Kapitel 1
Khalid-Bin-Mohammed-Stadion
Schardscha, Vereinigte Arabische Emirate, März 2011
Die Mitarbeiter der FIFA trafen kurz nach Mittag im Stadion ein, entschlossen, ein Verbrechen zu vereiteln, das dem internationalen Fußball schweren Schaden zufügen konnte. Schardscha liegt nicht weit von Dubai entfernt. Doch hier, umgeben von schmucklosem Wüstensand, in einem Teil der Vereinigten Arabischen Emirate, den selten ein Ausländer zu Gesicht bekommt, fühlten sie sich fernab der Zivilisation. Im Gegensatz zu Dubai wirkt der Ort nicht so, als könnte man hier über Nacht zum Millionär werden. Aber gerade das macht ihn zum idealen Einsatzort für jene Kriminelle, die den Fußball unterwandert haben. Ihr Fachgebiet ist die Illusion, und womöglich würden die kommenden neunzig Minuten ein paar Millionen mehr in ihre Taschen zaubern.
An diesem 26. März 2011 fand ein Freundschaftsspiel zwischen den Nationalmannschaften von Kuwait und Jordanien statt. Jedes Jahr gibt es Hunderte solcher Spiele auf der ganzen Welt, von denen kaum jemand Notiz nimmt und deren Ergebnisse sportlich nicht von Bedeutung sind. Selbst für die Trainer der Nationalmannschaften sind solche Spiele oft nicht mehr als bessere Trainingseinheiten. Für gewisse Verbrecherringe aus Südostasien und Osteuropa bilden sie jedoch die Grundlage eines weltweit erfolgreichen Geschäftsmodells.
Kuwait gegen Jordanien war mehr als nur ein weiteres Freundschaftsspiel – es markierte den Beginn eines Krieges: Auf der einen Seite das organisierte Verbrechen in Form von Syndikaten, die mit Wetten auf manipulierte Fußballspiele Hunderte Millionen, wenn nicht Milliarden Dollar verdienen. Auf der anderen Seite die Offiziellen des Weltfußballs, denen langsam klar wurde, dass gekaufte Spiele nicht nur der größte Sportskandal der Gegenwart, sondern auch eine fundamentale Bedrohung für das beliebteste Spiel der Welt sind.
Der Weltfußballverband FIFA (Fédération Internationale de Football Association) hatte bereits im Vorfeld Hinweise darauf erhalten, dass das Spiel in Schardscha manipuliert werden sollte. Das allein war noch keine Sensation – in den letzten Jahren war es immer wieder zu skurrilen Ergebnissen, fragwürdigen Elfmeter-Entscheidungen und merkwürdigen Wettquoten gekommen. Das Besondere war, dass die FIFA und ihr neuer Sicherheitschef in Schardscha zum ersten Mal eine verdeckte Ermittlung anstrengten. Es war höchste Zeit zu handeln.
Als die beiden FIFA-Ermittler das Khalid-Bin-Mohammed-Stadion betraten, schienen sie die einzigen Zuschauer zu sein. Es hatte sich als schwierig erwiesen, an verlässliche Informationen über das Match zu gelangen – sogar für die FIFA als Schirmherrin der Begegnung. Was die Anstoßzeit oder gar das Datum betraf, stieß man auf den Websites der kuwaitischen und der jordanischen Nationalmannschaft auf widersprüchliche Informationen. Auf den Seiten einiger Online-Buchmacher hieß es sogar, das Spiel sei abgesagt worden. Ein entsprechend trostloses Szenario bot sich den beiden Ermittlern, als sie durch die weit geöffneten Tore des Stadions schritten. Niemand verkaufte Tickets, niemand saß auf den Rängen, es gab keine Fotografen und keine Fernsehteams. Das Spiel war noch nicht einmal in der Lokalpresse angekündigt worden. Als die beiden Ermittler auf der Haupttribüne Platz nahmen, kam es ihnen so vor, als hätten sie sich das Spiel nur eingebildet.
Endlich liefen die Spieler auf, und vereinzelte Fans erschienen auf den Rängen. Die Ermittler bemerkten eine Gruppe von Männern, die am Spielfeldrand entlangliefen. Sie waren ihnen nicht unbekannt. Einer war Mitarbeiter einer PR-Agentur aus den Emiraten, ein anderer besaß eine ähnliche Firma in Ägypten. Offensichtlich waren sie an dem gekauften Spiel beteiligt, doch die Ermittler hatten es nicht auf sie abgesehen. Sie interessierten sich für die Hintermänner des Betrugs, eine berüchtigte Gruppierung aus Singapur, die unerkannt in zahlreichen Ländern auf der ganzen Welt operiert. Pünktlich zum Anpfiff identifizierten die Ermittler schließlich zwei Manipulatoren aus Singapur, die auf der VIP-Tribüne Platz nahmen.
Das gekaufte Match in Schardscha entsprang der Planung des gewieftesten Manipulators der Welt, eines mysteriösen Mannes, der bereits in mehr als sechzig Ländern Hunderte von Spielen manipuliert und damit seinem Syndikat irrwitzige Gewinne beschert hatte. Trotzdem hatte seine Organisation ihn fallen gelassen. In seinem Hotelzimmer in Finnland hatte die Polizei Notizen mit Details über das gekaufte Spiel gefunden. Diese Notizen hatten die Ermittler nach Schardscha geführt.
