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E-Book

Rudi und ich

AutorHosea Dutschke
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783843706261
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
»Ich komme mit einem Schrei zur Welt. Im selben Moment wird mein Vater mit einem Stock niedergeschlagen, einem kräftigen Stock, aus einem alten, schweren Stück Eiche gedrechselt.« Rudi Dutschke war eine Ikone der deutschen Studentenbewegung. Aber auch als Vater war er außergewöhnlich. In diesem Buch wagt sein Sohn Hosea eine sehr persönliche Annäherung. Er erzählt von seiner Zeit mit Rudi Dutschke, von der Trauer über dessen Tod und vom Versuch, seinen eigenen Weg zu finden.

Hosea Dutschke wurde 1968 in Berlin geboren. Er studierte u.a. Politologie an der FU Berlin und lebt heute mit seiner Familie als Verwaltungsdirektor für Pflege und Gesundheit in Aarhus, Dänemark.

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Leseprobe

Die Reise

Auf dem Gymnasium habe ich die Odyssee gelesen. Der Krieger Odysseus gebraucht Trug und List, bricht Versprechen und beschließt sein Leben dennoch als größter Held aller ­Zeiten. Er überwindet alle Gefahren, bis er schließlich nach ­einer heroischen Irrfahrt durch die ganze bekannte Welt nach zehn Jahren heimkehrt. Er tötet alle Freier seiner Gattin Pe­nelope, wirft sich in ihre Arme und lebt glücklich bis ans Ende seiner Tage. Satt an Jahren scheidet er aus der Welt. Satt. Und mit sich selbst im Reinen, klingt sein Leben sanft aus. Sanft.

Es ist einer dieser Tage, an denen ich zu nichts Lust habe. An denen ich mich nach dem Aufwachen nur wieder im Bett umdrehen und mich unter der Decke verkriechen möchte. Ich bin teilnahmslos. Wie im Koma. Schwermütig. Meine körperliche Hülle ist da, aber meine Seele hat Schutz gesucht. Wie ein Wesen ohne Kraft stehe ich auf. Faul. Nehme mir etwas zu essen – Milchbrötchen, Butter und Käse. Ich kaue stumpf drauflos.

Ich bin traurig, allein und verkrieche mich wieder unter der Decke, ja, wühle mich geradezu in sie hinein. Suche Geborgenheit. Meine Seele igelt sich ein. Der Mittagsdämon hat Besitz von mir ergriffen. Ich starre apathisch ins Zimmer. Es ist ein geistiger Verfall, ein Defekt. Meine Gedanken sind versunken, als hätte es sie nie gegeben.

Beherrsche deinen Leib. Beherrsche deinen Leib. Bewahre deine Seele gut. Ehre deinen Leib. Die Augen sind der Spiegel der Seele. Die Entscheidung liegt im Bewusstsein.

Der freie Wille will mehr. Er will Entscheidungen, die nicht schon im Voraus getroffen wurden. Aber gibt es ein sicheres Wissen, das nicht schon im Voraus entschieden wurde?

Eines weiß ich – das ich ein Zweifler bin. Was bin ich? Als was bin ich? Als ein denkendes Ding? Ein erlebendes Wesen? Ein Subjekt des Bewusstseins?

Ich weiß nicht, ob ich nur träume. Oder ist es Wirklichkeit? Während wir träumen, ist uns nicht bewusst, dass wir träumen.

Wo sind meine Gedanken verortet? Ich kann meine Gedanken mit niemandem teilen. Sie sind streng privat. An keinen Raum gebunden. Sind nur in mir. Ich bin eine Synthese aus Körper und Seele, aus Materie und Geist.

Ich bin ein Inneres. Ich bin ein Äußeres. Eine seelische Realität korreliert mit einer körperlichen. Aber wie können sie in Wechselwirkung zueinander treten?

Die Wirklichkeit, in der ich mich befinde, ist eine gesellschaftliche Konstruktion. In ihr befinde ich mich.

Die Sprache lässt mich werden, während ich spreche, und während ich spreche, bin ich.

