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E-Book

Risse im Asphalt

Eine Kindheit im Sozialismus

AutorStefanie Röfke
VerlagBerlin Story Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl198 Seiten
ISBN9783957237101
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
An einem Sommermorgen des Jahres 2017 kehrt die Autorin zum Ort ihrer Kindheit zurück, in die Plattenbausiedlung Marzahn im Ostteil Berlins. In der DDR der 80er-Jahre sozialisiert, begibt sie sich auf eine Spurensuche zurück in ihre sozialistische Kindheit. Dabei führt sie ihre Zeitreise zu verschiedenen Stationen des Wohngebietes. Gerüche, Farben und Objekte wirken wie Katalysatoren und erwecken Erinnerungen an frühkindliche Prägung, Krippe und Kindergarten, die ersten Schuljahre bis hin zum Fall der Mauer. Ihre mit weißen Flecken übersäte Erinnerungslandkarte füllt sich nach und nach mit Bildern von Pioniernachmittagen und Ferienlagern, verschwundenen Gefährten und verdrängten Geheimnissen, die in nachdenklichen und humorvollen Geschichten aufblitzen. Unterhaltsame Details aus der Alltagsgeschichte der DDR verknüpfen sich mit einer persönlichen Entdeckungsreise zu einem vielschichtigen Panorama des Kindseins im letzten Jahrzehnt der DDR.

Stefanie Röfke, Jahrgang 1980, wuchs im Ostteil Berlins auf. Sie studierte Geschichtswissenschaften und Polonistik, volontierte in verschiedenen Verlagshäusern und machte sich anschließend mit der Text­agentur 'Federstrich' selbstständig. Seit 2014 lebt sie im englischen Yorkshire. Hier arbeitet sie als freiberufliche Texterin, Autorin und Lektorin.

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Leseprobe

FLACKERNDE SCHATTEN


Gepolter im Treppenhaus reißt mich aus meinem lose aneinandergeknüpften Gedankengeflecht. Konfuses Stimmengewirr dringt an mein Ohr. Die Haustür fliegt mit einem quietschenden Krächzen auf und entlässt drei dubiose Gestalten, die sich nacheinander aus der Öffnung schieben.

»Tach auch!«, maunzt der Kleinere der Drei mir zu und jongliert seinen Kaugummi mit weit geöffnetem Mund von der einen zur anderen Kauleiste. Mit seinem haarlosen Kopf, der etwas schief auf seinem Hals zu sitzen scheint, den verschmitzten Grübchen und der gedrungenen Figur erinnert er mich an die Comicfiguren aus dem »Mosaik«. Ich erwidere seinen Gruß mit einem schmalen Lächeln. Die anderen beiden, schlaksige, rotblonde Hünen, die einander bis aufs Hemd ähneln, schleppen gemeinsam einen vergilbten Kühlschrank aus dem Hausinneren und blicken ganovengerecht finster drein. Rückwärts schleichend balancieren sie Schritt um Schritt den sperrigen Kasten über den Treppenabsatz auf den Gehweg hinunter, während der kleine Glatzkopf sie mit hektisch ausholenden Handbewegungen dirigiert.

»Man muss ja sehen, wo man bleibt, wa?« Er zwinkert mir schmatzend zu und ich frage mich, in welchen Verhältnissen er lebt, dass er über einen offensichtlich kaputten Kühlschrank in einen derartigen Freudentaumel gerät. Doch als hätte er meine Gedanken erraten, fügt er mit stolzem Grinsen hinzu: »Mein Cousin ist so’n Elektrofritze. Der kriegt den wieder tippi toppi in Schuss. Dafür kriegt man sicher noch ‘n Hunni.«

Ich bin mir unschlüssig, ob ich den offenbar beruflich erfolgreicheren Cousin wegen seiner verwandtschaftlichen Beziehungen bedauern sollte, zumal nicht sicher ist, ob dieser nicht vielleicht sogar selbst hinter dieser findigen Geschäftsidee steckt. Also entschließe ich mich zu einem weiteren schmalen Lächeln und hoffe, damit nicht noch detaillierter in die Geheimnisse der Unterwelt eingeweiht zu werden.

