Durch meine berufliche Tätigkeit in der Behindertenhilfe bin ich mit der Thematik der Sexualität von Menschen mit geistiger Behinderung im Allgemeinen vertraut, wobei hin und wieder auch daraus hervorgehende Schwangerschaften thematisiert und diskutiert wurden. Anfang der neunziger Jahre mussten wir uns auf einmal ganz praktisch und keineswegs vorbereitet mit einer Schwangerschaft und daraus folgend Elternschaft auseinander setzen. Wir kannten jedoch keine Modelle und durchdachten Lösungsstrategien für diese Situation; nur einige engagierte Menschen nahmen sich dieser unerwarteten Situation schließlich an.
Etwa 10 Jahre später wurde ich dann in meinem persönlichen Umfeld mit diesem Thema konfrontiert. Wir wurden als Familie gewissermaßen Teil des Systems Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung, allerdings im Sinne der damals gängigen, aber wie ich heute weiß, durchaus nicht einzigen, Lösungsvariante Fremdplatzierung. Kurzum, wir wurden Pflegefamilie.
Im Rahmen meines Studiums Sozialer Arbeit schließlich wurde ich durch eine Hausarbeit erneut mit der Thematik konfrontiert und stellte fest, dass Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung ein komplexes Thema mit einander widerstreitenden Aspekten ist. Während des Literaturstudiums für diese Diplomarbeit stellte ich nun fest, dass diese Problematik seit beinahe 20 Jahren immer mehr Beachtung in der Fachwelt fand und dass eine ganze Reihe unterschiedlicher Studien existieren, die Elternschaft von Menschen mit geistiger Behinderung von unterschiedlichen Seiten beleuchten.
Die Literatur (Pixa-Kettner 2001, S. 282 f; Walter 1994) verdeutlicht eingehend, dass Menschen mit geistiger Behinderung das Bedürfnis nach und insbesondere das Recht auf Sexualität lange abgesprochen wurde. Seit mehr als zwei Jahrzehnten geht hier eine Veränderung im Denken und der praktischen Umsetzung vor sich, die einhergeht mit dem komplexen, natürlich das Leben dieser Personengruppe umfassend betreffenden, Prozess von Normalisierung. Sexualität wird seither mehr und mehr als einem selbstbestimmten Leben zugehörig gesehen und zu größeren Teilen auch unterstützt. Dies hat zur logischen Folge, dass (insbesondere nach Änderung des Sterilisationsrechts 1992) die Möglichkeit von Schwangerschaften bei Frauen mit geistiger Behinderung vermehrt gegeben ist.
Die Frage, die sich gleich danach stellt, ist die der Elternschaft. Hier sind nun zwei Perspektiven von Bedeutung, die allerdings nicht nur auf die Situation geistig behinderter Menschen zutreffend sind. Die eine Perspektive bezieht sich auf das Recht von Menschen mit geistiger Behinderung auf freie Entfaltung ohne Benachteiligung, welches aus dem Grundgesetz zu definieren ist und wozu neben Sexualität durchaus Elternschaft bzw. Familie gehören kann.
Miriam Staudenmaier, die einigen Ethikern die Frage stellte, „ob Menschen mit geistiger Behinderung ein Recht auf Elternschaft haben“, bekam unter anderem von Markus Dederichs, Professor an der Universität Dortmund, zur Antwort, dass „(…) ein prinzipielles Recht auf Elternschaft“ implizieren könne, „dass alle reproduktionsmedizinischen Verfahren und Techniken als ethisch legitim anzusehen wären, wenn sie nur die Elternschaft sichern (…)“ (Staudenmaier 2004, S. 13), was er daher prinzipiell verneint. Die Möglichkeit jedoch, Kinder haben (was wohl auch meinen könnte, behalten) zu dürfen, lehnt er damit grundsätzlich nicht ab.
Die andere Perspektive richtet sich auf das Recht der Kinder, denen ebenfalls freie Entfaltung, die dazugehörigen positiven Entwicklungsmöglichkeiten, Geborgenheit usw. zugestanden wird. Dazu stellt das Bundesverfassungsgericht klar:
„(…) Das Kind ist ein Wesen mit eigener Menschenwürde und dem eigenen Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit im Sinne der Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG (…). Die Anerkennung der Elternverantwortung und der damit verbundenen Rechte findet daher ihre Rechtfertigung darin, dass das Kind des Schutzes und der Hilfe bedarf, um sich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu entwickeln, wie sie dem Menschenbilde des Grundgesetzes entspricht (…).“ (BVerfGE 24, 119 (144 f.) in Wiesner 2006, S. 3).
Diese beiden Perspektiven können gerade bei der Betrachtung unseres Themas einander widersprechen oder gar ausschließen. Wird das Wohl des Kindes gefährdet, so greift laut Art. 6 Abs. 2 bis 4 GG das Wächteramt des Staates. Das Bundesverfassungsgericht stellt demnach fest, dass das „Kind als Grundrechtsträger selbst Anspruch auf den Schutz des Staates hat (…)“ und ein Wesen sei „mit eigener Menschenwürde und dem eigenen Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit.“ (ebd.). Weiter führt die höchste Rechtsinstanz aus:
Eine Verfassung, welche die Würde des Menschen in den Mittelpunkt ihres Wertesystems stellt, kann bei der Ordnung zwischenmenschlicher Beziehungen grundsätzlich niemandem Rechte an der Person eines anderen einräumen, die nicht zugleich pflichtgebunden sind und die Menschenwürde des anderen respektieren (…).“ (ebd.).
