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E-Book

Rettungsgasse ist kein Straßenname

Die Abenteuer eines Notfallsanitäters und Feuerwehrmanns

AutorJörg Nießen
VerlagEden Books - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783959101844
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
»Rettungsgassen können nachweislich Leben retten.« Theoretisch wissen wir das alle. Dass es in der Praxis oft nicht funktioniert, erlebt Jörg Nießen fast täglich. Immer wieder wird der Notfallsanitäter und Feuerwehr -mann von seinen Mitmenschen herausgefordert - nicht nur im Straßenverkehr. Der Retter von heute muss die großen und kleinen Probleme unserer Gesellschaft verhandeln, und das zu jeder Tages- und Nachtzeit. Da backt die liebe Frau Braun im P?egeheim rauchstark Haken kreuze, der liebe Herr Nachbar verliert gänzlich die Kontrolle über seine Emotionen, und ein tiefen-entspannter Schwan legt den Stadtverkehr lahm. Jörg und sein Lieblingskollege Hein sind dennoch nicht aus der Ruhe zu bringen - jedenfalls nicht, bis ein Kindergarten ins Spiel kommt. Jörg Nießen legt nach mehreren Bestsellern im Rettungsmilieu (»Schauen Sie sich mal diese Sauerei an«) endlich wieder einen Band mit neuen skurrilen Erlebnissen vor - und bildet damit eine literarische Rettungsgasse der besonderen Art.

Jörg Nießen wurde 1975 im Rheinland geboren und kam über seinen Zivildienst vor über zwanzig Jahren zum Rettungsdienst. Heute ist er als Berufsfeuerwehrmann und Notfallsanitäter in einer nordrhein-westfälischen Großstadt tätig und hat neben mehreren Büchern über seinen Alltag im Rettungswagen auch ein Kinder- und Jugendbuch verfasst. Mit seinem Debüt »Schauen Sie sich mal diese Sauerei an« und dem Nachfolger »Die Sauerei geht weiter ...« stand er monatelang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.

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Leseprobe

Rettungsgasse ist kein Straßenname


Der Weg ist manchmal doch nicht das Ziel


Hein war gut drauf, sehr gut sogar. Untrügliches Zeichen seiner guten Laune war ein etwa halbstündiger, semiwissenschaftlicher Vortrag über die Zusammenhänge der menschlichen Evolution und dem teilweise prachtvollen Haarwuchs auf Männerrücken mittleren Alters. Mit präziser Leichtigkeit zerfetzte mein Kollege überholte Ansichten über männliche Entwicklungsprozesse und pulverisierte veraltete Lehrmeinungen.

»Also, es ist so: Fell und Wärmeerhalt mögen ja vor Jahrmillionen mal eine Rolle gespielt haben. Heutzutage allerdings ist der einzige Grund, warum wir noch Haare auf dem Rücken und am Arsch haben, das koffeinhaltige Haarwaschmittel von Dr. A. Klenk.«

»Ach, ist das so?«

»Doch, in der Tat! Du weißt schon. Wir spülen uns das Zeug nur viel zu schnell vom Kopf. Und wo läuft es dann lang? Richtig, langsam über den Rücken, in die Kimme hinein, und da tropft es dann ab. Man macht sich keine Gedanken drüber, aber unter der Dusche stehen wir dann ja auch in der Suppe. Mit vierzig sehen die Füße aus wie die von einem Hobbit, bloß keiner weiß, warum.«

Meinen eigenen Haarwuchs im Geiste rasierend, lachte ich Tränen. Angst, das Lenkrad des Rettungswagens zu verreißen, hatte ich keine, denn seit fünfzehn Minuten ging es maximal im Schritttempo voran. Hein und ich standen auf der Autobahn am Stadtrand im Stau. Glücklicherweise gab es keinen Grund zur Eile. Der Feierabend lag noch Stunden entfernt, die Leitstelle wusste, wo wir steckten, und von Hunger oder Durst konnte auch keine Rede sein.

Hein hatte das Thema Körperbehaarung inzwischen beendet und widmete sich stattdessen dem Zusammenhang einer seiner Meinung nach extrem aufwendigen Weiterbildung, zu der man uns verdonnert hatte, und den damit verbundenen Erfolgsaussichten bei Online-Dating-Portalen. Er war wirklich in Hochform, und ich fühlte mich prächtig unterhalten.

