Das Bindungsverhalten und das Explorationsverhalten bilden zwei komplementäre Verhaltenssysteme, die dennoch voneinander abhängig sind. Zunächst dient die Mutter als sichere Basis für das Kind, zu der es bei Gefahr zurückkehren kann. Auf dieser Grundlage kann das Kind seine Umwelt erkunden. Tritt in einer für das Kind unsicheren Situation eine Veränderung hinsichtlich der Verfügbarkeit der Mutter ein, versucht es durch angeborene Bindungsverhaltensweisen, wie Weinen, Klammern etc., Nähe zur Mutter herzustellen. Diese Verhaltensweisen dienen dazu, ein Sicherheitsgefühl herzustellen, wenn das Kind vor Aufgaben steht, die es alleine nicht bewältigen kann oder wenn es sich unsicher fühlt. Das Bindungsverhalten wird mit zunehmendem Alter immer differenzierter und richtet sich auf einige wenige Bindungspersonen aus. Es kann nur beobachtet werden, wenn das Bindungsverhaltenssystem aktiviert ist. Im Gegensatz dazu tritt das Explorationsverhalten in Erscheinung, wenn das Bindungsverhaltenssystem deaktiviert ist. Dann beginnt das Kind seine Umwelt zu erkunden. Wiederum kann jedoch ohne die Bindungsperson als Sicherheitsbasis kein Explorationsverhalten auftreten. Entstehen beim Kind während des Explorationsverhaltens Angst oder Verunsicherung, wird das Bindungsverhaltenssystem wieder aktiviert und das Kind sucht die Nähe zu seiner Bindungsperson. Mit zunehmendem Alter reichen häufig auch symbolische Nähe bzw. die Bindungsrepräsentation als Sicherheitsbasis. Wie die Beobachtungen Ainsworths in der Fremden Situation belegen, können sich Kinder in ihrem Bindungs- und Explorationsverhalten sehr unterscheiden. Diese Unterschiede können ganz unterschiedliche Ursachen haben. Als Hauptursache gelten aber vor allem die Feinfühligkeit der Mutter und ihre prompte Zuwendung auf die kindlichen Signale.
Im Säuglings- und Kleinkindalter vollzieht sich die Bindungsentwicklung in vier Phasen. Während der Vorbindungsphase (0-3 Monate) ist der Säugling in der Lage, Personen von Gegenständen zu unterscheiden – er kann aber Personen nicht eindeutig voneinander unterscheiden. Zwischen 3 und 6 Monaten vollzieht sich die Entstehung der Bindung. Nun kann das Kind durch die Erfahrungen mit seiner Bindungsperson Personen voneinander unterscheiden und sendet Signale an seine primäre Bindungsperson. Das Bindungsverhalten richtet sich in dieser Zeit zunehmend auf eine bestimmte Person aus. Während der Phase der eindeutigen Bindung (6 Monate bis 3 Jahre) gewinnt die primäre Bindungsperson an Bedeutung und das Kind sucht aktiv die Nähe zu ihr. Es zeigt ihr gegenüber Anzeichen von Bindungsverhalten, während es Fremden gegenüber zurückhaltend ist. Aufgrund der sich entwickelnden Fähigkeit zur Objektpermanenz kann das Kind eine mentale Repräsentation seiner Bindungsperson vornehmen. Ab 3 Jahren vollzieht sich die letzte Phase der Bindungsentwicklung, die zielkorrigierte Partnerschaft. Nun werden die Kinder versierter und sicherer im Falle einer Trennung von der Mutter oder der primären Bindungsperson und können besser mit unbekannten Situationen umgehen. Zudem entwickelt sich beim Kind die Fähigkeit zur Perspektivübernahme. „[…] Es lernt zu verstehen, dass seine Bindungspersonen eigene Gedanken, Gefühle, Vorstellungen, Ziele und Absichten haben, die sich von den eigenen unterscheiden können, während es zuvor „egozentrisch“ gedacht und gefühlt hat“ (Zellmer 2007, S. 10 zit. n. Ainsworth 1972). In dieser Zeit werden wiederholte Erfahrungen mit der Bindungsperson als Skripts (mentale Bindungsrepräsentationen) gespeichert. Dadurch entstehen mentale Bindungsmodelle, die aus den verinnerlichten Erfahrungen des Kindes über sich selbst und über die Bindungspersonen bestehen.
Am Ende der Bindungsentwicklung hat das Kind eine Bindung zur Bezugsperson aufgebaut. Im Falle einer Trennung kommt es daher zu Angst und Kummer. Bei einer längeren oder andauernden Trennung entsteht beim Kind eine Mischung aus Protest, Verzweiflung und Ablösung. Ein sehr früh erlebter Verlust der primären Bindungsperson oder eine mangelnde Verfügbarkeit dieser kann zu deutlichen Beeinträchtigungen in der sozial-emotionalen Entwicklung des Kindes führen. Dies kann auch noch Auswirkungen auf die Beziehungen im Erwachsenenalter haben (vgl. Grossmann 1997, S. 59).
