2 Hermeneutik und Textanalyse
Unter dem Begriff der Hermeneutik verstehen wir die Theorie und Methode des sinngemäßen Verstehens und Auslegens. Hermeneutik wird angewandt bei der Interpretation von sprachlichen Texten, wie bei nicht sprachlichen Äußerungen und Strukturen (Gesten, Handlungen, Kunst, Musik, Institutionen, historische Verläufe u. a.). Ihre traditionelle Domäne ist jedoch das Verstehen von sprachlich verfassten Texten.
Hermes ist der Götterbote, der antiken Mythologie. Hatten die Götter, meistens Zeus, aber auch Pallas Athene u.a. den Menschen irgendetwas mitzuteilen, so bedienten sie sich dieses göttlichen Mediums. Wenn die antiken Menschen also meinten, etwas von den Ratschlüssen der Götter verstanden zu haben, so führten sie das immer auf eine von Hermes überbrachte Botschaft zurück. Mit Flügeln an Hut und Füßen ist er ständig unterwegs, um die Menschen zu informieren und zu belehren.
Die Geschichte der Hermeneutik beginnt in der Antike und Spätantike mit der Auslegung mythologischer Texte, also orphischen, dann später homerischen Dichtungen, der Schriften des Aristoteles und v. a. der Bibel.
Zunächst konzentrierte man sich streng auf die unmittelbare Bedeutung und Stellung des Wortes, das nicht verändert werden durfte, da es im Falle der Bibel und anderer heiliger Schriften als Gottes Wort galt. Es entstanden zunächst streng grammatisch orientierte Deutungsverfahren, aber bald wurden analytische Methoden entwickelt, die darauf zielten, eine hinter dem vordergründigen Sinn der Wörter verborgene Bedeutung zu erklären.
Der Theologe Friedrich Schleiermacher gilt mit seinem Aufsatz Hermeneutik und Kritik (postum 1838) als Begründer der neueren Hermeneutik. Für ihn war Hermeneutik die Kunst, die Rede eines andern, vornehmlich die schriftliche richtig zu verstehen. Bei ihm findet sich schon die für die Hermeneutik typische Polarität aus Textobjekt und Lesersubjekt, wenn er die sprachlichen Äußerungen sowohl in ihrer textuellen Gesamtheit als auch in Bezug auf das individuelle Denken des Lesers betrachtet sehen will. Textverstehen erscheint bei Schleiermacher als eine Nachkonstruktion der grammatischen wie der psychologischen Komponente eines Textes.
Wilhelm Dilthey entwickelte die hermeneutische Methode H. Schleiermachers weiter und erklärte das hermeneutische Verstehen zur grundlegenden Methode der Geisteswissenschaften. Er begründete die Gegenüberstellung von naturwissenschaftlichem Erklären und geistes-wissenschaftlichem Verstehen. Im Mittelpunkt des geisteswissenschaftlichen Verstehens steht das Kunstwerk, dessen Wirklichkeit und Wahrheit sich in einem Prozess des psychologisch-einfühlenden Nachvollzugs dem Leser, Betrachter, Zuhörer erschließen sollte. Dabei ging die Dilthey’sche Hermeneutik so weit, dass sie von dem Leser etc. ein sich dem Text anverwandelndes Verhalten forderte. Der Leser hatte seine Subjektivität zu überwinden, wenn er in einem kongenialen Nachbilden, Nacherleben den Sinn des Kunstwerks erschließen wollte.
Im Vergleich dazu geht die moderne Hermeneutik (v. a. Gadamer) nicht so weit. Leser-Subjektivität und Text-Objektivität stehen gleichberechtigt nebeneinander und beleuchten sich gegenseitig.
Wie wir aus dem im vorigen Abschnitt Ausgeführten erkennen konnten, ist es ausgeschlossen, dass ein Leser einen Text so lesen kann, wie er von dem Textverfasser geschrieben worden war. Ursache waren die Unbestimmtheitsstellen, die von jedem Leser mit seiner eigenen Subjektivität im Lesevorgang ausgefüllt werden. Der Leser liest also einen Text, der von ihm aus- und umgeformt worden war. In dem Leseprozess waren der Text und der deutende Leser eine Verbindung eingegangen, die wir mit dem deutschen Philosophen Hans-Georg Gadamer als Horizontverschmelzung (In: Warning 119) bezeichnen. Für ihn ist jeder Verstehensprozess – und damit auch der Vorgang des analytischen Textverstehens – ein Prozess in dessen Verlauf unterschiedliche Frage- und Erfahrungshorizonte miteinander verschmelzen. Am Beispiel des Verstehens von Geschichte führt er aus, dass es keinen isoliert von der Gegenwart zu begreifenden Vergangenheitshorizont gibt (und umgekehrt).
Der Horizont der Gegenwart bildet sich also gar nicht ohne die Vergangenheit. Es gibt so wenig einen Gegenwartshorizont für sich, wie es historische Horizonte gibt, die man zu gewinnen hätte. Vielmehr ist Verstehen immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte. (Ebd.)
