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E-Book

Russland wachrütteln

Mein Vater Boris Nemzow und sein politisches Erbe

AutorSchanna Nemzowa
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783843713245
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Am 27. Februar 2015 wurde der russische Oppositionspolitiker Boris Nemzow in Moskau auf offener Straße erschossen. Schanna, seine älteste Tochter, stand ihm besonders nahe. Sie erzählt, warum ihr Vater sterben musste und wofür sie politisch kämpft. Boris Nemzow war eine zentrale Figur der russischen Opposition und ein erbitterter Gegner Putins. Dafür musste er sterben. Seine Tochter Schanna macht den russischen Präsidenten für den Mord verantwortlich. Sie ist besorgt um die Zukunft ihres Landes und beklagt ein Klima des Hasses gegen alle, die echte Demokratie fordern. Trotzdem hat sie den Mut, öffentlich Kritik zu üben. Mehr noch: Sie will das Lebenswerk ihres Vaters fortsetzen. Sie schildert, wie er sie geprägt hat - als Mensch und als Politiker. Und sie sagt deutlich, was sich in Russland ändern muss, damit sie wieder dort leben kann. Ein bewegendes Portrait, ein mutiger Aufruf - und ein Vermächtnis.

Schanna Nemzowa, Jahrgang 1984, ist Journalistin und Börsenexpertin.Sie war bis Mai 2015 Moderatorin beim russischen Wirtschaftssender RBK in Moskau. Im Juni 2015 ist sie ausgereist. Seit August 2015 arbeitet sie für die Deutsche Welle. Schanna Nemzowa wurde für ihr politisches Engagement mit dem polnischen Solidarnosc-Preis ausgezeichnet. Sie lebt in Bonn.

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Leseprobe

Die schrecklichste Nacht meines Lebens

Seit jenem Freitag im Februar 2015 ist nichts mehr in meinem Leben so, wie es vorher war. Ich war zu Hause in meiner Wohnung, im Zentrum von Moskau, nicht weit vom Kreml entfernt. Ich bin gegen Mitternacht zu Bett gegangen, weil ich am nächsten Morgen mit meiner Mutter in den Urlaub fahren wollte; die Koffer waren schon gepackt, wir waren mit den Gedanken schon so gut wie in Italien. Da weckten mich plötzlich schreckliche Schreie, solche, wie ich sie niemals zuvor gehört hatte. Meine ersten Gedanken waren: Ich habe vergessen die Tür zu schließen, wir werden überfallen, da sind sicher Einbrecher in der Wohnung.

Ich rannte aus meinem Zimmer und sah meine Mutter auf dem Sofa sitzen. Sie konnte kaum reden. »Vater wurde getötet«, sagte sie. Ich fragte sie, wer ihr das mitgeteilt habe. Sie sagte, Olga habe sie angerufen. Das ist eine Freundin meiner Mutter. Ich fragte: »Wo?« Und sie gab mir zur Antwort: »Tot. Erschossen. Auf der Bolschoi-Moskworezki-Brücke, auf dem Heimweg.«

Wenn meine Mutter nicht gewesen wäre, hätte ich die Nachricht bis zum Morgen nicht erfahren. Ich schalte mein Handy über Nacht immer aus, damit mich nicht irgendein zufälliger Anruf oder irgendeine Nachricht aus dem Schlaf holt. Dennoch konnte ich nicht sofort glauben, was meine Mutter gesagt hatte. Ich machte mein Telefon an, dann sah ich, dass es da bereits viele Beileidsbekundungen von Freunden und Kollegen gab. Aber ich wollte es immer noch nicht glauben. So ging ich ins Internet auf die Seite von CNN und da wiederum auf die Nachrichtenseiten. Und danach auf die Seite von RBK, dem Fernsehsender, bei dem ich damals noch arbeitete. Es gab keine Zweifel, leider.

Ich zog mich an, so schnell es ging. Zum Ort des Geschehens wären es zu Fuß fünfzehn Minuten gewesen, aber es regnete, und so nahmen wir ein Taxi. Unterwegs fragte uns der Taxifahrer, was auf der Bolschoi-Moskworezki-Brücke geschehen ist. Ich antwortete ihm, dass Boris Nemzow umgebracht wurde. Er zuckte mit den Schultern und sagte so etwas wie »Na und?«. Ich antwortete ihm, dass es doch irgendwie merkwürdig sei, wenn er sich so ausdrücke, denn es sei schließlich ein bekannter Mensch im Zentrum von Moskau umgebracht worden. Dann fügte ich noch hinzu, dass es sich um meinen Vater handle. Unsere Unterhaltung war damit abrupt zu Ende, aber ich werde mich immer an sie erinnern.