Andererseits ist es aber auch nicht zulässig, aufgrund unzureichender Vermutungen die Personensorge zu entziehen. Dies unterstreicht auch nachfolgender Richterspruch vom August 1988. Das Berliner Landgericht machte darin „die amtsrichterlich erwirkte Entscheidung des Jugendamts rückgängig“ und sprach „geistig behinderten Eltern das Sorgerecht für ihre Tochter wieder“ zu. Es folgerte aus dem 6. Artikel des Grundgesetzes, „dass ein Kind grundsätzlich zu seinen leiblichen Eltern gehöre.“ So stellte das Landgericht fest:
„’Die bloße Erwägung, dass minderbegabte Eltern ihren Kindern nicht dieselben Entwicklungsmöglichkeiten bieten könnten wie normalbegabte Eltern, lässt eine Ausnahme von diesem Grundsatz des Grundgesetzes nicht zu’ (Frankfurter Rundschau 23.8.1988) (…) Die Richter sahen die Würde des Menschen angetastet, wenn geistig behinderte Mütter und Väter generell vom Zusammenleben mit ihren Kindern ausgeschlossen würden.“ (Walter 1994).
Die Literatur (Prangenberg 2002, S. 46 ff, Pixa-Kettner 2001, S. 284) hat bis vor etwa zwei Jahrzehnten die Kindeswohlgefährdung betont, ohne überhaupt zu fragen, ob und in welchem Maße Menschen mit geistiger Behinderung in der Lage sind, ihre Kinder zu erziehen, bzw. unterstellte damit, dass sie dies nicht vermögen. In den besagten zwei Jahrzehnten hat sich nun mehr und mehr die Auffassung durchgesetzt, dass diese Personengruppe unter bestimmten Voraussetzungen und mit adäquater Unterstützung sehr wohl in der Lage sei, ihre Kinder zu erziehen und eine „normale“ Familie sein könne. Allerdings beklagt Pixa-Kettner nach wie vor deren Benachteiligung. Somit scheine „die Gruppe sog. geistig behinderter Mütter und Väter (…) die am strengsten kontrollierte und überwachte Elterngruppe in unserer Gesellschaft zu sein.“ (Pixa-Kettner 2003, S. 18). Diese Kontrolle ist m. E. möglich, weil Menschen mit geistiger Behinderung oft von Anfang an auf verschiedenste Institutionen und staatliche Hilfen oder eben familiäre Kontexte angewiesen sind. Zudem meint Pixa-Kettner weiter, dass an diese Gruppe „bisweilen sogar höhere Maßstäbe angelegt werden als an andere, sog. nichtbehinderte Eltern.“ (ebd.). Liest man sich stärker in die Thematik ein, wird dieses Argument wieder und wieder verwendet, gemeint sind aber nach meinem Eindruck wohl Maßstäbe an elterliche Kompetenzen der Mittelschicht.
Die Auffassung, dass Eltern mit geistiger Behinderung in der Lage seien oder versetzt werden könnten, ihren elterlichen Pflichten nachzukommen, wird gestützt durch u. a. zwei Argumentationsstränge. Einerseits herrsche „in der Forschung Einvernehmen darüber, dass der elterliche IQ in Hinsicht auf die Ausgestaltung der elterlichen Kompetenz keine Rolle“ spiele, wenn dieser nicht geringer als 55 – 60 sei (Prangenberg 2002, S. 72). Andererseits wird aufgrund verschiedener, zunächst ausländischer Studien davon ausgegangen, „dass die elterliche Kompetenz durch gezielte Schulung und gezieltes Training oder Unterstützung veränderbar“ sei (ebd., S. 85).
Gegen das erste Argument ist zunächst grundsätzlich nichts einzuwenden, jedoch ist auch zu bedenken, dass eben gerade der elterliche IQ einschließlich der vorhandenen Kompetenzen nicht isoliert, sondern nur im Kontext der gesamten familiären Situation, die nicht selten als Multiproblemmilieu bezeichnet werden muss, zu betrachten ist. Das Vorhandensein einer solch schwierigen Situation hat vielschichtige Ursachen, kann aber keineswegs vernachlässigt werden und stellt zusammen mit einer vorhandenen geistigen Behinderung verantwortliche Elternschaft in mancher Familie durchaus infrage.
Auch das zweite Argument ist ebenfalls als richtig zu bezeichnen, allerdings stellt sich hier die Frage, wie viele bzw. welche Kompetenzen gefordert sind und wie viele davon (zudem in einem bestimmten vorgegebenen Zeitraum) erworben werden können und ob es möglich ist, die fehlenden durch geeignete Unterstützung in ausreichendem Maße zu ersetzen. Hinzu zu ziehen ist der Aspekt, dass die kindliche Entwicklung ja...