Bereits die Bezeichnung des Beginns des Ersten Weltkriegs ist uneinheitlich. So wird dieser „Kriegsausbruch (analog Vulkanausbruch)“[33], Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts[34] „[…] (analog Erdbeben oder Tsunami) […]“[35], „Zäsur des 20.Jh.“[36] und „[…] Tragödie (in der die Akteure […]zu bedauern sind […])“[37] genannt. Die Begriffe Verantwortung und Schuld sind dabei konstitutiv für die „Kriegsschuldfrage“, wie der öffentliche Diskurs um die Rolle des deutschen Kaiserreichs beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges bezeichnet wird, die ebenso uneinheitlich angewandt werden. Im Neuen deutschen Wörterbuch findet sich unter der Bedeutung von „Schuld“ u.a. „das Verantwortlichsein“ und umgekehrt, grundsätzlich ist im hier vorliegenden Kontext der Auslösung des Ersten Weltkrieges die Missachtung einer Norm bzw. die persönliche Vorwerfbarkeit pflichtwidrigen Verhaltens gemeint.[38] Vollständig losgelöst lassen sich die beiden Begriffe offenkundig schon aufgrund ihrer Definition nicht betrachten, was auch für den untersuchten Diskurs gilt. Eine „Ursache“ ist der Wörterbuch-Definition zur Folge Anlass oder Grund, ein Sachverhalt oder ein Verhalten also, der/das etwas bewirkt.[39] Diese Definition ist weit entfernt von jenen der „Schuld“ bzw. des „Verantwortlichseins“, die persönliche Vorwerfbarkeit und damit Schuld(un-)fähigkeit bzw. Haftbarkeit voraussetzen.[40] Schuld tritt ferner dann ein, wenn Verantwortung nicht übernommen wird. Die Verwendung dieser Begriffe ist im analysierten Streitgespräch von Bedeutung, da „Schuld“ und „Verantwortung“ auch verschiedene (Schuld-)formen einschließen wie Vorsatz bzw. Fahrlässigkeit hinsichtlich einer Tat. Wenn also von „Schuld“/“Verantwortung“ des deutschen Reiches gesprochen wird, den Ersten Weltkrieg ausgelöst zu haben, muss diese bewiesen werden bzw. ein Grund für die Schuldausschließung gefunden werden, der wiederum das jeweilige zugewiesene „Strafmaß“ beeinflusst.[41] Wird von „Ursachen“ des Ersten Weltkriegs gesprochen, muss davon ausgegangen werden, dass eben diese Parameter nicht angelegt werden, d.h. auch kein „Strafmaß“ bestimmt wird.
Vor allem die „moralische Deligitimation des Angriffskrieges“[42], die bereits mit Kriegseintritt der jeweiligen Staaten einsetzte, war gelenkt durch den Blick auf die Gräuel des Ersten (und sicherlich auch des Zweiten) Weltkrieges. Deshalb waren auch alle Staatsführungen daran interessiert, als Angegriffener, nicht als Angreifer wahrgenommen zu werden. Häufig wird dabei das völkerrechtlich verankerte 1914 gültige Recht souveräner Staaten, Kriege als Angriffskriege und damit als Zeichen für staatliche Souveränität zu führen, so Jahn, außer Acht gelassen. Damit akzentuiert der Autor neben der moralischen Komponente von „Schuld“ deren rechtlichen Charakter. Ein (deutscher) Wille zu einem solchen Krieg konstituiert für ihn noch keine Schuld.[43] In die gleiche Richtung argumentiert Kramer. Für den Geschichtsprofessor für neuere deutsche und europäische Geschichte wurde 1914 nicht gegen das Recht zum Krieg (jus ad bellum) verstoßen, da das Recht auf Kriegführung „[…] im Völkerrecht als ureigenes Privileg von Staatswesen betrachtet.“[44] werde. Diese Überlegungen führen zum Kriegsschuldartikel 231 des Versailler Vertrages. Als „völkerrechtlicher Höhepunkt“[45] in der Diskussion um die Rolle des Deutschen Reichs mit moralisch neuer Implikation von Kollektivschuld des deutschen Volkes und Alleinschuld des Deutschen Reiches stellte dieser die Grundlage der alliierten Reparations- und Widergutmachungsforderungen dar.[46] In der deutschen Öffentlichkeit wurde dieser Artikel als schwere Belastung wahrgenommen und enttäuschte die Hoffnungen auf einen milden Frieden im Vertrauen auf Wilsons 14 Punkte Plan. Eines der wichtigsten Ziele in der Politik der Weimarer Republik war damit geboren. Es handelt sich dabei um die parteiübergreifend angestrebte Revision des Versailler Vertrages, die auch als „Vertragsrevisionismus“ bekannt ist.[47] Für die Zwischenkriegszeit lässt sich feststellen, dass deutsche Historiker zwar eher die Staatsführungen der Entente, vornehmlich Frankreichs und Russlands, be- und Deutschlands teilweise, nicht aber vollständig, entlasten.