Fünf bis sieben Minuten später waren wir schon da, direkt gegenüber vom Kreml und der Basilius-Kathedrale mit ihren bunten Zwiebeltürmen. Mein Vater wohnte auf der anderen Seite des Moskwa-Flusses, gar nicht weit von meiner Wohnung entfernt, und wenn er im Zentrum war, dann ging er meist zu Fuß nach Hause. Die Strecke vorbei an den wichtigsten Sehenswürdigkeiten Russlands ist schön, romantisch und sehr russisch. Mein Vater liebte sie, so oft wie möglich lief er da entlang. Und so auch in jener Nacht auf den 28. Februar, wie sich später herausstellte.

Mein Vater war bei Echo Moskaus, dem letzten Radiosender in Moskau, der noch halbwegs kritisch berichtet. Dort gab er ein Interview über den großen Marsch des Frühlings, der für den 1. März 2015 in Marino geplant war, einer Trabantenvorstadt von Moskau, weil die Behörden der Opposition verboten hatten, ihn im Zentrum der Stadt abzuhalten. Mein Vater war einer der Organisatoren dieser Protestaktion. Nach dem Interview unterhielt er sich noch auf dem Flur und im »Wartezimmer« von Echo Moskaus mit Journalisten – eine alte Tradition bei dem Sender. Anschließend fuhr er vom Neuen Arbat weiter zum Manege-Platz, der direkt an den Roten Platz angrenzt. In dem alten Kaufhaus GUM, einem Konsumtempel des neuen Russlands und einem Denkmal historischer russischer Architektur, ist das Bosko-Café, eines seiner Lieblingslokale in Moskau – nicht zuletzt wegen der malerischen Kulisse, direkt am Roten Platz, gegenüber der Kreml-Mauer. Dort hatte sich mein Vater mit Anna Durizkaja, seiner ukrainischen Lebensgefährtin, zum Abendessen verabredet. Nichts deutete zu diesem Zeitpunkt auch nur im Geringsten darauf hin, dass es sein Henkersmahl werden sollte.

Als sie fertig gegessen hatten, gingen sie zu Fuß nach Hause. Über den Roten Platz, vorbei am Lenin-Mausoleum, das er immer mit großer Distanz betrachtete, dann weiter zur Basilius-Kathedrale, vorbei am Spasski-Turm des Kremls. Und dann, fast parallel zur Kreml-Mauer, hinunter zur Bolschoi-Moskworezki-Brücke, die hinüberführt in den historischen Stadtteil Samoskworetschie, was auf Deutsch so viel bedeutet wie »Hinter dem Moskwa-Fluss« und in dem sich unter den Zaren einst die Händler angesiedelt hatten.

Wahrscheinlich wurde mein Vater damals vom Geheimdienst beschattet. Vor Massenprotesten wie dem Marsch des Frühlings geraten Oppositionsführer, das hatte er selbst immer gesagt, verstärkt in den Fokus. Dass ihre Handys abgehört und auch als Mikrofon verwendet werden, um persönliche Gespräche aufzunehmen, ist keine Ausnahme, sondern die Regel. So wurden etwa die persönlichen Telefongespräche meines Vaters im Dezember 2011 in dem Boulevard-Medium Lifenews.ru veröffentlicht, was nach Ansicht vieler im Auftrag des Kremls geschah.

Nachdem mein Vater mit Anna die Brücke betreten hat, fährt auch eine Kehrmaschine auf die Brücke, wie auf Aufnahmen einer Überwachungskamera, die öffentlich gemacht wurden, zu sehen ist. Das Fahrzeug ist recht laut und fährt langsam. Es überholt die beiden, so dass sie für die Kamera nicht mehr sichtbar sind. Auf der Fahrbahn neben dem Paar, wo gerade noch reger Verkehr herrschte, sind auf einmal keine Autos mehr unterwegs. Bis auf einen Wagen, der weiß oder hellgrau ist. Auf der Videoaufzeichnung ist das schwer zu unterscheiden, da es schon dunkel war und zu dem Zeitpunkt Schneeregen fiel. Darüber hinaus war die Kamera in weiter Entfernung platziert. Dieses Auto nun fährt sehr langsam und bremst gleich hinter der Kehrmaschine. Dann geht alles ganz schnell: Jemand springt ins Auto, dieses fährt umgehend los, die Kehrmaschine bewegt sich weiter nach vorne und gibt so den Blick auf den Täter frei. Der muss offenbar meinem Vater hinterhergelaufen sein – und zwar vom Café aus – und auf den richtigen Moment gewartet haben. Und der richtige Moment war dann wohl der, als die Kehrmaschine aufgetaucht ist.

