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E-Book

Recycling Brecht

Materialwert, Nachleben, Überleben

VerlagVerlag Theater der Zeit
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl220 Seiten
ISBN9783957491282
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Ende der 1920er Jahre setzt Brecht den Bewahrern des kulturellen Erbes die These vom 'Materialwert' der Kunst entgegen. Er verabschiedet die Vorstellung einer überzeitlichen Dauer der Werke und rät, deren einzelne Teile bedenkenlos 'herauszuhacken' für ihre Wiederverwendung in der Gegenwart. Sein Vorschlag betont den Zeitkern von Kunst und zielt auf eine weitreichende Praxis der Wiederholung, Aneignung und Transformation historischer Artefakte und künstlerischer Praktiken. Diese bisher kaum reflektierte Theorie und Praxis Brechts wird hier rekonstruiert und auf ihn selbst angewendet. Die Beiträge dieses Bandes, Ergebnis einer internationalen Forschungskooperation, gehen der Frage nach dem Materialwert Brechts in seinen eigenen Arbeiten und in seinem Nachleben in Theater und Film unserer Zeit nach. Sie fokussieren Verfahren Brechts, die für die Gegenwart nicht nur von künstlerischer, sondern auch von politischer Bedeutung sind, darunter Praktiken der Historisierung, der transmedialen 'Trennung der Elemente', der opernhaften Intensivierung von 'Zuständen' und des szenischen Reenactments klassischer Werke.

Günther Heeg ist Professor am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig, Vizepräsident der 'International Brecht Society' sowie Direktor des Centre of Competence for Theatre an der Universität Leipzig. Er ist Leiter des DFG-Forschungsprojekts 'Das Theater der Wiederholung' und deutscher Partner einer Forschungskooperation mit der Keio Universität Tokio über 'Tradition und Transkulturalität im deutschen und japanischen Gegenwartstheater' (DAAD/JSPS). Arbeitsschwerpunkte: Verhältnis von Theaterhistorismus und künstlerischer Praxis des Reenactments, kulturelle Flexionen von Zeiten und Räumen, Tradition und Transkulturalität im japanischen und deutschen Gegenwartstheater, Strukturveränderungen im osteuropäischen Theater, Theater als (Inter)Medium, Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Bertolt Brecht, Heiner Müller, Einar Schleef. Ausgewählte Publikationen: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts (Stroemfeld 2000); Theatrographie - Heiner Müllers Theater der Schrift (Hrsg. zus. mit Theo Girshausen; Vorwerk 8 2009); Globalizing areas, kulturelle Flexionen und die Herausforderung der Geisteswissenschaften (Hrsg. zus. mit Markus A. Denzel; Steiner 2011); Reenacting History. Theater & Geschichte (Hrsg. zus. mit Micha Braun, Lars Krüger, Helmut Schäfer; Theater der Zeit 2014); Das transkulturelle Theater (Theater der Zeit 2017).

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Leseprobe

Günther Heeg

RECYCLING BRECHT


Theater exponierter Affekte als Medium einer transkulturellen Gemeinschaft


I. Brechts Wiederkehr


Nachleben


Brecht ist tot. Nicht nur der physische Körper, der am 14. August 1956 gestorben ist, sondern auch die „Idee Brecht“, sein geistig-praktisches Wirken unter wechselnden historischen Umständen. Ihr wird man nur gerecht, wenn man ihr keine überzeitliche Dauer zuspricht, sondern sie als historische begreift: dem Wechsel der Zeitläufe, dem sie entsprungen ist, zugleich ausgeliefert und darin wiederkehrend in veränderter Gestalt. Die Gestalt, in der die „Idee Brecht“ nach Brechts Tod auf uns zukommt, ist die des Nachlebens. Dessen Aggregatzustand ist der des Gespenstes. Das muss uns nicht betrüben. Denn gerade die gespenstische Existenz von Brechts Nach-Leben, als solche erkannt und bewusst ausgestellt, ist in der Lage, die Gegenwart in ein unvertrautes, nicht geheueres Licht zu stellen. Das gespenstische Nachleben Brechts infiziert die Gegenwart mit seiner Zwitterexistenz zwischen Leben und Tod und lässt diese selbst als gespenstisch erfahrbar werden. Ist damit aber das feststehend Wirkliche als ein Bezweifelbares und Unwirkliches in Frage gestellt, schärft sich der Sinn für die Dimension des Möglichen. Darin liegt das Potential an Zukunft, das das Brecht-Gespenst mit sich bringt.

