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Resilienz: Der Wir-Faktor (Wissen & Leben)

Gemeinsam Stress und Ängste überwinden - Wissen & Leben Herausgegeben von Wulf Bertram

AutorGregor Hasler
VerlagSchattauer
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783608190564
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Fragen Sie sich auch, warum wir zunehmend gestresst sind, Ängste und chronische Erschöpfung sich wie eine Epidemie verbreiten? Und das, obwohl Freizeit, Karrieremöglichkeiten und finanzielle Sicherheit in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen haben! Die Ursachen sind komplexer als man denkt, aber wir sind dieser Dynamik nicht hilflos ausgeliefert. Das Buch führt vor Augen, was uns in die Stress-Krise geführt hat - und zeigt den Schlüssel, der uns auch wieder hinausführen kann: den Wir-Faktor. Der renommierte Stress-Forscher Gregor Hasler zeigt, wie wir dem Leistungsdruck standhalten und neue Perspektiven erkennen können. Aus seiner langjährigen Erfahrung als Psychotherapeut weiß er, welche Maßnahmen zur Stärkung der Widerstandskraft wirklich anwendbar und hilfreich sind und welche nicht. Dabei wird deutlich: Wenn wir den Wir-Faktor kennen und nutzen, stärken wir uns selbst und die Gesellschaft - und sind dadurch weniger angreifbar.

Prof. Dr. med. Gregor Hasler ist ordentlicher Professor für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Freiburg in der Schweiz, Chefarzt und Leiter der psychiatrischen Forschungsabteilung des Freiburger Netzwerks für Psychische Gesundheit. Seine Forschungsschwerpunkte sind neurowissenschaftliche Psychiatrie, bio-psycho-soziale Interaktionen, Stress, Depression und Essstörungen. Haslers vielfältige wissenschaftliche Publikationen wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet.

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Leseprobe

1 Der Verlust der Bedeutung


Stellen Sie sich vor, jemand droht Ihnen, Ihre Hand mit einem Messer zu durchstechen. Beurteilen Sie den vorgestellten Schmerz auf einer Skala von 0 bis 10. Null heißt schmerzfrei, 10 bedeutet der maximal vorstellbare Schmerz. In einer anderen Situation wissen Sie, dass Sie Ihre Tochter dann – und nur dann – retten können, wenn Sie es akzeptieren, dass jemand mit dem Messer Ihre Hand durchsticht. Beurteilen Sie nun diesen Schmerz auf einer Skala von 0 bis 10. Dieses einfache Gedankenexperiment zeigt, zumindest bei den Personen, die wie ich eine Tochter haben, dass die Bedeutung ein starker Resilienzfaktor ist. Sie ist vermutlich der wichtigste Resilienzfaktor überhaupt. Nietzsche sagt treffend: „Wer ein Warum hat, dem ist kein Wie zu schwer.“

Dies belegen auch epidemiologische Studien. Eine Analyse des Psychologen Martin Pinquart, die auf 70 Studien über die gesundheitliche Rolle des Sinns des Lebens basierte, zeigte klar, dass Stress-Resilienz stark von der Fähigkeit abhängt, seinem Leben Bedeutung zu geben (Pinquart 2002). Ein Buch über Resilienz zu schreiben heißt deshalb, ein Buch über Bedeutung zu schreiben, weshalb es nicht nur in diesem Kapitel, sondern auch in den folgenden um Bedeutung gehen wird. Die heutzutage für Resilienz entscheidende Bedeutung entsteht vorwiegend im Kontext sozialer Beziehungen. In diesem Kapitel werde ich aber zuerst den Verlust der Bedeutung beschreiben, die sich nicht auf Soziales reduzieren lässt, um in den nächsten zwei Kapiteln auf die sozialen Formen von Bedeutung einzugehen.

