Nachtschichten
Als ich heranwuchs, hörte ich meinen Vater oft sagen, dass nach zehn Uhr abends nichts von Bedeutung mehr passieren könne. Er wusste sehr wohl, dass dies gewöhnlich die Stunde war, in der sich um den heimischen Herd herum Streit entzündete. Wenn die Vernunft die Zügel schießen lassen musste. Wenn die Kontrolle des Verstandes erlahmte und die Leidenschaften unheilvoll Fahrt aufnahmen wie Betrunkene auf der Autobahn. Die Stunde, zu der gewöhnlich die Türen verriegelt wurden. Es war die Stunde, in der mein Vater nicht verstand, was die Familie ihm entgegenschrie und was sie sich gegenseitig an den Kopf warf. Kurz bevor er die Tür verschloss, sah er auf seine Uhr. Sein Verdacht war gerechtfertigt. Es war Zeit.
Als ich älter wurde, merkte ich, dass ich um diese Zeit erst lebendig wurde.
Nach zehn Uhr abends hörte ich in mir Musik, wo zuvor nur Lärm oder Stille gewesen waren. Ich verschlang eine Schüssel zuckriger Cornflakes und versuchte, diese Lieder mit meiner Gitarre einzufangen – natürlich ganz leise nur, denn die anderen schliefen ja. Wäre jemand den dunklen Flur hinuntergegangen und hätte das Ohr an meine Zimmertür gepresst, hätte er leise Melodien vernommen. Ich versuchte, den Sound für eine Sehnsucht zu finden, die zu dieser Stunde erwachte und für die ich keinen Namen hatte.
Die Langeweile schwand, wenn die Sonne unterging. Jetzt wäre ich gerne losgezogen, über die noch sonnenwarmen Straßen spaziert, hätte den Blick auf die Sterne der Wüste gerichtet. Ich wollte noch mehr Bücher lesen und irgendwann selbst welche schreiben. In dieser Stunde wusste ich plötzlich, was ich mit dem Rest meines Lebens anfangen wollte. Ich wollte beten.
Ich glaube nicht, dass das ein religiöser Impuls war. Ich hatte überhaupt keinen Sinn für Tradition oder Riten, für gefaltete Hände und gesenkte Häupter. Mönchskutten und Gebetbücher interessierten mich nicht. Ich sehnte mich nicht nach etwas Transzendentem – nach irgendetwas außerhalb unseres entbehrungsarmen Vorortdaseins. Es war eher das Gefühl, dass unter der Haut dieser Existenz noch etwas Anderes, Süßeres liegen musste. Etwas, das ich im hellen Sonnenlicht Kaliforniens nicht sehen konnte. Um diese Nachtstunde allerdings war – und ist – mir, als flammte in meinem Kopf ein Feuer auf. In dessen innerem Licht ich mehr von dem erblickte, was sonst verborgen war. Ich kaufte mir Tagebücher und versuchte, alles, was mir in diesen stillen Stunden so vollkommen klar durch den Kopf ging, irgendwie in Worte zu fassen. Ich schrieb, so schnell ich konnte, bevor die drohende Schalheit und Leere des kommenden Morgens mich wieder ins Bett zwang. Manchmal allerdings wachte ich der Dämmerung entgegen. Am nächsten Tag sah ich die Notizen vom Abend davor durch, und es las sich alles wie kompletter Blödsinn. All die Geschichten von Kutschen, die sich zu einer bestimmten Stunde plötzlich in Kürbisse verwandelten, oder von Männern, die im Mondlicht zu Werwölfen wurden, nur um vom grauenden Morgen wieder in gewöhnliche Menschen verwandelt zu werden – ich konnte sie absolut nachvollziehen.
Kontemplative Menschen aller Traditionen teilen diese Liebe zu den Stunden, in denen die Welt schläft: Sie tauchen ein in die Stille des Geistes wie in einen nächtlichen See, wenn seine Oberfläche noch unberührt ist vom heraufziehenden Tag. Ich versuchte es. Ich schälte mich aus dem Bett, wenn das Licht vor den Fenstern noch vormorgendlich blau leuchtete, und kniete nieder in der erschöpften Stille, ein Wanderer, verloren. Ich habe diesen See in meinem Geist nie gefunden.
Einer der frühesten Mönche, Johannes von Massilia, sprach im 4. Jahrhundert vom Gebet als »Feuer, das nur wenige kennen«. Während meiner Highschoolzeit lenkte ich das Feuer dieser mir damals noch unbekannten Flamme wie Brennstoff in die üblichen nächtlichen Aktivitäten von Teenagern. Wie endlose Telefongespräche mit hübschen Mädchen. Ich kauerte im unteren »Stockwerk« meines Etagenbetts und quetschte stundenlang das Telefon ans Ohr wie ein Mönch, der sich ins Gebet vertieft. Später zog ich aus dieser Flamme die Energie für die langen Autofahrten mit meiner ersten Freundin. Da hatte ich schon meinen Führerschein und einen sehr alten, mitternachtsblauen Mustang mit einer höchst schmalen Rückbank. Die strengen Ausgehregeln ihres Vaters machten diese wenigen Stunden nur umso heißer. Oder ich kaufte mit zehn anderen Jungs schachtelweise geleegefüllte Donuts. Dann jagten wir uns mit unseren Autos gegenseitig durch die Stadt und über schwach erleuchtete Parkplätze, das Verdeck offen, und bewarfen uns mit den weichen Köstlichkeiten, die auf den Windschutzscheiben oder den Beifahrersitzen zerplatzten. Wir lachten und lachten bis vier Uhr früh.
