II. VIA DI MONTE TARPEO
DER ERSTE VERRAT AN DER STADT
DAS SCHMALE STRÄSSCHEN schlängelt sich den Südhang des Kapitols hinauf. Eigentlich liegt die Via di Monte Tarpeo recht versteckt, doch es gibt keine Straße im Zentrum von Rom, die die Touristen noch nicht entdeckt hätten. Und so stehen die Chancen gut, links und rechts von Segway-Fahrern überholt zu werden, während wir unterwegs zu einem der schönsten Ausblicke Roms die Straße hinaufspazieren, den einzigen Weg auf den Kapitolshügel, der auf zwei Rädern zu bewältigen ist. Der Aufstieg zu Fuß ist zwar anstrengender, aber dafür hat die Belohnung, die einen oben erwartet, auch einiges zu bieten.
Wann sich die Gewohnheit eingebürgert hat, einmal oben angelangt, über die Schulter mit Münzen auf den Architrav zu zielen, der sich ein paar Meter unterhalb des Geländers befindet, ist nicht bekannt, aber es ist an dieser Stelle auch empfehlenswerter, sich einfach dem Forum Romanum zuzuwenden. Vor allem im sanften Licht eines Frühlingsabends raubt das alte Tal mit dem majestätischen Kolosseum im Hintergrund jedem Betrachter den Atem. Dort unten, zwischen den Trümmern der römischen Vergangenheit, wird der Besucher leicht von einem Gefühl der Mutlosigkeit erfasst, und durch das Gewirr der verschiedenen historischen Schichten ist es nahezu unmöglich, sich vorzustellen, wie es hier einmal ausgesehen hat. Aber von der Via di Monte Tarpeo aus, mit den Ruinen zu unseren Füßen, scheint es, als erwachte vor unseren Augen alles zum Leben, als verschmölzen alle Säulen, Mauerreste, Straßen, Bogen und Tempelfragmente zu einem perfekt zusammenhängenden Ganzen. Dem vergangenen und zu Ruinen verfallenen Versprechen grenzenloser Macht.
Wie vollzog sich der Übergang von der Handvoll Hügeldörfer am Tiber zu einer kleinen Stadt? Und wie verwandelte sich ein Tal voller Gräber in das tosende Zentrum ebendieser Stadt? In genau diese »Übergangsphase«, bei deren Erforschung Historiker bis heute weitgehend im Dunkeln tappen, verweist die sich hügelaufwärts windende Via di Monte Tarpeo. Der Mons Tarpeius erscheint bei einer Reihe römischer Autoren – unter anderem Varro, Livius und Sueton – als der »ursprüngliche Name« des Kapitols. Manchmal wird der ganze Hügel so bezeichnet, manchmal auch nur seine südwestliche Spitze. Sämtliche römischen Geschichtsschreiber und Chronisten erwähnen diesen kleinen Ausläufer des Kapitols, weil mit ihm eine recht grausige altrömische Sitte verbunden war. Denn der »Tarpejische Felsen« (die lateinischen Bezeichnungen variieren von mons, arx und saxum bis hin zu rupes) am südwestlichen Ende des Hügels war die Stelle, wo vor den Augen einer gespannt wartenden Menge »Verbrecher hinabgeworfen wurden«, wie der griechische Autor Plutarch in seinem Leben des Sulla trocken und beiläufig bemerkt.
Orte wurden im alten Rom nicht zufällig gewählt, und hinter jeder Bezeichnung verbirgt sich eine jahrhundertealte Geschichte – so jedenfalls wollen es uns die römischen Autoren gern glauben machen. Ihnen zufolge wurde der Hinrichtungsfelsen nach dem berüchtigtsten Verräter der Geschichte der Stadt benannt, einem habgierigen Menschen, der Schande über alles brachte, was Rom verkörperte. Sein Name war Tarpeia, und es handelte sich natürlich um eine Frau. Tarpeia, eine scheinbar fromme, unschuldige Person, war eine Priesterin der Göttin Vesta, eine sogenannte Vestalische Jungfrau, die ein strenges Keuschheitsgelübde abgelegt hatte, und Tochter des römischen Befehlshabers Spurius Tarpeius. Ihrem makellosen Ruf zum Trotz gelang es Titus Tatius, dem Anführer des benachbarten Volks der Sabiner, der es auf das junge römische Städtchen abgesehen hatte, sie mit der Aussicht auf Gold zu bestechen. Er brauchte Hilfe, um mit seinen Männern den inzwischen befestigten Kapitolinischen Hügel zu erstürmen, auf dem sich die römischen Truppen verschanzt hatten. Tarpeia hielt ihr Versprechen und schmuggelte den Feind in die Stadt – woraufhin sie von den Sabinern auf der Stelle mit jenen feindlichen Kriegswaffen getötet wurde, die sie selbst in die Mauern eingelassen hatte.
