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Sarrazins Correctness

Ideologie und Tradition der Menschen- und Bevölkerungskorrekturen

AutorAndreas Kemper
VerlagUNRAST Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl178 Seiten
ISBN9783954050154
Altersgruppe12 – 
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Thilo Sarrazins Buch Vom neuen Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland erschien Ende Februar 2014. Darin wird er seine bereits in Vorträgen dargelegten Thesen zur Meinungsfreiheit in einem Rundumschlag gegen Political Correctness gewinnbringend vermarkten. Politisch absolut ?unkorrekt? steht Sarrazin dabei in der ideologischen Tradition der Menschen- und Bevölkerungskorrekturen. Wer von Gutmenschen und Tugendterror spricht, will die Primärtugenden der Menschlichkeit durch angebliche Tugenden der Korrektheit ersetzen. Sarrazin stellt sich gleichermaßen als Rebell gegen Political Correctness wie als Opfer von Zensur dar. Er lenkt damit ab von der Tradition der Korrektions-Anstalten und der eugenischen Bevölkerungskorrekturen, deren Ideologie er vertritt. Thilo Sarrazin zeigt, dass sich noch immer die Ideologie des Forderns und Förderns mit Fragen der qualitativen Bevölkerungspolitik verbindet. Die modernisierte Variante dieser Ideologie besetzt in den Auseinandersetzungen um emanzipatorische Kämpfe das Schlagwort Political Correctness. Mit diesem Trick wendet er den antiquierten Mief der Korrektheit gegen emanzipatorische Meinungen und Gruppen. Er dreht den Spieß des Bürgertums um und lässt ihn gegen sich gerichtet erscheinen.

Andreas Kemper, Soziologe (MA), engagiert sich schwerpunktmäßig in Theorie und Praxis gegen Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft. Er gründete das erste autonome Referat für studierende Arbeiterkinder und das Magazin "Dishwasher. Magazin für studierende Arbeiterkinder'. Seit 2005 ist er bei Wikipedia im Themenbereich Diskriminierung aktiv. Er schreibt an einer Doktorarbeit zum Thema "Klassismus" (2013).

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Leseprobe

1 Sarrazins Correctness


1.1 Der verdrehte Spieß


Thilo Sarrazin und auch die Verteidiger seines Buches Deutschland schafft sich ab haben mehrfach behauptet, die Meinungsfreiheit sei eingeschränkt, er dürfe seine Thesen nicht äußern. Tatsächlich hat er sie mit einer Millionenauflage und in zahlreichen Talkshows äußern können. Zu diesem offensichtlichen Unsinn ist eine Menge geschrieben worden. Insbesondere wurde angemerkt, dass aus dieser Wahrnehmung von Kritik als Zensur vielmehr das Bedürfnis zu sprechen scheint, die Kritik zu unterdrücken. So bemerkt Volker Weiß:

»Kritik ist aber ein normaler Bestandteil ernsthafter Debatten und kann nicht mit Zensur gleichgesetzt werden. Das im Fall Sarrazin unterstellte ›Diskursverbot‹ ist eine reine Propagandafloskel. Vielmehr lässt, wer die Gegenargumente für Zensur hält, selbst den Wunsch durchblicken, diese verstummen zu lassen. In der Stilisierung Sarrazins zum Helden des offenen Wortes brach sich augenscheinlich ein autoritäres Bedürfnis Bahn. Hermann L. Gremliza brachte den diesem Geschrei um Sprechverbote innewohnenden Wunsch auf den Punkt: ›Der Ruf nach Meinungsfreiheit ist der Ruf nach Zensur: Es gehört verboten, Sarrazins Rassenkunde zu widersprechen.‹ Bestätigt wurde dies schließlich im äußerst rüden Ton, den der Autor gegenüber seinen Kritikern anschlug, so dass ihm Beobachter attestierten, er sei selbst nicht diskussionsfähig.« (Weiß 2011)