Am Morgen kam ich dann im Schlafanzug aus meinem Zimmer und traf im Flur auf meinen Vater, der um diese Zeit schweißtropfend und glücklich von seinem Fünf-Meilen-Lauf durch die Orangenwälder zurückkam. Am Sonntag saß ich in der Kirche und schrieb bei der Predigt mit wie bei einer Vorlesung. Ich konnte beim Singen den Ton halten und beugte ganz ernsthaft mein Haupt. Aber Feuer war keines dabei.
»Die Welt schiebt sich mit Tagesanbruch leichter in unsere Träume und Bilder«, schreibt der zeitgenössische Trappistenmönch Francis Kline. »Nur in der Dunkelheit empfangen wir gewisse Eingebungen von Gott.« Ich habe mich immer gefragt, ob die Trappisten, ein Orden, in dem strengste Askese gepflegt wird, sich aus denselben Gründen um drei Uhr morgens zur Matutin erheben, aus denen ich so lange wach blieb. Vielleicht streben wir ja – auch wenn wir uns dieser Stunde aus unterschiedlichen Richtungen auf dem Zifferblatt nähern – dasselbe an.
Im letzten Jahr der Highschool hörte ich von einem Projekt, bei dem junge Menschen in einer der vier gewalttätigsten Städte Amerikas wie Mönche zusammenleben. Der Mann, der das Projekt vorstellte, richtete in seinem hohen Tonfall eine Frage an die Anwesenden – die mir Jahre später auf Kierkegaards vergilbten Seiten wieder begegnen sollte: Wenn Jesus unser Zeitgenosse wäre und unter uns leben würde, wo würden wir ihn wohl finden? Und wenn wir ihn fänden, würden wir uns ihm anschließen oder würden wir ihn ablehnen? Ich stellte mir die hochpolierten christlichen Colleges vor, an denen ich mich für den kommenden Herbst beworben hatte. Wollte ich meine Suche wirklich dort fortsetzen? Dann stellte ich mir vor, wie ich durch verfallene Stadtviertel ging und nicht nachts zurück in den Vorort musste, wie ich endlich auch die »schlechten« Gegenden sehen würde, auf der Jagd nach dem, was das Evangelium mich zu suchen gelehrt hatte. Ob ich dort wohl diese Gegenwart spüren würde? Ich malte mir aus, dass ich bis in die frühen Morgenstunden an der Straßenecke für Obdachlose Gitarre spielen und mit ihnen unter der Brücke schlafen würde, mit einem stinkenden Schlafsack als einzigem Besitztum. Ich trat diesem Projekt bei und lehnte die angebotenen Studienplätze an den Privatcolleges ab. Die Projektleitung schickte mich nach Norden, nach East Oakland.
Entgegen der Hausregel kam ich häufig nicht pünktlich nach Hause. Tagsüber verteilte ich in einem Obdachlosenzentrum Essen oder füllte Sozialversicherungsformulare aus. Ich aß an langen Tischen mit Menschen, die an AIDS starben. Ich lernte Dragqueens mit strohigen, platinblonden Perücken kennen, die mit Nasenkanüle und Sauerstofftank auf dem Rücken zum Essen kamen. Ich lernte bei diesen Mahlzeiten eine Gemeinschaft, ein Lachen kennen, die in einem Schmerz wurzelten, der mir fremd war. Aber ich war nicht Teil dieser Gemeinschaft. Ich servierte das Essen auf Papiertellern und wischte die Tische ab, wenn sich der Raum wieder geleert hatte. Einmal mehr öffneten sich für mich die Eintrittstore zu dieser Form der Gemeinschaft des Nachts: Denn die Nächte verbrachte ich mit meinem Nachbarn Leno. Er war Mitglied einer salvadorianischen Gang und versteckte sich mit seiner Freundin Marissa und ihren beiden Töchtern vor seinen Feinden in San Francisco. Leno machte sich über meine von der südkalifornischen Surferkultur gebleichten Haare lustig. Er lud mich zu seinen Bier- und Grillpartys auf seiner Seite des Maschendrahtzauns ein, wo ich Jungs in weiten Hosen und weißen Tanktops kennenlernte. Und er nahm mich immer mit, wenn in der Garage Haschisch geraucht wurde. Diese Garage war ein eigenes Reich, in dem Marihuanaschwaden waberten und Typen mit Namen wie Sniper vor Hochglanzpostern von nackten Frauen, die sich auf der Motorhaube von Sportwagen rekelten, abhingen. Sniper und der Rest der Truppe fanden meine Anwesenheit in ihrem Reich gelinde gesagt merkwürdig, aber Leno führte mich dort ein, als sei ich einfach nur ein anderer Junge aus dem Viertel.
Eines Tages nahm er mich mit zu einer Grillparty, die seine Freunde an einem Baggersee gaben. Black Magic Woman von Santana dröhnte aus einem riesigen Gettoblaster. Leno wusste, wie man Feste feierte. Als ich barfuß auf eine Biene trat und mich am Boden vor Schmerz krümmte, pfiff er seine Freunde an, sie sollten »verdammt noch mal die Schnauze halten«, und kniete sich neben mir hin. Dann versuchte er, den Stachel aus meinem käseweißen Fuß zu ziehen. Diese authentische Hilfeleistung glich irgendwie einer Fußwaschung, wie Jesus sie seinen Jüngern aufgetragen hatte. Später, als Lenos Lowrider-Honda einsatzbereit war, nahm er mich öfter mit, wenn er damit durch die Nachbarschaft kutschierte. Eines Tages ließ er mich im Auto warten, während er in ein Apartmenthaus ging, um etwas zu erledigen. Er hatte zwar den Motor laufen lassen, trotzdem konnte ich noch gut hören, wie er bei...