Jeder, der – heute genau wie im Rom der Republik und Kaiserzeit – diese Geschichte liest oder hört, weiß, dass Rom den Kampf gewinnen wird. Aus den frühesten Auseinandersetzungen mit benachbarten Völkern gingen die Römer stets als Sieger hervor, dieser Teil der Geschichte ist unbestreitbar wahr. Die Sabiner wurden geschlagen, und die Römer entdeckten den Leichnam der Verräterin, die sie an den Rand einer Niederlage gebracht hatte. Sie warfen ihren Körper von dem Felsen, der fortan ihren Namen tragen sollte. In den ersten, im fünften Jahrhundert vor Christus erlassenen römischen Gesetzen wurde festgelegt, dass Verräter und sonstige Verbrecher künftig dasselbe Schicksal erleiden sollten wie Tarpeia. Soweit uns aus schriftlichen Quellen bekannt ist, wurde der letzte Verbrecher im Jahr 43 n. Chr. vom Tarpejischen Felsen gestürzt, danach wurde diese Form der Bestrafung verboten. Der Name Mons Tarpeius überdauerte vermutlich noch eine Weile – wir finden ihn in einer Inschrift aus der Mitte des dritten Jahrhunderts wieder. Und im heutigen Straßennamen Via di Monte Tarpeo.
Die Geschichte der Tarpeia wurde uns durch zwei Männer überliefert, die im ersten Jahrhundert vor Christus geboren wurden: den Dichter Properz und den Geschichtsschreiber Livius. Wie zahllose andere Geschichten über die Zeit kurz nach der Gründung Roms trägt auch diese legendenhafte Züge – immerhin lagen die Ereignisse schon damals mehrere Jahrhunderte zurück. Sie sind elegante Lösungen für ein Problem, vor dem nicht nur die römischen Geschichtsschreiber, sondern auch ihre Nachfolger standen (und immer noch stehen): Niemand weiß genau, wie sich der Übergang von der Ansammlung einiger Bauerndörfer hin zu der kleinen, ehrgeizigen Stadt Rom vollzog. Schriftliche Zeugnisse gibt es erst seit dem Ende des sechsten Jahrhunderts vor Christus, nach der Weihe des Tempels des Jupiter Optimus Maximus und dem Entstehen der Republik. Viel mehr, als dass sich die kleine Stadt Rom im sechsten Jahrhundert in Bezug auf Aussehen und Struktur nicht wesentlich von ihren griechischen Pendants, bei denen es sich ebenfalls um Aristokratien handelte, unterschied, kann niemand mit Gewissheit sagen.
Der Versuch, diese Lücke zu füllen, hat, unter anderem bei Livius, zur Konstruktion einer sogenannten »Königszeit« geführt, einer etwas mehr als zwei Jahrhunderte währenden Phase (von 753 bis 509 v. Chr.), in der stets neue Könige (rex, Plural reges) an der Spitze der Stadt standen. Livius zufolge gab es insgesamt sieben von ihnen, und diesen sieben Königen wurden unterschiedliche religiöse, politische, administrative und militärische Maßnahmen zugeschrieben, die den Grundstein legten zu dem, was sich nach und nach zu einer »ernstzunehmenden« Stadt entwickelte. Diese verschiedenen Handlungsstränge, zu denen neben der Geschichte der Tarpeia beispielsweise auch der berühmte Raub der Sabinerinnen gehört, werden inzwischen als faszinierende Dichtungen bewertet, als das Produkt einer fantasievollen, bedeutungsreichen oralen Tradition.
Natürlich haben Archäologen im Boden nach den frühesten Jahrhunderten Roms gesucht, und sie konnten, mit aller gebotenen Vorsicht, feststellen, dass Rom im sechsten Jahrhundert vor Christus tatsächlich allmählich größer und wahrscheinlich auch mächtiger wurde als die umliegenden kleinen Stadtstaaten. Dies deckt sich zumindest teilweise mit der Periode, die die alten Autoren als Königszeit bezeichnen. Was sich vor dem sechsten Jahrhundert, also in der Zeit von Livius’ ersten drei Königen, abspielte, ist schwer zu sagen. Wenn wir von den archäologischen Funden ausgehen, gleicht Rom in jener Phase noch jedem beliebigen anderen kleinen Ort in Mittelitalien. Wo es signifikante Unterschiede gibt, wirken sie sich für die aufstrebende Stadt am Tiber eher nachteilig aus: Sowohl im nördlich gelegenen Etrurien als auch südlich von Rom finden sich Orte, die viel wohlhabender waren, mehr städtische Strukturen aufwiesen und eine stärker differenzierte aristokratische Elite besaßen. Sicher gab es auch im Rom des siebten Jahrhunderts vor Christus schon eine soziale Hierarchie, wie beispielsweise aus dem Fund von Bronzewaffen in einem Grab auf dem Esquilin hervorgeht, doch sollte sich diese erst später zu einem komplexeren Gefüge entwickeln. Wie es Rom gelang, seine Nachbarn zu überflügeln, wird wohl für immer ein Rätsel bleiben. Eine lineare Entwicklung ohne Auf und Ab wird es sicher nicht gewesen sein. Womöglich haben sich schlichtweg die landwirtschaftlichen Techniken verbessert, woraufhin der Handel aufblühte, die Bevölkerungszahl zunahm und die Hügeldörfer nach und nach zusammenwuchsen. Zunehmende gemeinschaftliche Aktivitäten, etwa bei Verteidigung, Handel, Ritualen und Kulthandlungen, entwickelten sich auf diese Weise beinahe von selbst.
Der erste Nachweis eines gemeinsamen »städtischen« Bewusstseins erscheint irgendwo in der Zeit zwischen 650 und 575 v. Chr., als das sumpfige Tal, das später zum Forum Romanum werden sollte und auf das man so wunderbar von der Via di Monte Tarpeo hinunterschauen kann, trockengelegt und befestigt wurde. Damit war der Weg für eine neue Phase in der Frühgeschichte Roms bereitet. Um von einer Ansammlung einzelner Dörfer zu einer kleinen Stadt...