Berlin, 1968

Meine Reise beginnt schon im Krankenhaus. Ich liege auf dem kalten Boden. Der Kopf meines Vaters ist rundum bandagiert und an Schläuche angeschlossen. Die Haare fallen ihm nicht mehr ins Gesicht. Nur die Apparate sind im Zimmer zu hören. Laufend wird sein Herzrhythmus gemessen. Er ist schwach. Er liegt im Koma.

Ich liege auf dem Bauch. Stärke meine Nacken- und Rückenmuskulatur und trainiere meinen Gleichgewichtssinn. Ich sehe, sehe immer mehr. Meine Mutter sitzt neben mir und beugt und streckt meine Arme, Beine und Finger. Ich entspanne mich. Greife nach ihrem Finger. Lasse ihn wieder los.

Meine Reflexe funktionieren. Der Greifreflex. Der Saug­reflex. Ich reagiere auf die Stimme meiner Mutter. Möchte gestillt werden. Sie stillt mich. Ich nehme das Geräusch ihres Herzschlags wahr. Drehe mich in seine Richtung. Ich sauge, bis ich satt bin. Stecke meine geballten Fäuste in den Mund und sauge an ihnen.

Ich sehe etwas. Stemme mich auf die Ellenbogen hoch. Verändere mich von Tag zu Tag. Bei meinem Vater verändert sich nichts. Er liegt im Koma. Ich sehe das Flimmern auf dem Bildschirm, verfolge die Kurve des Herzrhythmus, wende meinen Blick nicht davon ab, kann Umrisse erkennen und Farben voneinander unterscheiden. Ich will meinem Vater etwas sagen. Er sagt nichts.

Meine Mutter und ich können nicht mehr in unserer Wohnung bleiben. Die Presse, der SDS, irgendwelche Verrückte, alle wol­len etwas von uns. Wir finden mal hier und mal dort Unterschlupf. Vorübergehend dürfen wir in die Wohnung von Bekannten ziehen. Die Reise beginnt freud- und ziellos. Wir wissen nicht, wo wir hinsollen, wir wissen nicht, wo wir bleiben sollen. Es ist eine Reise, die uns hinaus in eine Welt führt, die uns fremd ist. Reisen heißt leben. Reisen heißt überleben. Wir suchen nach dem Weg.

Betreten die Wohnung. Sie gehört für ein paar Tage uns. Bis die Presse uns erneut aufstöbert. Wir liegen im Bett. Stille.

Ich liege dicht neben meiner Mutter und beobachte, wie sie Unmengen von Briefen durchliest, die Menschen nach dem Attentat auf meinen Vater geschickt haben. Jedem Brief haftet ein anderer Geruch an. Es sind solche darunter, die muffig riechen, nach einem Briefschreiber, der nie frische Luft genossen hat. Viele riechen nach Zigarettenrauch, andere nach Parfüm – Chanel No. 5. Manche nach Urin, manche nach Erbrochenem. Viele nach Bleistift, die meisten nach Papier.

Jeder Brief macht ein anderes Geräusch, wenn er geöffnet wird. Manche sind versiegelt, und es braucht Geduld, sie zu öffnen. Andere sind mit Tesafilm zugeklebt. Jeder Brief hat eine andere Schrift. Manche sind mit Schreibmaschine geschrieben, andere von Hand – große Lettern, kleine Lettern, Schreibschrift, Druckschrift. Auch die Schriftfarbe variiert. Sie ist blau, rot oder schwarz. Meistens ist sie schwarz. Manchmal auch orange, gelb. Oder grün wie die Hoffnung. Häufig sind die Briefe bunt. Einige ziert ein Regenbogen, und sie haben einen grünen Hintergrund. Die besonders bunten Briefe sind von Kindern. Jede Schrift gibt auf ihre Weise Aufschluss über den Gemütszustand des Verfassers. Oft sieht man, dass beim Schreiben kräftig aufgedrückt wurde.

Vielfach spricht großer Hass aus den Briefen, es gibt aber auch Zeilen voller Liebe, Mitgefühl und Sorge um meinen Vater. Gemischt oft mit Wut und Verzweiflung über den Zustand der Welt. Auch Scham. Scham. Manche Schreiben sind regelrechte Kampfschriften oder politische Abhandlungen.