»Es ist wie überall. Die wirklich wichtigen Informationen behält der Arbeitgeber für sich. Da geht’s immer um Kompetenz, Geld und Verantwortung. Aber warum ich als Endvierziger noch eine Weiterbildung zum Notfallsanitäter machen soll, obwohl ich seit zwanzig Jahren hervorragende Arbeit als Rettungsassistent leiste, das erklärt mir keiner. Der Job bleibt doch derselbe – grippale Infekte und eingerissene Fingernägel nachts um drei Uhr mit Alarm ins Krankenhaus fahren. Die echten Argumente werden leider verschwiegen. Was keiner sagt: Als Rettungsassistent kannst du bestenfalls parshippen! Aber als Notfallsanitäter, da bist du Elite und kommst auch bei den Singles mit Niveau rein!«, erklärte Hein in elitärem Tonfall und mit vielsagendem Blick.

Langsam wurde er albern. Die Staumeldung im Radio teilte mir indes unmissverständlich mit, dass ich mich noch auf mindestens neunzig Minuten unfreiwilliges Comedy-Programm einstellen konnte, als ein Disponent der Leitstelle uns über Funk ansprach: »RTW 3-1 mit der Frage nach Standort.«

Was für Hein eine Störung im Redefluss darstellte, war für mich eine Frage der Hoffnung. So amüsant mein Lieblingskollege auch sein konnte, irgendwann ging er mir dann doch auf die Nerven. Meinen Griff zum Funkhörer beäugte Hein dann auch fast vorwurfsvoll.

»Immer noch auf der Autobahn, kurz hinter der Stadtgrenze. Sehr zäh fließender Verkehr, teilweise Stau«, antwortete ich in der Erwartung, den restlichen Weg durch den Stau mit Blaulicht und Martinshorn zurücklegen zu können. Verstehen Sie mich nicht falsch. Nach über zwanzig Jahren im Beruf bin ich weit entfernt vom alarmgeilen Rettungsrambo. Doch ich gebe gern zu: Sonder- und Wegerechte sind im Stau eine extrem nützliche Sache.

»RTW 3-1. Eigentlich völlig egal, wo ihr steht. Ihr seid das letzte freie Einsatzmittel im gesamten Stadtgebiet, auf das ich Zugriff habe. Für euch geht’s also in die Innenstadt zu so einem Nobelfranzosen namens Remettre à plat. Genaue Adresse kommt schriftlich auf den Funkmeldeempfänger. Notarzt läuft auch, das Ganze ist ein internistischer Notfall – nicht ansprechbare Person«, erläuterte der Disponent.

Hein war eine Weile damit beschäftigt, die genauen Einsatzdaten vom winzigen Display abzulesen, um dann die Adresse ins Navigationsgerät einzugeben, denn die Innenstadt gehörte eigentlich nicht zu unserem rettungsdienstlichen Jagdrevier.

Währenddessen griff ich das Mikrofon, das den Außenlautsprecher bediente, und wandte mich an die im Stau vor uns stehenden Pkws beziehungsweise deren Insassen.

»Bitte eine Gasse bilden. Bitte bilden Sie eine Gasse! Rettungsgasse bilden!« Obwohl ich in anschwellender Intensität und Lautstärke formulierte, passierte rein gar nichts.

Als das Folgetonhorn, im Volksmund auch gern als Martinshorn bezeichnet, die ersten Töne von sich gab, alterte der Fahrzeugführer im vorausfahrenden Pkw schlagartig um zehn Jahre. Durch seine Heckscheibe konnte ich beobachten, wie der arme Kerl zusammenzuckte und mehrere Sekunden brauchte, um den Schreck zu verdauen. Dass er dabei den Fahrersitz nicht versaute, ist nur auf herausragende Körperbeherrschung zurückzuführen.

Natürlich kann man diesen Augenblick mit einer gewissen Schadenfreude betrachten, aber glauben Sie mir, nichts liegt mir ferner. Ich hasse es selbst wie die Pest, plötzlich und unerwartet akustischen Reizen ausgesetzt zu werden, vielleicht ein Langzeitschaden meines Berufs. Aber was sollte ich machen? Ich konnte schlecht persönlich zu jedem Staukameraden laufen und mit warmen Worten um ein wenig Platz betteln.

Auf viel Verständnis darf man in solchen Situationen übrigens nicht hoffen. Es wurde wild gestikuliert und gezetert. Als sich zwischen linker und rechter Fahrspur endlich etwas Platz bot, sah sich ein BMW-Fahrer genötigt auszusteigen, um einen leeren Pappbecher auf unsere Windschutzscheibe zu schleudern. Vermutlich getrieben von Respekt und Hilfsbereitschaft gab er uns noch gute Ratschläge mit auf den Weg, von denen wir leider ob des immer noch laufenden Martinshorns so gut wie nichts verstanden.