„Bindungsqualitäten als emotionale Lebenserfahrung sind im Individuum als „Arbeitsmodelle“ (internal working models“; Bowlby, 1973) verinnerlicht“ (Grossmann 1997, S. 59). Im Arbeitsmodell werden Erfahrungen mit der Umwelt, der eigenen Person und der Bindungsperson gespeichert. Diese Erfahrungen beeinflussen später die Qualität der Beziehung zu anderen Menschen. Erst durch die wachsenden kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten und durch die wachsenden Gedächtnisleistungen ist das Kind in der Lage, die Erfahrungen mit seiner Bindungsperson zu mentalen Repräsentationen oder Arbeitsmodellen zusammenzufassen. Während der ersten Lebensjahre entwickeln sich diese Repräsentationen durch die Erfahrung von Zuwendung und Verfügbarkeit der Bindungsperson. Auf der Basis dieser Erfahrungen entwickelt das Kind eine spezifische kognitive Voreingenommenheit von sich, seiner Umwelt und seiner Bindungsperson. Wenn ein Kind die Erfahrung macht, dass es sich in belastenden Situationen auf seine Bindungsperson verlassen kann, wird es diese Situationen besser aushalten können. Die Arbeitsmodelle wirken im Laufe der Entwicklung auch in Abwesenheit der Bindungspersonen (Grossmann 1997, S. 61).
Ainsworth definierte mütterliche Feinfühligkeit anhand von vier Merkmalen:
(1) Die Bindungsperson muss die Befindlichkeit des Säuglings aufmerksam im Blick haben,
(2) Die Bindungsperson muss die Äußerung des Säuglings aus seiner Perspektive richtig interpretieren,
(3) Die Bindungsperson muss prompt auf die Bedürfnisse und Signale des Säuglings reagieren, damit dieser eine Verbindung zwischen seinem Verhalten und dem seiner Mutter erkennen kann, und
(4) die Reaktion der Bindungsperson muss der Entwicklung des Kindes angemessen sein.
In diesem Zusammenhang dürfen jedoch Feinfühligkeit und Überbehütung nicht verwechselt werden. Die Mutter soll dem Kind zwar uneingeschränkt zur Verfügung stehen, darf ihm aber auch nichts abnehmen, was es selbst bewältigen könnte (vgl. Grossmann 1997, S. 62f.). Feinfühligkeit bedeutet zudem, das Kind und seine individuelle Eigenart zu akzeptieren. Längsschnittliche Untersuchungen haben nachgewiesen, dass der Grad der mütterlichen Feinfühligkeit in direktem Zusammenhang zum Bindungsmuster des Kindes steht. So ergibt sich, dass Babys feinfühliger Mütter weniger weinen, bei Leid die Nähe zur Mutter suchen, sich aber auch wieder von ihr lösen, wenn sie getröstet worden sind, weniger aggressiv und ängstlich sind, mehr Vertrauen in die Verfügbarkeit der Mutter haben, eher auf Gebote und Verbote der Mutter eingehen, bessere vorsprachliche kommunikative Fähigkeiten aufweisen und die Mutter als sichere Basis zur Exploration nutzen. Dem gegenüber ergibt sich, dass Babys weniger feinfühliger Mütter in der Trennungssituation eine Mischung aus Unabhängigkeit und Ängstlichkeit zeigen, sich nur schwer beruhigen lassen und weniger auf die Gebote und Verbote der Mutter eingehen (vgl. Grossmann 1997, S. 63).
3.5.1 „Fremde Situation“
Bei der „Fremden Situation“ handelt es sich um ein von Mary Ainsworth entwickeltes entwicklungspsychologisches Experiment, dass die von John Bowlby angenommen Bindungsqualitäten unter Laborbedingungen untersuchen und nachweisen sollte. Diese Testsituation dient als Möglichkeit der empirischen Überprüfung der Bindungstheorie. Das Verfahren eignet sich für Kinder im Alter von 11-20 Monaten. In der „Fremden Situation“ werden Mutter und Kind zunächst in einen fremden aber attraktiven Spielraum geführt und befinden sich dort für einige Zeit allein, damit das Kind die neue Umgebung erkunden kann. Im Anschluss betritt eine fremde Person den Spielraum und versucht Kontakt mit Mutter und Kind aufzunehmen. Daraufhin verlässt die Mutter den Raum und die fremde Person bleibt mit dem Kind allein. Das führt dazu, dass beim Kind das Bindungsverhaltenssystem aktiviert wird. Im Anschluss kehrt die Mutter zurück in den Raum und beschäftigt sich mit dem Kind. Dies führt dazu, dass das Explorationsverhaltenssystem aktiviert wird – die fremde Person verlässt den Raum. Daraufhin verlässt die Mutter mit deutlichem Abschiedsgruß den Raum, woraufhin die fremde Person den Raum erneut betritt. Sie versucht, wenn nötig, das Kind zu trösten. Nach einiger Zeit betritt die Mutter erneut den Raum – die fremde Person verlässt gleichzeitig den Raum. In diesen sich abwechselnden Episoden der „Fremden Situation“ erfährt das Kind in zunehmendem Maße Unvertrautheit und Fremdheit, so dass das Bindungsverhaltenssystem aktiviert wird. Anhand der Reaktion des Kindes auf die Rückkehr der Mutter kann die Bindungsqualität des Kindes erfasst werden.
3.5.1.1 Bindungsmuster
Durch die Befunde der „Fremden Situation“ gelang es Mary Ainsworth, ein Klassifikationssystem zu entwickeln, durch das sich die Mutter-Kind-Beziehung in eine sichere, unsicher-vermeidende und unsicher-ambivalente Bindung unterteilen lässt. Kinder, die keinem dieser Bindungsmuster zugeordnet werden können, werden als desorganisiert-desorientiert bezeichnet. Sicher gebundene...