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Reporterstreifzüge

Die ersten modernen Reportagen aus Berlin

AutorHugo von Kupffer
VerlagLilienfeld Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783940357755
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Hingehen, hinsehen, nachfragen und die Fakten berichten: Hugo von Kupffer war der erste echte Reporter Deutschlands, der Prototyp des modernen Journalisten. In ihrer klaren, unabhängigen Art sind seine erfolgreichen Reportagen noch heute spannende Blicke in die menschliche Vielfalt der Großstadt. Hugo von Kupffers Berichte, die ab 1886 im 'Berliner Lokal-Anzeiger' erschienen sind, waren völlig neuen Typs: persönlich recherchiert, faktenbasiert, vorurteilslos und nah am Wunsch der Lesenden nach Hintergrundwissen über ihre unmittelbare Umgebung. Nach dem Vorbild der amerikanischen Presse, die er aus eigener Erfahrung sehr gut kannte, machte von Kupffer sich auf den Weg durch die Stadt, beobachtete, führte Interviews und schrieb ohne Sensationslust, sondern vielmehr mit menschlichem Verständnis über die gefundenen Tatsachen: die Arbeitswelt der Kellner, vor Gericht gebrachte Prostituierte, Besuche beim Scharfrichter, die letzten Minuten eines zum Tode Verurteilten oder auch die humoristische Seltsamkeit mancher Berliner Schilder - die Themen sind vielfältig, und was Hugo von Kupffer berichtet, das berührt, trifft oder amüsiert immer noch und führt mit einem großen Reichtum an Informationen ganz dicht an eine scheinbar ferne Zeit heran.

Hugo von Kupffer wurde 1853 als Sohn eines baltendeutschen Wissenschaftlers in Sankt Petersburg geboren. Er arbeitete bei der Küstenvermessung in Florida, bevor er von 1875 bis 1878 nach New York ging, wo er in verschiedenen großen Nachrichtenagenturen und dann vor allem beim 'New York Herald', dem damals bedeutendsten und innovativsten Blatt der USA, Handwerk und Selbstverständnis eines modernen Journalismus erlebte und lernte. Nach Versuchen als Schriftsteller und Journalist in Deutschland führte er ab 1883 gemeinsam mit dem Verleger August Scherl den neu gegründeten 'Berliner Lokal-Anzeiger' zu größtem Erfolg, indem neue amerikanische Pressestandards auf die boomende Hauptstadt Berlin angewendet wurden. Von Kupffer blieb 45 Jahre lang Chefredakteur des Massenblattes, war außerdem sozial engagiert und als Freimaurer aktiv. Zuletzt wurde er in den zwanziger Jahren auch Chefredakteur der Familienzeitschrift 'Allgemeiner Wegweiser' und verschaffte ihr neuen Aufwind. Hugo von Kupffer starb 1928.

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Leseprobe

Zahl’n – Zahl’n – Zahl’n!


Unzähligemale unterbrach mich dieser Ruf während der beschwerlichen Aufgabe, den Zahlkellner eines der in Berlin jetzt zu so hoher Blüte gelangtenW i e n e rN a c h t-C a f é szu »interviewen«.

»Nacht-Café« sage ich absichtlich und verstehe darunter diejenigen Lokale, in denen sich das Berliner Nachtleben in seiner ganzen Eigenart konzentriert. Am Tage sehen diese Cafés verhältnismäßig öde aus, und bis in die frühen Vormittagsstunden hinein riecht es in manchen von ihnen noch nach den feuchten Schrubbern, die – lange nach Sonnenaufgang – späte, übernächtige Gäste verscheucht haben. Mit Ausnahme von drei oder vier Cafés, zu denen man etwa das Café Bauer, das Café im Hotel Alexanderplatz, Café Kaiserhof u. a. rechnen kann, sind diese Nacht-Cafés Sammelpunkt einer merkwürdig gemischten Gesellschaft: Offiziere in Zivil, Zeitungswüteriche, fesche »junge Leute« mit vollen Taschen und bierdunstgefüllten Köpfen, die »Schwarze« trinken, neugierige Fremde, stark angeduselte Nachtbummler, Bauernfänger, Zuhälter und Dirnen verschiedener Klassen in entzückenden Kostümen oder in verblichenen Stoffkleidern – je nach dem Range des Lokales, Anstand und Sittenlosigkeit, Reichtum und Elend, Vornehmheit und Brutalität in buntem Durcheinander. Gemeinschaftliche Merkmale sind: Marmortische, Sammetsofas, höfliche Kellner und Zahlkellner mit beneidenswert hübschen Schnurrbärten.