In der Halbzeitpause wollten sie unangemeldet die Kabinen betreten und Spielern sowie Schiedsrichtern gleichermaßen mit Suspendierung drohen, sollten sie das Spiel nicht auf ehrliche Weise zu Ende bringen. Weil aber im Vorfeld niemand beim Fußballverband der Arabischen Emirate auf die Anrufe und E-Mails der FIFA reagiert hatte, saßen die Ermittler ohne Sondererlaubnis und ohne Zugang zu den Kabinen auf der Tribüne fest und mussten annehmen, dass man auch beim hiesigen Fußballverband über die Manipulation Bescheid wusste. Er wäre nicht der einzige nationale Verband, der in Geschäfte mit der Wettmafia aus Singapur verwickelt ist.
Zweck der manipulierten Spiele ist Wettbetrug. Mittelsmänner bestechen Spieler, damit sie die gegnerische Mannschaft nicht am Toreschießen hindern. Sie bestechen Schiedsrichter, damit sie rote Karten verteilen oder Elfmeter geben und so das Ergebnis beeinflussen. Das Syndikat platziert Wetten auf den Zeitpunkt dieser Ereignisse und hintergeht damit Buchmacher und Fans, die den Spielverlauf für real halten. Als das Spiel Jordanien gegen Kuwait angepfiffen wurde, konnte man an den Bewegungen auf dem internationalen Wettmarkt ablesen, dass eine Manipulation im Gang war.
Irgendwann in den Neunzigern hatte FIFA-Präsident Joseph »Sepp« Blatter damit begonnen, Spieler und Clubangestellte auf der ganzen Welt öffentlich und kollektiv als seine »Fußball-Familie« zu bezeichnen. Die in Zürich ansässige FIFA richtet alle vier Jahre die Fußballweltmeisterschaft aus. Von allen Fußballverbänden weltweit hat sie das meiste Gewicht. Wenn kleinere Verbände einen Schiedsspruch oder eine Richtlinie benötigen, wenden sie sich an die FIFA. Dabei ist die FIFA keineswegs der noble Schutzpatron des Fußballs, den Blatters Terminologie glauben macht. Sie ist zwar als gemeinnütziger Verein in der Schweiz eingetragen, aber alles andere als ein nichtkommerzielles Unternehmen. Zahllose Sponsoren-Deals und Rechte an weltweiten TV-Übertragungen bescheren ihr ein Jahreseinkommen von rund einer Milliarde US-Dollar. Die Transparenz und Präzision eines modernen Unternehmens lässt sie dennoch vermissen. Ihre Identität liegt irgendwo in der unbestimmten Mitte. Einigen ihrer Führungskräfte kommt das vielleicht ganz gelegen: Diese Mehrdeutigkeit erleichtert es, sein eigenes Süppchen zu kochen.
In den letzten zehn Jahren hat diese schwammige Art, den Fußball zu administrieren unmittelbar in die Krise geführt. Gekaufte Spiele sind zum Alltag geworden. Es ist nicht die Schuld der FIFA, dass der Fußball zur Zielscheibe internationaler Verbrechersyndikate geworden ist. Doch das Mantra von der »Familie« hat plötzlich eine ganz neue Bedeutung bekommen.
Der Wettskandal »Operation: Last Bet« erschütterte erst vor Kurzem den italienischen Fußballverband. Er betraf fünfzehn Clubs, insgesamt waren vierundzwanzig Spieler, Schiedsrichter, Trainer und Clubangestellte in gekaufte Spiele verwickelt. Die türkische Polizei verhaftete 2011 einhundert Spieler, während der türkische Fußballverband (TFF) den Erstligaverein Fenerbahçe Istanbul aus der Champions League ausschloss und untersuchte, wie das Team achtzehn seiner letzten neunzehn Spiele und damit die Meisterschaft gewinnen konnte. Der nationale Fußballverband von Simbabwe verbannte achtzig Spieler aus dem engeren Kreis der Nationalmannschaft, weil sie der Manipulation verdächtigt wurden. Lu Jun, der erste chinesische Schiedsrichter, der bei einer Weltmeisterschaft eingesetzt wurde, ging für über fünf Jahre ins Gefängnis, weil er Bestechungsgelder in Höhe von 128000 Dollar angenommen hatte. Sein Spitzname »Die goldene Pfeife« bekam dadurch eine ganz neue Bedeutung. In Südkorea wurden siebenundfünfzig Personen wegen Wettbetrug angeklagt, zwei davon begingen kurz danach Selbstmord, um der Schande zu entgehen. Zwei brasilianische Schiedsrichter wanderten ins Gefängnis, und gegen den brasilianischen Fußballverband wurde eine Geldstrafe in Höhe von acht Millionen Dollar für dessen Rolle in einer Reihe gekaufter Spiele verhängt. In Estland wurden acht Spieler ein Jahr lang vom Spielbetrieb ausgeschlossen und zwölf weitere wegen Manipulation angeklagt. Die deutsche Polizei hörte kroatische Kriminelle ab, die einen Spielbetrug in Kanada planten. Der in Ungnade gefallene Vorstand des chinesischen Fußballverbands wird wegen Manipulation in einer Strafanstalt festgehalten. Die ungarische Polizei verhaftete mehr als fünfzig Personen, und noch bevor sie den Vorstand eines verdächtigen Clubs festsetzen konnte, hatte dieser sich in den Tod gestürzt. In Tschechien stehen zurzeit zwei Schiedsrichter wegen Manipulation vor Gericht. Die Nationalmannschaft von Kambodscha ließ sich für ihre beiden Qualifikationsspiele zur WM 2014 gegen Laos kaufen. Der Fußball in Mazedonien ist dermaßen korrupt, dass kaum ein Buchmacher Wetten für die erste Liga annimmt. Der Vorstand des...