Rettungsgassen können nachweislich Leben retten, egal ob auf der Autobahn, auf mehrspurigen Landstraßen oder im dichten Stadtverkehr. Der Rettungsdienst, die Feuerwehr und auch die Polizei sparen wertvolle Zeit, die für in Not geratene Menschen entscheidend sein kann. Aktuellen Umfragen zufolge wissen jedoch über fünfzig Prozent der Verkehrsteilnehmer mit dem Begriff der Rettungsgasse nichts anzufangen. Dabei ist es ganz einfach. Besagte Rettungsgasse sollte bereits gebildet werden, sobald der Verkehr stockt, und nicht erst, wenn völliger Stillstand herrscht beziehungsweise die Rettungskräfte mit Blaulicht und Tatütata im Rückspiegel erkennbar werden. Bilden Sie die Rettungsgasse immer zwischen dem äußersten linken und den übrigen Fahrstreifen. Befinden Sie sich also auf dem ganz linken Fahrstreifen, so weichen Sie bitte nach links aus. Auf allen übrigen Fahrstreifen, beispielsweise bei drei- und vierspurigen Straßen, rollen Sie Ihr Fahrzeug bitte nach rechts aus dem Weg – fertig ist die Rettungsgasse!

In unserem Fall glich selbige einem eng gesteckten Slalomkurs. Nicht jeder Führerscheininhaber kennt die Maße seines Fahrzeugs. Abstände, Dimensionen und Längen werden analog zum männlichen Geschlechtsteil oft falsch eingeschätzt, wobei Lkws noch einmal eine ganz besondere Herausforderung darstellen. Von Wohnmobilen mit schwarz-gelben Kennzeichen will ich gar nicht erst anfangen.

Inzwischen hatte sich unsere Umwelt an Blaulicht und Martinshorn gewöhnt, und es waren nicht mehr die anderen Verkehrsteilnehmer, die zeterten und fluchten, sondern Hein und ich. Alarmfahrten bedeuten stets eine gehörige Portion Stress, und so können verschiedene Aussagen aufgrund der freiwilligen Selbstkontrolle nur stark gekürzt wiedergegeben werden.

Hein: »Da sind noch drei Meter Platz, du …«

Ich: »Mach dich da weg, sonst …«

Hein: »Wenn ich das Kennzeichen sehe, weiß ich Bescheid, so ein …«

Ich: »Guter Gott, wirf Hirn vom Himmel, das kann doch nicht so schwer sein, du vollkommener …«

Hein: »In diesem Auto gibt es jede Menge Schnickschnack, auf den wir verzichten können. Was wir brauchen, sind Boden-Boden-Raketen. Jetzt guck dir das an …«

So verging eine Weile, bis Hein im Rückspiegel ein weiteres Phänomen der Rettungsgasse beobachten konnte.

Wir wurden verfolgt. Ein Trittbrettfahrer im wahrsten Sinne des Wortes. Der Abstand zu unserer rückwärtigen Einstiegshilfe und einem mattschwarz lackierten Audi A6 betrug höchstens zwei Meter, und das bei einem Tempo von ungefähr fünfzig Stundenkilometer. Der Herr der vier Ringe hatte beschlossen, Zeit zu sparen und unseren Windschatten zu nutzen. Wer sollte ihn schon daran hindern? Mein inneres Gerechtigkeitsorgan verlangte zwar, sofort hart auf die Bremse zu treten, doch hätte diese Maßnahme unseren Einsatzerfolg massiv gefährdet und obendrein unendlich viel Schreibkram zur Folge gehabt.

Es war Hein, der die Übersicht behielt.

»Fahr weiter, fahr weiter, da hinten steht ein Streifenwagen im Stau! Den kann der Typ bis jetzt unmöglich gesehen haben. Die Dinge regeln sich manchmal von selbst. Der Figur besorgen wir es von hinten«, frohlockte er – und behielt recht. Weitere Blaulichter tauchten im Rückspiegel auf, und die Verfolgung unseres RTW endete mutmaßlich kostenpflichtig.

Keine zwei Kilometer weiter erwartete uns die nächste Eskalation, und Hein entfuhr ein entrüstet gebrülltes »Wer oder was bist du denn? Rettungsgasse ist kein Straßenname!«.

Ein Coupé der Marke Mercedes-Benz fühlte sich berufen, uns vorauszufahren. Über die Motivation des...

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