[48] Am 30. Januar 1937 erklärte Hitler im Reichstag, die Kriegsschuldfrage sei gelöst[49] und bis Anfang der 1930er Jahre entstand im europäischen, nichtdeutschen Ausland folgende Perspektive, der durch den britischen Premierminister Lloyd George ein Gesicht verliehen wurde. Es handelt sich um seine sog. „Schlitterthese“, Europa sei in den Krieg „hineingeschlittert“, ähnlich einem „Unfall“.[50] In seinen Memoiren heißt es: „The nations slithered over the brink into the boiling cauldron of war without any trace of apprehension or dismay.“[51]. Damit wird indirekt den am Krieg beteiligten Staaten die Schuld abgesprochen, die Schuldform der Fahrlässigkeit in Rechnung gestellt und die Schuldfähigkeit einzelner Staaten auf das Bündnissystem abgewälzt. Diese These streift damit die Ideen der „neue[-n] Orthodoxie“[52] oder auch „Bielefelder Schule“ der 70er Jahre, die nicht kollektiv alle kriegführenden Staaten in der Verantwortlichkeit sah, sondern vornehmlich die Hauptschuld beim deutschen Kaiserreich, das einen „Sonderweg“ beschreite. Statt Struktur- wurde mit dieser historiographischen „Schule“ die Sozialgeschichte in den Vordergrund gerückt. Die Nachkriegshistoriographie (des Zweiten Weltkrieges) im Allgemeinen ist geprägt von einer „tiefe[-n] Identitätskrise“[53]. Der gescheiterte deutsche Zweifachanlauf eine „europäische Weltpolitik“ etablieren zu wollen war mehr als problematisch, vor allem vor dem Hintergrund der Unwucht der historischen Last des Nationalsozialismus. Die Frage nach einer möglichen Kontinuität der Entwicklung deutscher Geschichte und der drängenden Frage „Wie war Hitler möglich?“ fand wegweisende Beachtung bei Meinecke[54], der zu dem Ergebnis gelangte, die deutsche Geschichte sei kein zwangsläufiger Prozess.[55] Diese „Linie einer vorsichtigen Rehabilitierung der deutschen Nationalgeschichte“[56] folgten viele geschichtswissenschaftliche Vertreter. Zechlin, Erdmann und Ritter forderten jedoch eine weniger kritische Revision und nahmen stärker die Ergebnisse, die zwischen 1918 und 1933 erarbeitet worden waren, auf. Erdmann beispielsweise vertrat die Idee einer wesentlich gleichen Schuld der Großmächte in der „Blindheit der Handelnden“[57], ein Konflikt in dem „Recht gegen Recht“[58] gestanden hätte. Er postuliert: „Wenn man den Frieden auch wünschte, so hat ihn doch niemand ernsthaft gewollt.“[59]. Im Besonderen seien westdeutsche Historiker nach 1945 bemüht gewesen eine „Diskontinuität der deutschen Geschichte“[60] zu akzentuieren, während ihre Kollegen in der DDR auf deren Kontinuität hinwiesen, so Iggers.[61] Die in den 50er Jahren als abgeschlossen geltende Kriegsschuldforschung[62] gewann schließlich in den 1960er Jahren neue Schärfte mit der „Fischer - Kontroverse“, die auf ihren Namensgeber, den Hamburger Historiker Fritz Fischer, zurückgeht. Fischers Name wurde im Laufe dieser Auseinandersetzung „[…] zur Bezeichnung einer bundesrepublikanischen Schlüsseldebatte“[63], die weit über die Geschichtswissenschaft bis in politische Kreise wirkte. Mit seinen Thesen, die er auf gründliche Untersuchung von Aktenmaterial zur Kriegszielpolitik der Reichsämter, besonders auf das Schlüsseldokument von Kurt Riezler, Privatsekretär Bethmann Hollwegs, dem sog. „Septemberprogramm“ stützte[64], kündigte der „Hamburger Ordinarius“[65] nach der Publikation eines Artikels in der Historischen Zeitschrift 1959[66] und wenig später 1961 in seiner Arbeit „Griff nach der Weltmacht“[67] dem „sakrosankten Konsens“[68] seit den 1930er Jahren, der vom Hineinschlittern in den „großen Krieg“[69] gestützt auf die These aggressiver expansionistischer deutscher Kriegsziele ausging.[70] Der im Folgenden als „Nestbeschmutzer“ Diffamierte stellte die deutsche „Defensiv - Haltung“ mit Verweis der besonderen Rolle Bethmann Hollwegs im Rahmen des deutschen Expansionismus infrage und eine besondere Verantwortung in Berlin in Rechnung, das auf eine Lokalisierung des Krieges zwischen Serbien und der Habsburger Monarchie drängte, anstatt greifende deeskalierende Maßnahmen einzuleiten.[71] Fischer schreibt: „Da Deutschland den österreich-serbischen Krieg gewollt und gedeckt hat und […] es im Juli 1914 bewusst auf einen Konflikt mit Rußland und Frankreich ankommen ließ, trägt die deutsche Reichsführung den entscheidenden Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen Krieges.“[72] Schon vor Fischer war Albertini zu dem Ergebnis gelangt,...