In den letzten Jahrtausenden haben vor allem Religionen und Monarchien umfassende Bedeutungssysteme gestiftet und aufrechterhalten, oft auch mittels Zwang. Dass diese Systeme für die individuelle Resilienz von großer Wichtigkeit waren, beschreibt Joseph Roth eindrücklich in seinem Roman Radetzkymarsch. Es geht um den Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie. Roth zeigt, dass die Menschen Dank ihres Kaisers selbst im Krieg ein beneidenswert großes Sicherheitsgefühl hatten. Kaiser Franz Josef war allgegenwärtig unter seinen Untertanen, wie ein Gott in der Welt. Man war bereit, für diesen Kaiser einen wonnigen, warmen und süßen Tod dahinzusterben. Besonders angenehm habe es sich durch eine fremde Kugel beim Radetzkymarsch gestorben. Dem alten Trotta, dem Großvater des Romanhelden, konnte „gar nichts passieren“, allein wegen der überirdischen Macht seines Militär-Marie- Theresien-Ordens. Doch als er den einfachen Glauben an Gott und den Glanz der Majestät verlor, erlebte er schwere Stresssymptome: Verbitterung, Freudlosigkeit, vorzeitige Alterung. Aber auch die anderen Menschen im Regiment wurden ängstlicher, sie hatten nun Angst vor dem Leben, aber auch Angst vor dem Sterben.

Der Zerfall der Monarchie war für die Österreicher besonders schmerzhaft, weil ihr Kaiser eine apostolische Majestät war. Seine Macht war wie bei keinem anderen europäischen Monarchen an den christlichen Glauben und an die Macht der katholischen Kirche gebunden. Trottas Schachpartner, Doktor Skowronnek, beschreibt eindrücklich die Veränderung der Wahrnehmung während des Bedeutungszerfalls: „Nicht einmal der Kaiser trägt heute die Verantwortung für seine Monarchie. Ja, es scheint, dass Gott selbst die Verantwortung für die Welt nicht mehr tragen will. Es war damals leichter! Alles war gesichert. Jeder Stein lag auf seinem Platz. Die Straßen des Lebens waren wohl gepflastert. Die sicheren Dächer lagen über den Mauern der Häuser. Aber heute, Herr Bezirkshauptmann, heute liegen die Steine auf den Straßen quer und verworren und in gefährlichen Haufen, und die Dächer haben Löcher, und in die Häuser regnet es, und jeder muss selber wissen, welche Straße er geht und in was für ein Haus er zieht.“

Als der Bann der Religion gebrochen war, begannen die österreichischen Soldaten und Offiziere mit dem ganzen Bewusstsein wahrzunehmen, dass es noch andere Länder mit anderen Monarchen gab und dass die Erde nur einer von Millionen von Weltkörpern war. Dieses Bewusstsein führte dazu, dass sie sich so bedeutungslos wie ein kleines Häufchen Dreck fühlten. Gefühle der Gleichgültigkeit machten sich breit. Nachdem sie ihre Heimat verloren hatten, verloren sie auch ihr Heimweh. Sie begannen, sich bedrückt zu fühlen, und es gab nichts auf der Welt, das sie nicht bedrückt hätte. Sie litten unter der Lieblosigkeit der Ehepartner, aber auch unter ihrer Eifersucht, an der Not der Zeit, der Teuerung, unter den politischen Krisen, den Zeitungsabonnements der Gatten, der eigenen Beschäftigungslosigkeit, der Arbeit und unter der Treuelosigkeit der Liebhaber. So stellten sie dem Bedeutungsverlust eine Genusskultur entgegen: eine törichte Lust an jeder Bestätigung des Lebens, am Heurigen, an Mädchen, an Essen, Spazierfahrten, Tollheiten aller Art, sinnlosen Eskapaden, mörderischer Ironie, ungezähmter Kritik, am Prater, am Riesenrad, am Kasperle-Theater, an Maskeraden, am Ballett, an leichtsinnigen Liebesspielen und Krankheiten der Liebe.

Der Psychologe William James sagte 1902 in seinen berühmten Gifford-Vorlesungen über die Religion: „Wer den Satz ‚Gottes Wille geschehe‘ nicht nur sagt, sondern fühlt, ist gegen jede Schwäche gepanzert.“ Wie entsteht diese Panzerung?

Religiöse Bedeutungssysteme stärken die Resilienz auf vielfältige Art. Das Gehirn kann erstaunlich gut mit vorhersehbaren negativen Ereignissen umgehen. Geplante Belastung stärkt vermutlich sogar unsere Resilienz. Das Stresssystem wird vor allem durch unvorhersehbare negative Ereignisse aktiviert. Diese Beobachtung konnte ich in einer neurowissenschaftlichen Untersuchung bestätigen, die ich am National Institute of Mental Health in den USA durchgeführt habe (Hasler, Fromm et al. 2007): Die Verabreichung von unvorhersehbaren elektrischen Schlägen in der Stärke eines elektrischen Weidezauns aktivierte stärker und nachhaltiger das Stresssystem und löste mehr Angst aus als angekündigte elektrische Schläge der gleichen Intensität. Anschaulicher gesagt: An einem Ringkampf teilzunehmen, der immer am Sonntag um 14 Uhr auf dem Sportplatz stattfindet, ist meistens ein „guter“ Stress. Plötzlich in einer Parkgarage in einen Ringkampf verwickelt zu werden, ist viel problematischer.