»Ey Alter, hör auf die Olle anzulabern. Schmeiß die Karre endlich an!«, schnauzt der Vordermann und deutet mit einem Nicken auf einen völlig verbeulten Opel Astra, der mitten auf der Straße parkt.

Der unsanft auf seine Pflichten Gestoßene reißt die Augen auf, schiebt seine fleischigen Finger erst in die vorderen Taschen seiner Hose, dann in die hinteren, doch seine Hände bleiben leer. Mit panischem Blick scannt er den Boden zu seinen Füßen ab.

»Was’n los? Wo ist der Autoschlüssel, du Depp?«, schnauzt der Kantigere der Zwillinge den verzweifelt Hin- und Hersuchenden an. Der wendet sich mit einem Aufschrei abrupt von der Szene ab und stürzt auf das Gefährt zu. Seine Kumpel ächzen und fluchen unter ihrer Last. »Der Idiot hat den Schlüssel schon wieder steckenlassen. Der kann sich seine Prozente sowas von abschmieren, sag ich dir. Verdammter Schwachkopf!«

Ich entschließe mich, die angespannte Situation nicht länger als nötig zu strapazieren und nutze den Moment der Unachtsamkeit. Bevor die Tür wieder ins Schloss fällt, schiebe ich meinen Fuß dazwischen und schlüpfe in das Hausinnere.

Ein beißender, ammoniakgetränkter Geruch fährt mir in die Nase. Schlagartig halte ich die Luft an, ziehe ein zerknülltes Taschentuch aus meiner Jackentasche und halte es mir schützend vor die Nase. Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen. Die Jungs haben gute Arbeit geleistet. Entweder hatte der Kühlschrank wirklich zu den einzigen noch verwertbaren Gegenständen gehört, die sich auf ihrem Plünderungszug finden ließen, oder sie wussten einfach nicht, was sie mit dem restlichen Plunder anfangen sollten. Der Hausflur ist komplett zugemüllt. Ich komme mir vor wie eine gerade erst ausgelernte Spurensichererin, die den Tatort mit unsicherer Miene abscannt, auf der Suche nach verräterischem Beweismittel, um einen ungehaltenen Chef zufriedenzustellen.

Mit storchartigem Gang arbeite ich mich voran, steige die Stufen zum ersten Stockwerk hinauf. Mein Blick fällt auf metallene Briefkästen, von denen einige aufgebrochen worden sind, andere vor papiernen Neuigkeiten überquellen. Die Namensschilder sind zum Teil zerkratzt oder anderweitig entfernt worden. Das einst unverzichtbare Nachrichtenauffangsystem des Wohnhauses ist vollkommen überflüssig geworden. Durch die verbeulten Schlitze hatte ein uniformierter Beamter einst handgeschriebene oder mit Schreibmaschine getippte Botschaften eingeworfen. Diese waren zuvor von geheimen Kontrollmechanismen für belanglos befunden worden, sodass sie ihren Weg in die Wohnzimmer fanden, wo sie ein beruhigendes Gefühl verbreiteten. Eine in wenigen Zeilen festgehaltene Vergewisserung, dass die alltägliche Ordnung fortbestand, Omas Ausflug in die Hohe Tatra ihrer Bronchitis zur Heilung verholfen hatte, die Kinder im Ferienlager nicht auf dumme Gedanken kamen oder der Brieffreund in Nicaragua immer noch arm genug war, dass man ihn mit einer Tüte Sahnebonbons erfreuen konnte.