Wie muss man sich das Brecht-Gespenst vorstellen? Substanzlos, gestaltlos, organlos vor allem. Da ist nichts, was sich organisch zur Gestalt eines Zusammenhangs fügte. Der übergeordneten Idee des Epischen Theaters etwa, in die sich alle einzelnen Theoreme und Szenen angeblich einfügen ließen und der das, was nicht passt, herausgeschnitten wird und unter den Tisch fällt. Beginnend mit Ernst Schumachers Drei-Phasen-Theorie der Entwicklung Brechts1 vom anarchischen Nihilisten über den mechanischen Materialisten und Behavioristen hin zum sozialistischen Humanisten hat es immer wieder Anstrengungen gegeben, einen substantiellen Brecht von seinem Beiwerk zu trennen. Dem wirkt das Brecht-Gespenst entgegen. Kernlos, wie es ist, führt es den ganzen Reichtum seiner poetischen Texte und alle Prunkstücke der brechtschen Theorie als einen unsortierten Theaterfundus an Kostümen, Gesten und Masken vor. Es bringt damit eine Uneigentlichkeit und mangelnde Ernsthaftigkeit (buchstäblich) ins Spiel, die Brecht selbst als geheimen Antrieb seines Schaffens geahnt hat. In diesem Sinn äußert er sich 1934 in einem Gespräch mit Walter Benjamin, von dem dieser berichtet:

Ich denke oft an ein Tribunal, vor dem ich vernommen werden würde. „Wie ist das? Ist es ihnen eigentlich ernst?“ Ich müßte dann anerkennen: ganz ernst ist es mir nicht. Ich denke ja auch zu viel an Artistisches, an das, was dem Theater zugute kommt, als daß es mir ganz ernst sein könnte. Aber wenn ich diese wichtige Frage verneint habe, so werde ich eine noch wichtigere Behauptung anschließen: daß mein Verhalten nämlich erlaubt ist.2

Brecht hält hier für erlaubt, was dem Brecht-Gespenst in unseren Tagen gefällt: Es offenbart seine ganz und gar uneigentliche, nicht substantielle3 Existenz als eine Erscheinung des Theaters. Die Theatererscheinung des Brecht-Gespensts aber ist ein zeitgemäßes Gegengift zum Dogmatismus fundamentalistischer Weltanschauungen wie zu den Doxa der gesellschaftlichen Verhältnisse, der stillschweigenden Hinnahme des Gegebenen als unveränderlich und unverrückbar. Das Theater-Gespenst des toten Brecht lädt die Gegenwart nicht vor ein Tribunal, sondern dazu ein, sich selbst aufs Spiel zu setzen. Es ist gerade das SpielerischArtistische, das Unverantwortliche seiner Textmasken, die keine Botschaft und kein Heil verkünden, die Bedeutungslosigkeit seiner Gesten4 und seine ostentativ vorgestellten szenischen Maskeraden, die alles vermeintlich Eigentliche und Eigene – feste Überzeugungen, sichere Identitäten, konsistente Lebensgeschichten – als uneigentlich und fremd erscheinen lassen. Mit dem Abstand zur Schwerfälligkeit und Unbeholfenheit dieser Welt des Eigentlichen und Eigenen wächst das Verlangen, sich dem Fremden zu nähern, die Angst vor dem Fremden aufs Spiel zu setzen und das vemeintlich Eigentliche und Eigene ins Spiel zu bringen. Das Theater-Spiel, zu dem das Brecht-Gespenst einlädt, ist ein privilegiertes Medium des transkulturellen Umgangs unter Fremden. Damit ist das Brecht-Gespenst auf der Höhe unserer Zeit.

Materialwert


Der Mangel an Ernst, der dem brechtschen Nachleben anhaftet, ruft den Unwillen all derer hervor, die mit dem Dichter Staat, Bildung und Moral machen wollen. Ihnen ist es ernst mit Brecht oder besser: Sie wollen Brecht dem Ernst einer guten und dauerhaften Sache dienstbar machen. Das erfordert, die gespenstische Existenz seines Nach-Lebens und damit seinen Tod zu leugnen und sein ungebrochenes Fortleben in der Gegenwart zu behaupten. Die Vorstellung, die das bewirken soll, ist die des Erbes. Gleich einem Besitz soll Brechts Werk von einer Generation weitergegeben und bewahrt werden – eine ununterbrochene Kette, die sein dauerhaftes Fortleben garantiert. Die Anforderung, die damit an die Träger dieser Kette, die Erben, ergeht, ist der Totenkult.