»Zahl’n, zahl’n! – Bitt’ schön zahl’n, Herr! – Eine Melange Herr, danke. – Danke seeehr, Herr.«

»Das gefällt Ihnen wohl so«, erlaubte ich mir, den stattlichen Zahlkellner zu fragen, nachdem ich ihn wieder einmal in meine Nähe gelockt hatte.

»Ich danke, – o ja, das Geschäft ist nicht schlecht.«

»Was sagt man in Ihren Kreisen zu den Klagen des Berliner Publikums über das Institut der Wiener Zahlkellner? Es ist doch eigentlich ein unangenehmes Gefühl für den Gast, jemand für die Dienste eines andern mit einem Trinkgeld zu belohnen!«

»Das Publikum kommt ganz gut dabei weg. Wir Zahlkellner geben jedem Kellner eine bestimmte Abgabe täglich. Gewöhnlich 1 Mark. Die Leute haben außerdem ihr festes Gehalt vom Wirt. Somit ist das Publikum keineswegs in der Abhängigkeit vom bedienenden Kellner, wie in einem Berliner Restaurant. Die Kellner erwarten nichts von dem Gast und sind gegen jeden gleich höflich und zuvorkommend. Bei uns kann es Ihnen nicht passieren, daß der Kellner dem bestellenden Gast zuruft:H i e ri s tn i c h tm e i nR e v i e r!und ihm die Rückseite seines Fracks zeigt. – – Schani, Paletot!« Letzteres mit einem bezeichnenden Blick auf einen sich zum Aufbruche rüstenden Herrn und einen in der Nähe stehenden Kellner.

Ich konnte dem Mann nicht unrecht geben. Höflichkeit, ja eine gewisse Gentlemen-Galanterie, die sich in recht charakteristischer Weise selbst den schnippischen Demimonde-Damen gegenüber zeigt, ist eine hervorragende Tugend des Wiener-Café-Kellners, die ihn von seinem Berliner Kollegen vorteilhaft unterscheidet.

In einem Café, das innerhalb seines etwa anderthalbjährigen Bestehens sich in geradezu bewundernswerter Weise von den bekannten unsaubern Elementen beiderlei Geschlechts freigehalten hat, sagte man mir auf Befragen, daß dies keineswegs leicht sei, und daß die Inhaber ganz unglaubliche Energie und Aufmerksamkeit anwenden müssen, um das durchzusetzen. Es erfordert Opfer und ist nicht selten eine Existenzfrage für die Lokale.

»Kommen diese Mädchen denn immer allein, und können sie etwas ›draufgehen‹ lassen?«

»Bisher durften die Damen der Halbwelt die Wiener Cafés nur in Herrenbegleitung besuchen. Das führte zu einer übermäßigen Anfüllung unserer Lokale mit ›Bärenführern‹ und Zuhältern, deren Anblick das anständige Publikum weit mehr geniert, als der dieser Damen. Diese Leute führten gegen ein kleines Geldgeschenk die Mädchen ins Café und ließen sich von letzteren ihre Zeche bezahlen. Neuerdings gestattet die Polizei den Prostituierten den Eintritt ohne Männerbegleitung, und diese Bärenführer sind dadurch ›kalt gestellt‹. Draufgehn lassen? Je nun, schauen’s. Die Damen warten eben, bis sich ein Herr zu ihnen setzt, der muß bluten. Dann trinken sie kein Bier, sondern Eispunsch, Limonade und dgl. Natürlich muß der Herr auch das bezahlen, was die Dame vorher verzehrt hat. O, die verstehn’s! Ich will Ihnen sagen, lieber Herr, daß es hier einige Cafés niederen Ranges giebt, wo die Dame auch wohl hier und da dem Herrn etwas mehr angiebt, als sie getrunken hat, ehe er sich an ihren Tisch setzte. Damit macht sie sich den Zahlkellner gewogen, von wegen Pumpen! – Na, Sie verstehn schon!?«