Anna erinnerte sich später, dass sie nicht sofort verstanden hatte, was passiert war. Sie hörte plötzlich Töne, die sie an Silvesterkracher erinnerten, und schaute nach unten, weil sie glaubte, sie würden zwischen ihren Beinen explodieren. Als sie wieder nach oben guckte, stürzte mein Vater bereits zu Boden. Anna dachte, dass er gestolpert sei oder sich schlecht fühle. Sie hörte sein Röcheln und setzte sich neben ihn. Dann war ihr klar, was geschehen war.

Sie rannte sofort los, um Hilfe zu holen, entdeckte die Kehrmaschine weiter vorne und versuchte, sie zu erreichen. Auf der Videoaufzeichnung ist zu sehen, dass sie einige Minuten neben der Kehrmaschine stehen bleibt.

Ihren Worten zufolge wollte der Fahrer der Kehrmaschine nicht helfen, gab ihr aber die Telefonnummer der Polizei. Die Videoaufzeichnung zeigt, dass mehrere Menschen vorbeigehen und -fahren. Einige bleiben stehen: Eine Frau im Pelzmantel etwa kommt näher heran, bückt sich und läuft dann sofort weiter; ein Auto bremst, ein Mann springt heraus, fragt offenbar irgendetwas und fährt dann weiter. Danach rennen zwei Personen zum Tatort, beugen sich so über meinen Vater, als würden sie etwas prüfen, und laufen dann zu einer Treppe, die von der Brücke nach unten führt. Danach kommen sie wieder. Wahrscheinlich sind das die Geheimdienstmitarbeiter, die meinen Vater zu diesem Zeitpunkt beschatten.

Zwölf Minuten nach den Schüssen trifft die Polizei ein. Eine schnelle Reaktionszeit für Moskauer Verhältnisse, ließe man den Ort des Geschehens außer Acht. Wenn Journalisten in unmittelbarer Nähe des Kremls eine TV-Kamera aus der Tasche holen und zu filmen anfangen, ist binnen weniger Augenblicke ein Beamter des Kreml-Sicherheitsdienstes da, meistens kommen sogar zwei, um sich nach der Identität des Kameramanns und nach dessen Dreherlaubnis zu erkundigen. Dass auf der Bolschoi-Moskworezki-Brücke, einen Steinwurf von der Kreml-Mauer und vielleicht zwei, drei Minuten Fußmarsch vom nächsten Stützpunkt des Kreml-Sicherheitsdiensts am Spasski-Turm entfernt, wo die Gegend nur so gespickt ist mit Überwachungskameras – dass also an einem der bestüberwachten Orte der Welt mitten in der Nacht mehrere Schüsse fallen und so langsam reagiert wird, das ist völlig unglaubwürdig.

Desgleichen ist es nicht nachvollziehbar, dass der FSO – der Föderale Wachdienst – keine Videoaufzeichnungen vom Tatort hat. Für alle sichtbar gibt es sehr viele (insgesamt mehr als zwanzig) Kameras auf dieser Brücke. Auf Nachfrage erklärte ein Mitarbeiter des FSO, dass alle Kameras auf das Innere des Kremls gerichtet seien. Dabei sind auf der Brücke und auch auf den Kreml-Mauern selbstverständlich Kameras, die in Richtung Brücke gerichtet sind. Der erste Chef der Ermittlungsgruppe sagte mir, dass die Kameras an jenem Tag nicht funktioniert hätten. Auch eine sehr seltsame Version.

Als erster von den Freunden und Weggefährten meines Vaters erreichte Ilja Jaschin den Tatort. Er hielt sich gerade zufällig im Stadtzentrum auf. Wenig später kam auch Wadim Prochorow, der seit vielen Jahren nicht nur ein treuer politischer Mitstreiter meines Vaters war, sondern auch sein Anwalt. Er streifte auch in diesem Moment nicht den nüchternen Blick des Juristen ab und wunderte sich, dass der Bauch meines Vaters aufgedunsen und kein Blut auf dem Asphalt zu sehen war. Später erklärten die Ärzte, dass die...

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