Nach Gadamer äußert sich dieses Phänomen der Horizontverschmelzung nicht nur in der Problematik der verstehenden Aneignung von Geschichte, sondern auch im Verständnis und der Auslegung von Gesetzen und Texten. Er schreibt:
Nun gingen wir von der Erkenntnis aus, daß auch das in den Geisteswissenschaften geübte Verstehen ein wesenhaft geschichtliches ist, d. h. daß auch dort ein Text nur verstanden wird, wenn er jeweils anders verstanden wird. Das kennzeichnet gerade die Aufgabe einer historischen Hermeneutik, daß sie das Spannungsverhältnis durchreflektiert, das zwischen der Selbigkeit der gemeinsamen Sache und der wechselnden Situation besteht, in der dieselbe verstanden werden soll. (Ebd. 122)
Wenn Gadamer hier davon spricht, dass ein Textanalysierender das Spannungsverhältnis durchreflektieren solle, in dem er zu dem gelesenen Text steht, so meint er nichts anderes, als dass sich der Leser, seine eigenen historischen Erfahrungen und Inhalte klar machen muss, mit denen er die Unbestimmtheitsstellen des Textes beim Lesen ausfüllt. Diese Forderung nach dem Durchreflektieren des eigenen Erlebnishorizontes ist umso wichtiger, als das Ausfüllen der Unbestimmtheitsstellen spontan und meistens unbewusst geschieht. Bleibt dieser Prozess der Horizontverschmelzung dem Leser unklar, so schwebt er dauernd in der doppelten Gefahr, einerseits den Text zu deformieren, andererseits durch den Text manipuliert zu werden.
Wenn – wie Gadamer sagt – „ein Text nur verstanden wird, wenn er jeweils anders verstanden wird“ (ebd. 122), so muss der textanalysierende Leser sich über die Bedingungen, Formen und Inhalte seiner Subjektivität klar werden. Er muss erkennen, was in seinem Textverständnis von ihm, aus seiner subjektiven Lebenserfahrung kommt und was das objektiv gegebene Textschema repräsentiert.
Bei dem Versuch, das Grundmodell der Hermeneutik schematisieren, treffen wir immer wieder auf die für diese Verstehensweise typische Kreis- oder Zirkelstruktur. Der Akt des Verstehens geht von einem subjektiven Vorwissen oder Vorurteil aus, das mit dem Text konfrontiert wird und sich in dem Maße verändert, in dem das Subjekt Teile des Textes erschließt. Dieser Kreis sieht so aus: Das Vorverständnis wirkt auf Teile des Textes und verändert diese, diese Textelemente wirken zurück (Kreis!) und verändern das Vorverständnis. Ein zweiter Kreis entsteht mit dem Dilemma, dass das Ganze nur aus den Teilen und die Teile nur in Bezug auf das Ganze verstanden werden können. Dieser Verstehensprozess läuft über die folgenden Stationen: 1. das unbekannte Ganze, 2. unbekannte Teile, 3. bekannte Teile 4. bekanntes Ganzes. Im Hintergrund dieses Verstehenszirkels steht nun immer der andere Kreisprozess, in dem ein vermeintliches Vorverständnis des Ganzen immer wieder von den neu entstehenden Textkenntnissen verändert wird. Darum wird dieses Grundschema der Hermeneutik auch als hermeneutischer Zirkel beschrieben.
Die grundlegende Aufgabe einer hermeneutischen Analyse besteht immer darin zu unterscheiden, welche Verstehenselemente aus der Objektivität des Textes bezogen sind und welche in der Subjektivität des Lesers wurzeln.
Noch einmal: Was ist ein Text? Im Jahre 1981 formulierten die Textlinguisten Dressler und Beaugrande sieben Kriterien, mit denen sie meinten, die Grenze zwischen Texten und etwas, das wir hier zunächst Nicht-Text nennen wollen, bestimmen zu können. Diese Kriterien waren:
1. Kohäsion: Damit wird die Oberflächenstruktur eines Textes bezeichnet. Im Falle eines sprachlichen Textes wäre das u. a. seine Syntax.
2. Kohärenz: Damit wird der innere logische Zusammenhang eines Textes beurteilt.
3. Intentionalität: Damit wird etwas über seinen Funktions- bzw. Wirkungsauftrag ausgesagt.
4. Akzeptabilität: Dieser Begriff bezeichnet das Maß der Integration in das soziale, kulturelle und politische Umfeld des Textes.
5. Informativität: Damit werden die Erwartungen benannt, die an diesen Text seitens der Textverarbeitenden gestellt werden.
6. Situationalität: Das ist die zeitgemäße bzw. zeitabhängige Art eines Textes.
7. Intertextualität: Hier werden die historischen und globalen Beziehungen und Verflechtungen eines Textes mit anderen festgestellt.
In der Arbeit mit diesen Kriterien arbeitet, bemerkt man relativ schnell zweierlei: 1. Sie geben tatsächlich einen guten Einblick, nicht nur in...