Hatte man das mit Tintenklecksen und Märchenmotiven verzierte Briefpapier herumgereicht, wurde es in einer hübschen Schachtel verwahrt und lautlos unter das Bett geschoben. Im Grunde war der Inhalt zwar ein sentimental bedeutsamer, aber nicht der entscheidende Bestandteil eines Briefes. Auch die fleckigen, durch zahlreiche Hände verunreinigten Umschläge wurden auf einen sorgfältig gegen Zugluft abgeschirmten Stapel gelegt. Sobald dieser hoch genug war, wurden die Briefmarken in liebevoller Handarbeit abgelöst und in Alben eingeklebt, von denen man sich eines Tages eine lohnende Dividende versprach. Doch die Zeiten, in denen dem alltäglichen Gang zum Hausbriefkasten mit einer erwartungsvollen Vorfreude entgegengefiebert worden war, waren endgültig vorbei. Eine Flut von bunten Werbeprospekten und vorgedruckten Mahnbescheiden überschwemmte die metallenen Kästen mit funktionaler Nüchternheit. Auch in meiner Schlafzimmerkommode schlummert irgendwo in der hintersten Ecke ein Karton mit unzähligen Briefen in verblasster Schrift. Irgendwo, an einem gut verborgenen Ort, liegt auch ein Briefmarkenalbum mit vergilbten Seiten, von denen sich die transparenten Aufbewahrungstaschen gelöst haben und in dem die einst gut sortierten Bildchen mit den gezackten Rändern heillos durcheinandergepurzelt sind.

Als ich mich umdrehe, entdecke ich hinter mir einen Fahrstuhl. Bis auf eine neu eingesetzte Hightech-Knopfleiste und eine rote Displayanzeige hatte er sich über die Jahre überhaupt nicht verändert. Obwohl ich angesichts des fortgeschrittenen Verfalls, der mir aus jedem Winkel des Gebäudes entgegenschlägt, stark daran zweifle, dass er noch funktionstüchtig ist, trete ich näher heran und drücke nacheinander alle Knöpfe. Genauso hatte ich es als Kind unzählige Male getan, sehr zur Freude meiner Nachbarn, deren Ausflug in den Konsum oder zur Wochenend-Datsche sich regelmäßig um einige Minuten verzögerte. Doch das kribblige Gefühl einer als Unverschämtheit klassifizierten Tat will sich einfach nicht einstellen. So sehr ich auch in den verschlungenen Gängen meines Gedächtnisses umherirre und danach Ausschau halte, ich habe den Zauber verloren, der sich mit kindlicher Arglist paarte und der nicht mehr zurückkehrte, wenn man ihn in einem unachtsamen Moment hatte ziehen lassen.

Ich lege meine Hand an die blaue Stahltür und blicke durch das längliche Milchglasfenster wie durch ein nebliges Fernrohr, hinter dem sich Vergangenes zu einem flimmernden Panorama verdichtet. Wie in einem verstaubten Stummfilm, der aus unzähligen Fragmenten zusammengeflickt wurde, flackern Bilder auf und ab, formen eine Geschichte, die nur noch einen halbseidenen Sinn ergibt, erschließbar für einen kurzen Augenblick, der in Wirklichkeit längst vorübergezogen ist. Meine Stirn trifft auf kaltes Glas und meine Lider senken sich, als hätte mich eine lähmende Schläfrigkeit erfasst. Längliche Schatten bäumen sich im Wechsel des Lichts empor, bestrebt die eisernen Tore zu durchbrechen, die sie im Gestern gefangen halten. Ich stehe im Hier und Jetzt und kann ihre Sprache nicht verstehen, die sie mir mit stummen Mündern entgegenspeien. Also lasse ich sie nicht frei, sondern schaue zu, wie sie sich um sich selbst windend im Schacht versinken.

Als ich meine Augen wieder öffne, stehe ich immer noch im ersten Stockwerk herum. Doch etwas hat sich verändert. Die Luft brennt nicht mehr in meinen Lungen und ich lasse das Taschentuch in meine Hosentasche zurückgleiten. Vertraute Aromen strömen durch meine Nasenlöcher und übertünchen den modrigen Geruch von feuchtem PVC, der eben noch dagewesen ist. Verwundert blicke ich mich um. Dann bemerke ich, dass meine Füße auf frisch gebohnertem Boden stehen und der Sperrmüll um mich herum verschwunden ist, genauso wie das Geschmiere an den Wänden. Das Treppenhaus wirkt beinahe makellos, auf den Fensterbrettern stehen Pflanztöpfe, aus denen herzförmige Blätter wie Girlanden nach unten ranken. Auch das Geländer sitzt wieder Strebe für Strebe in seiner Fassung. Jetzt fühle ich es deutlich: Das Haus ist immer noch bewohnt. Doch es sind nicht mehr Menschen, die es mit...

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