Ihr sein Bürge«: Schwur
253
Anhang
269
Nachwort273
Bernhard Schlink Das Bilderbuch des Rechts275
Namenregister290

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