Religionen behaupten, dass Überschwemmungen, Dürre, Hungersnöte und andere Schicksalsschläge nicht zufällig geschehen, sondern von Gott absichtlich als Prüfung oder Bestrafung angeordnet sind. Der Mensch und höhere Säugetiere haben die natürliche Neigung, anderen Menschen, aber auch Tieren und Dingen, Absichten zu unterstellen. Kinder mögen Animationsfilme, wo auch Bäume und sogar Werkzeuge und Steine Absichten haben. Religionspsychologen sprechen von einem überschießenden Akteur-Erkennungsapparat, der mit der Aktivität des Hirnbelohnungssystems zusammenhängt. Die Religionen unterstützen und systematisieren dieses Überschießen. Dabei sind Religionen mit einem persönlichen Gott, der alles sieht und immer präsent ist, besonders günstig für die Resilienz. Die Einsicht, dass alles, auch das unfairste und brutalste Ereignis, Resultat einer höheren Absicht ist, hat dem antiken Resilienz-Helden Hiob geholfen, eine Serie von schwersten Katastrophen schadlos zu überstehen.

In westlichen Religionen sind Ereignisse in ein zeitliches Kontinuum eingebettet, das einen Ursprung und eine Erlösung hat. In dieser Vorstellung gibt es immer, auch noch im größten Chaos, einen roten Faden, welcher das Vorherige mit dem Folgenden auf sinnvolle Weise verknüpft. Für den gläubigen Christen besteht kein Zweifel, dass Gottes Befehl an Abraham, seinen Sohn Isaak zu opfern, mit der viel späteren Kreuzigung Jesu Christi in einem bedeutsamen Zusammenhang steht. Die Annahme einer sinnvollen zeitlichen Kontinuität ist ein äußerst mächtiger Resilienzfaktor. Warum starb meine Mutter so früh an Krebs? Warum ist mein Sohn blind? All dieses Leid ist erträglicher, wenn es verknüpft ist mit einem kosmologischen Ursprung und einer endzeitlichen Erlösung. Fast unerträgliche Belastungen erhalten damit Bedeutung in einer sinnvollen Entwicklung. Ich werde später zu zeigen versuchen, dass der Erfolg der Stress-Psychologie, insbesondere der Psychotraumatologie, zu einem wichtigen Teil darauf beruht, dass sie unangenehme Gefühle kausal mit der Vergangenheit verknüpfen und dem Leidenden eine Wachstumsperspektive anbieten. Das Problem ist, dass die oft eher banalen und einseitigen Ursachen-Annahmen dieser Theorien die wirklichen Probleme mehr vertuschen als erklären.

Soziale Unterstützung ist ein mächtiger Resilienzfaktor. Stress allein auszuhalten ist ungemein schwieriger als Stress in Anwesenheit einer fürsorglichen Person zu verarbeiten. Religionen gewähren neben der sozialen Unterstützung durch die Gemeinschaft eine anhaltende, dauernde göttliche Unterstützung. Diese ist auch bei sozialer Isolation und realer Verlassenheit garantiert. Die göttliche Person, die uns hilft, ist nicht nur fürsorglich, sondern auch allmächtig. Sie weiß genau, wie viel Stress wir ertragen. Im Gebet tritt der Gläubige mit Gott in Verbindung. Eine neurowissenschaftliche Studie konnte nachweisen, dass bei betenden Christen das Hirnbelohnungssystem in einer Weise aktiviert wird, die der Hirnaktivität beim sozialen Austausch zwischen zwei Menschen sehr ähnlich ist (Schjodt, Stodkilde-Jorgensen et al. 2008). Karmeliter-Nonnen, die mittels funktioneller Bildgebung während einer mystischen Vereinigung mit Gott untersucht wurden, zeigten ein Funktionieren des Gehirns, das typischerweise bei Zuständen völliger Verliebtheit auftritt (Beauregard and Paquette 2006)....

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