Der Totenkult (um) Brecht(s) tut dem toten Dichter keinen Gefallen. Er führt zur Versteinerung Brechts als Denkmal seiner selbst. Beispielhaft dafür ist das Brecht-Denkmal von Fritz Cremer vor dem Berliner Ensemble.5 Die getreulich von einem Meisterschüler auf den nächsten, von einer Schauspielergeneration auf die folgende weitergereichten Prinzipien seines Theaters haben ein Mausoleum geschaffen, in dem die Texte Brechts eingeschlossen und vor Gebrauch geschützt sind.

Die Wächter vor den Toren des Mausoleums sind all jene, die Brecht immer noch reduzieren auf das ABC des Epischen Theaters: auf die sogenannten großen Stücke des Exils, Mutter Courage, Leben des Galilei, Der gute Mensch von Sezuan, Der kaukasische Kreidekreis, auf den Vorrang der Fabel und ihre dialektische Bedeutungsstiftung6, auf den sozialen Gestus, auf das sprechende Bild der Szene, auf den demonstrierenden Schauspieler7 und generell auf den Primat der Vernunft gegenüber dem Gefühl, auf die soziale Verantwortung und die politische Intention dieses Theaters.

Um nicht missverstanden zu werden: All das ist auch Brecht, all diese Theoreme und Praktiken können seinen Texten entnommen werden. Aber die Entnahme und anschließende Kanonisierung der herausgenommenen Stellen übersieht das Viele, das Andere, zum Teil innerhalb des Kanonisierten selbst, das dem entschieden widerspricht, das abweicht und nicht aufgeht im Kanon oder ABC des Epischen Theaters. Dazu gehören zum Beispiel die frühen Stücke, Baal, Trommeln in der Nacht, Im Dickicht der Städte u. a., dazu gehören die Lehrstücke und das Fatzer-Fragment, die Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny und nicht zuletzt die Schattendramaturgien8, die in Stücken wie Herr Puntila und sein Knecht Matti und Leben des Galilei die eindeutige Aussage des Epischen Theaters konterkarieren.

Früh schon hat Brecht mit der Vorstellung gebrochen, man könne künstlerische Hervorbringungen einer bestimmten Zeit als kulturelles Erbe dauerhaft in Besitz nehmen. Ende der 1920er Jahre setzt er den Erbebewahrern die These vom „Materialwert“ der Werke entgegen. In einem Rundfunkgespräch mit Herbert Ihering, dem großen Theaterkritiker der Weimarer Republik, das von dessen Buch Reinhardt, Jessner, Piscator, oder Klassikertod?9 ausgeht, stellt Brecht fest:

Der Besitzfimmel hinderte den Vorstoß zum Materialwert der Klassiker, der doch dazu hätte dienen können, die Klassiker noch einmal nutzbar zu machen, der aber immer verhindert wurde, weil man fürchtete, daß durch ihn die Klassiker vernichtet werden sollten10.

Auf dem „Materialwert“ von Kunst zu insistieren, heißt sich verabschieden von der Idee der Geschlossenheit und Ganzheit der Werke. Zu fragen ist stattdessen nach der Brauchbarkeit einzelner künstlerischer Praktiken. Brecht rät, einzelne Teile eines Werks bedenkenlos „herauszuhacken“ aus dem Ganzen.

Das Stück ‚Wallenstein‘ zum Beispiel enthält neben seiner Brauchbarkeit für Museumszwecke auch noch einen gar nicht geringen Materialwert; die historische Handlung ist nicht übel eingeteilt, der Text auf ganze Strecken hinaus, richtig zusammengestrichen und mit anderem Sinn versehen, schließlich verwendbar.11

Was Brecht hier in schnoddrigem Ton vorschlägt, ist eine theoretisch weitreichende Praxis des Recyclings historischer Artefakte und Kulturobjekte. Sie trägt dem prinzipiellen Bruch Rechnung, der uns von jeder Vergangenheit trennt, und pointiert die Verfallszeit der Werke. Denn damit der Materialwert eines Werks sich zeigen kann, muss alles, was man geistige Durchdringung und Beseelung nennt, zuvor abgestorben sein. Wie kaum ein anderer ist Brecht ein Autor, der...

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