Dies ist nicht die einzige Verdrehung. Es geht nicht nur darum, Kritik zu zensieren, sondern es soll zudem das Korrektionsgebaren, welches aus Sarrazins Buch spricht, den Kritiker*innen untergeschoben werden. In diesem Kapitel werde ich anhand eines Vortrags Thilo Sarrazins zur ›Politischen Korrektheit‹ zeigen, dass Sarrazin in seinem Bemühen, die ›politisch Korrekten‹ als die eigentlichen Spießer darzustellen, eine Vielzahl von Verdrehungen der Wirklichkeit bemüht. Um befreit vom Muff der Spießigkeit weiterhin kleinkarierte Anpassungen und Einschränkungen der Geringverdienenden und Arbeitslosen fordern zu können, versucht Sarrazin den Vorwurf der Korrektions-Forderungen zurückzugeben, den Spieß umzudrehen und auf sich zu richten mit den Worten ›Schaut her! Schaut her! Seht, wie die Tugendterroristen mich bedrohen!‹ Wie verdreht diese Sache mit dem umgedrehten Spieß ist, wird am Ende des Kapitels ersichtlich. Im Kapitel ›Abgeschriebene Rassenhygiene‹ möchte ich anhand von Anekdoten zur Wiederbelebung bevölkerungsqualitiativer Diskurse deutlich machen, vor welchen Schwierigkeiten Sarrazin und seine Vordenker*innen stehen. Denn die Ideen der Rassenhygiene müssen in einer Weise abgeschrieben werden, aus der nicht erkenntlich wird, dass sie im doppelten Sinn des Wortes abgeschrieben sind. In den dann folgenden Kapiteln wird herausgearbeitet, dass Sarrazins Workfare- und bevölkerungspolitischen Forderungen in der Tradition der Körper- und Bevölkerungskorrekturen stehen.

1.1.1 Sekundärtugendterror – Eine Widerstandskonferenz der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer

Nach dem zweiten Weltkrieg gab es in Deutschland das Problem, dass das Beamtentum weitgehend aus Menschen bestand, die jahrelang das NS-Regime aufrecht erhalten hatten. Mit der neuen Verwaltungshochschule in Speyer sollte versucht werden, Verwaltungsfragen nicht nur von der Denkweise der Juristen der 1940er Jahre bestimmen zu lassen.13 Es sollte eigentlich eine ›Entpreußung deutscher Verwaltung und Kultur‹ erreicht werden – eigentlich. So wäre es theoretisch ein gutes Zeichen, wenn an der Verwaltungshochschule Speyer, die auch als ›Kaderschmiede‹ gilt, da sie Führungskräfte ausbildet, Demokratietagungen stattfinden. Während der Dreizehnten Demokratietagung im Jahr 2011 ging es jedoch sehr viel eher um Widerstand als um Demokratie, und als kompetente Vortragende waren Thilo Sarrazin und Hans-Olaf Henkel eingeladen. Letzterer hatte schon häufiger betont, dass er die Thesen Sarrazins teile. Sarrazin hat einen Lehrauftrag für praktische Finanzfragen an der Verwaltungshochschule Speyer. In seinem Tagungsvortrag mit dem Titel Widerstand mit Wort und Feder: gegen Politische Korrektheit (Sarrazin 2012) behandelte er jedoch keine Finanzfragen, sondern das Thema, zu dem aktuell auch sein neues Buch herausgekommen ist: ›Tugendterror‹ und ›Political Correctness‹. Die Öffentlichkeit nahm von der Tagung keine große Notiz. Dass es sich nur um eine reaktionäre Form von Widerstand handeln kann, wenn dieses Thema von einer Verwaltungshochschule organisiert wird, hatte sich zumindest auch die Landtagssfraktion der NPD in Sachsen gedacht, die daher die Tagung besuchte und eifrig mitdiskutierte. Von einer ›Entpreußung‹ kann also zumindest an jenem Wochenende nicht mehr die Rede sein.