»Verstehe! Schwamm drüber. Kommen Sie denn beim Borgen nicht schlecht weg?«

»Selten. Wir kennen fast jede dieser Damen, teils nach ihrem wirklichen, teils nach ihrem Spitznamen. Fast jeden Abend können Sie dieselben Gesichter sehen. Viele der Mädchen setzen sich auch fast immer auf denselben Platz. Sie wissen recht wohl, daß sie gewissermaßen in ihrer Existenz von dem Besuche dieser Lokale abhängen. Darum kommen sie auch stets wieder und zahlen, was wir ihnen geborgt haben – mit Zinsen! Wir borgen’s ihnen aber auch gern ohne Zinsen. Es sind meistens gutmütige und oft bedauernswerte Mädchen. Sehen Sie dort drüben das bildhübsche Gesicht mit den braunen Augen. Das ist die sogenannte ›Bayrische Mary‹. Vor etwa drei Jahren kam sie hierher. Sie ist die vierte Tochter einer bayrischen Försterfamilie. Drei Schwestern hintereinander sind in Berlin gefallen. Nacheinander ließen sie ihre Schwestern nachkommen. Die Kleine da war kaum 18 Jahre alt, als sie hierher kam. Im Kattunkleidchen hab’ ich sie hier sitzen sehen. Jetzt – Samt, Seide, Schminke, na, man kennt das ja. Und die ist stolz, mein Herr, stolz wie eine Königin!«

Großer Gott! – – Vier Schwestern einer Familie diesem unersättlichen Moloch der Großstadt geopfert! –

»Haben Sie nicht viel Unannehmlichkeiten, Lärm, Zank und gar Schlägereien infolge dieser weiblichen Gäste?«

»Früher mehr, als noch die zweifelhaften Männer mehr mit ihnen hier verkehrten, jetzt verhältnismäßig selten. In besseren Lokalen, wie z. B. bei uns, wird strenge Zucht gehalten. Sehen Sie den Herrn dort am Ecktisch?«

Der Bezeichnete war ein robuster Herr in mittleren Jahren mit rotblondem Schnurrbart, der mit anscheinender Gleichgiltigkeit ein illustriertes Blatt studierte.

»Das ist ein Kriminal-Beamter. Er läßt sich oft genug hier sehen und kennt diese feschen Mädel alle ganz genau und ihren Anhang auch. Überdies passen wir scharf auf. In Cafés gewöhnlicherer Sorte können Sie hören, wie die Damen sich untereinander laut unterhalten. In den meisten dürfen sie dies nicht. Hier darf keine den Platz wechseln und sich etwa an einen andern Tisch setzen. Wenn eine zuwiderhandelt, wird ihr das Lokal verboten. Darauf lassen sie es nicht gern ankommen. Ja, ja, es ist eine schlimme G’schicht, Herr, mit diesen Sachen, aber was können wir daran ändern. Sollen die Mädchen immer auf der Straße liegen?«

Er hatte recht. In der Physiognomie der Großstadt wird unter den hier bestehenden Verhältnissen dieser Zug ein unverlöschlicher bleiben.

Ein jedes Ding hat seine zwei Seiten. Die Anwendbarkeit dieses Spruches auch auf diese Verhältnisse wurde mir durch eine Antwort klar, welche mir von einem Besitzer eines hiesigen Wiener Cafés zu teil wurde. Nicht ohne Überwindung einer gewissen Ängstlichkeit ließ ich etwas von Demoralisation und dergl. in Verbindung mit diesen Cafés fallen.

»Oho! Im Gegenteil. Selbst das niedrigststehende dieser Lokale hat zum mindesten den Vorzug, manchen Teil von dem jedem ins Gesicht springenden Straßenabschaum zwischen vier Pfähle zu bringen. Auch hat die ganze Organisation dieser Cafés – in diesem Falle nun wiederum der besseren – einen etwas strammen Zug in das Berliner Restaurationswesen gebracht. Nach dieser Richtung haben sie also nur günstig gewirkt. Und die Berliner haben sich auch rasch daran gewöhnt. Unsere Lokale sind ihnen unentbehrlich geworden. Wo sollten denn bei der strengen Handhabung der Polizeistunde die Leute in der Nacht hin? Sehen Sie doch her!« – –

Ja, ich sah. Volle Tische, unzählige »Melangen«, Punsche, Schokoladentassen und andere Herrlichkeiten. Ein bunter Wirrwarr von Menschenstimmen, hin- und herflatternde Zeitungsblätter, »Zahl’n, Kellner! – Bitt’ schön, zahl’n...

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