Meine Mutter liest alle Briefe genau durch. Brief um Brief. Seite um Seite. Zeile für Zeile. Wort für Wort. Buchstabe für Buchstabe. Der Durchschuss, die Striche, Zeichen, Punkte, Kommas und Schnörkel treffen sie jedes Mal wie ein Stich ins Herz.

Meine Mutter erhält auch ein Telegramm von Bundeskanzler Kiesinger, das sie sofort zerreißt. Später wird es wieder zusammengesetzt und in einem Buch veröffentlicht. Man sieht noch die Reißränder. Kiesinger schreibt:

»Ich bin über das Attentat auf Ihren Mann auf das tiefste empört. Was immer uns Deutsche an Verschiedenheit der politischen Meinungen trennen mag, es darf in unserem Land nicht dazu kommen, dass Meinungsverschiedenheiten mit brutaler Gewalt ausgetragen werden. Ich hoffe von Herzen, dass Ihr Mann von seinen Verletzungen völlig genesen wird.«13

Im Angesicht des Todes zeigen sogar extreme politische Feinde Mitgefühl und werden sich vielleicht bewusst, dass auch sie Opfer eines irregeleiteten, fanatischen Menschen werden können, eines selbsternannten Kriegers, dessen Gefühle sich in Hass und Gewalt entladen.

Die Reise ist hier. Im Raum. Ohne Begleitung. Alleine. Meine Mutter liest in ihrer Verzweiflung die bösartigen Briefe laut, um die Welle von Hass zu spüren, die ihr aus ihnen entgegenbrandet. Hass. Hass. Hass, ruft sie. Weint. Ich bin still.

In einem Brief liest meine Mutter:

»Der wird dich und deine Hure umarmend küssen. Der Tod. Endlich hast du auch ein wenig genossen, was du sonst anderen angedeihen lässt. Krawalle. Randalieren. Gottesdienste stören. Polizisten mit Pflastersteinen bewerfen. Mit deinen langen hässlichen Haaren siehst du ja aus wie ein Opa. Lebst noch immer von unserem Geld. Nimm deine Hure und dein Chinesen- oder Japanerkind. Dein Luderkind. Dein Hurenkind und mach, dass du hinter die Mauer kommst.«14

»Luderkind, Hurenkind«, wiederholt meine Mutter. Gibt mir einen Kuss. Wiederholt die Worte noch einmal. Gibt mir einen Kuss. Holt die Bibel. Schlägt das Buch Hosea auf und liest:

»Geh hin und nimm ein Hurenweib und Hurenkinder; denn das Land läuft vom Herrn weg der Hurerei nach. Und er ging hin und nahm Gomer, die Tochter Diblajims, zur Frau; die ward schwanger und gebar ihm einen Sohn.«

Meine Mutter sieht mich an. Blättert ein wenig im Buch. Verunsichert und verzweifelt. Zweifelt am Namen ihres Sohnes. An ihrem Sohn. Ihrem Mann. Dem Leben. Stößt auf eine an­dere Stelle in Hoseas Buch:

»Bekehre dich, Israel, zu dem Herrn, deinem Gott; denn du bist gefallen um deiner Schuld willen. Nehmt diese Worte mit euch und bekehrt euch zum Herrn und sprecht zu ihm: Vergib uns alle Sünde und tu uns wohl, so wollen wir opfern die Frucht unserer Lippen … Ich will für Israel wie ein Tau sein, dass es blühen soll wie eine Lilie, und seine Wurzeln sollen ausschlagen wie eine Linde und seine Zweige sich ausbreiten, dass es so schön sei wie ein Ölbaum und so guten Geruch gebe wie die Linde.«

Meine Mutter stupst mich mit ihrer Nase an. Bohrt sie in mich hinein. Inhaliert meinen Geruch. Inhaliert das neue Leben. Den Geruch von Vanille, Süße und Muttermilch. Der Geruch des Neugeborenen haftet jedoch nicht mehr an mir. Dieser ganz spezielle Geruch, der urplötzlich verschwindet – für immer.

Meine Mutter stolpert über andere Worte in der Bibel:

»Denn die Wege des Herrn sind richtig, und die Gerechten wandeln darauf; aber die Übertreter kommen auf ihnen zu Fall.«

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