In der Pressemitteilung der Landtagsfraktion der NPD-Sachsen vom 1. November 2011 heißt es entsprechend:

»Zusammen mit dem Parlamentarischen Berater Per Lennart Aae und Pressesprecher Thorsten Thomsen besuchte der Landtagsabgeordnete und haushaltspolitische Sprecher der NPD-Fraktion, Arne Schimmer, am 27./28. Oktober 2011 die 13. Speyerer Demokratietagung, die unter der wissenschaftlichen Leitung des renommierten Staatsrechtlers Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer stattfand.« (Thomsen 2011)

Es gab – zumindest nach dieser Pressemitteilung – während der Tagung und am Rand der Veranstaltungen offenbar einen regen Austausch zwischen den Vortragenden und der NPD-Fraktion über die Frage der Widerstandskritierien:

»Hierbei kam es zu ebenso lebhaften wie fruchtbaren Diskussionen sowie interessanten Kontaktgesprächen am Rande der Veranstaltung, an denen die Vertreter der NPD-Fraktion intensiv teilnahmen. […] Auch viele der entscheidenden Fragen an den Gastgeber Professor von Arnim kamen von den Vertretern der NPD-Fraktion. Erst dadurch bekam der Referent die Möglichkeit, in seiner abschließenden Aussage die Widerstandskriterien noch einmal inhaltlich anzusprechen, und zwar in Bezug auf ihre Aktualität in der heutigen politischen und rechtlichen Situation« (ebd.).

Neben der NPD nahm auch der ehemalige FAZ-Journalist Klaus-Peter Krause an der Tagung teil. Klaus-Peter Krause und der Tagungsleiter Hans-Herbert von Arnim hatten bereits in der Ausgabe vom 21.4.2006 in der neurechten Zeitung Junge Freiheit zum Schwerpunktthema ›Erosion des Rechtsstaates durch Legitimierung der kommunistischen Verfolgungs- und Enteignungspolitik‹ Beiträge verfasst. Um gegen diese ›Erosion des Rechtsstaates‹ vorzugehen, wurde bereits damals über eine Reform der politischen Entscheidungsstruktur nachgedacht. Hans-Herbert von Arnim stellte klar, dass es in der Sowjetunion bei den Enteignungen nicht nur um eine ›Bodenreform‹ ging, sondern um die Zerschlagung einer ›bestimmten Klasse‹. Er vergaß aber darauf hinzuweisen, dass diese seine Herkunftsklasse, die ostelbischen Junker, maßgeblich dazu beigetragen hatten, eine demokratische, nicht-ständische Gesellschaft in Deutschland zu verzögern. Dankenswerterweise machte der Junge Freiheit-Autor Thorsten Hinz im Leitartikel unmissverständlich klar, dass er sich diese elitären Junker zurückwünsche:

»[Mit den Enteignungen] sollte – unbeschadet der Tatsache, daß die überwiegende Mehrheit der Enteigneten Bürgerliche, wenn nicht sogar Mittelständler waren – die Renaissance der sogenannten preußischen Junker verhindert werden ›vielleicht die einzige, sicher die stärkste herrschaftsfähige und staatsbildende Kraft, die Deutschland in der Neuzeit hervorgebracht hat‹ und die einst ›Geschlossenheit, Stil, Herrschaftswillen, Durchschlagskraft, Selbstsicherheit, Selbstdisziplin, Moral‹ verkörperte (Sebastian Haffner). Es galt, diesem Herkunftsstolz die räumliche und ökonomische Wiederverankerung zu verweigern, hätte sie doch einen potentiellen Nukleus der Unabhängigkeit gegenüber dem unersättlichen Staat bilden können. In dieser aus egalitärer Überzeugung gespeisten Abneigung stimmten die ›arbeiterlich‹ (Wolfgang Engler) geprägte DDR und die kleinbürgerliche Bundesrepublik überein. […] Es hätte Führungspersönlichkeiten gebraucht […] Weil er [der bundesdeutsche Staat, A.K.] im historischen Niemandsland wurzelt, verfügt er auch über keine kraftvolle, werbende Staatsidee. Folglich ist das Politische auf eine kannibalistische Sozialpolitik als Sedativ für die Bevölkerung geschrumpft« (Hinz 2006).

Interviewt wurde in dieser Ausgabe auch Beatrix von Storch, die dann – um weitere ›Erosionen des Rechtstaates‹ (bspw. beim Steuerrecht oder in der EU-Politik) zu verhindern, zusammen mit Karl-Peter Krause die Zivile Koalition gründete und später am Gründungsprozess der Alternative für Deutschland beteiligt gewesen ist, in der schließlich auch Hans-Olaf Henkel Parteimitglied wurde. Hans-Olaf Henkel, die Zivile Koalition und Hans-Herbert von...

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