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Schmerzen - Notrufe aus dem Körper (Leben Lernen, Bd. 302)

Hypnosystemische Schmerztherapie

AutorHanne Seemann
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl280 Seiten
ISBN9783608110838
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Wenn der Körper uns mit der Beharrlichkeit und Vehemenz eines chronischen Schmerzes eine Störung meldet, sollten wir hinhören! Mit dem hier vorgestellten hypnosystemischen Ansatz kann das Schmerzgeschehen tiefer verstanden und wirksamer behandelt werden. Wir wissen so viel wie nie zuvor über die neurobiologischen, medizinischen und psychotherapeutischen Aspekte des chronischen Schmerzes. Doch haben wir auch verstanden, was er uns sagen will? Hanne Seemann beschäftigt sich seit drei Jahrzehnten in Forschung, Therapie und Lehre mit psychosomatischen Schmerzen bei Kindern und Erwachsenen und sie kommt in diesem umfassenden Buch, das die kritische Auseinandersetzung mit dem Mainstream der Schmerztherapie nicht scheut, zu dem Schluss: Chronischer Schmerz ist nur systemisch zu verstehen und kommuniziert eine Störung in Lebensweise und -umfeld eines Patienten, die individuell aufgespürt werden muss. Die hypnosystemische Herangehensweise liefert hierzu die passenden Konzepte, um funktionellen Kopf- und Rückenschmerzen sowie der Fibromyalgie wirksam zu begegnen.

Hanne Seemann, Dipl.-Psych., Psychologische Psychotherapeutin, Hypnotherapeutin, arbeitet in eigener Praxis in St. Leon-Rot bei Heidelberg. Sie hält Vorträge und gibt Workshops sowie Seminare für Ärzte und Psychotherapeuten. Zahlreiche erfolgreiche Bücher zum Thema 'Psychosomatische Störungen'.

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Leseprobe

Kapitel 1

Schmerz – was ist das?


1.1 Definitionen


Was etwas ist, erfährt man aus seiner Definition:

»Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potenzieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.«

(Pain is an unpleasant sensory and emotional experience with actual or potential tissue damage or described in terms of such damage.)

In der seit 1979 bis 2016 unveränderten Definition der IASP, der International Association for the Study of Pain (IASP Subcomittee on Taxonomy 1979), wird dem Sachverhalt Rechnung getragen, dass jeglicher Schmerz, von dem hier die Rede ist und der als Körperschmerz empfunden und als solcher beschrieben wird, auch ohne körperliche Beschädigung auftreten kann. Auch eine lediglich potentielle körperliche Schädigung kann als Schmerz erfahren werden. Die Potentialität des Schmerzes muss allerdings erwartet bzw. imaginativ vorgestellt werden – also in der Psyche präsent sein.

Diese wissenschaftliche Definition kann für den akuten Schmerz akzeptiert werden, obwohl sie, wie Wörz (2004) treffend bemerkt, außer Acht lässt, dass der Schmerz nicht »ruhige Empfindung oder atmosphärisches Gefühl ist, sondern eine Kraft« ist, und zwar eine treibende Kraft, wie man hinzufügen möchte.

Er muss jedoch, um als »Schmerz« anerkannt zu sein, vom betroffenen Menschen wahrgenommen und beschrieben, also mitgeteilt werden. Denn Schmerz ist eine private und subjektive Erfahrung, die nicht direkt, also objektiv von außen beobachtet und gemessen werden kann – das gilt für den klinischen Schmerz. Was als klinische Schmerzmessung bezeichnet wird, sind indirekte Verfahren, die über die Wahrnehmung des Patienten laufen und in Skalen übertragen werden, welche wiederum der Außenbeobachter interpretieren muss.

Also muss der Patient, der unter einem Schmerz leidet und therapeutische Hilfe wünscht, Auskunft geben.

Leidet er nicht darunter, ist sein Schmerz lediglich unangenehm oder aus subjektiven, z. B. sexuellen oder religiösen, Gründen erwünscht, vielleicht sogar lustvoll, kann der Schmerz im Privaten bleiben und ist nicht auskunftspflichtig. Das gilt auch dann, wenn der Betroffene mit seinem Schmerz allein bleibt und ihn vor der Außenwelt verbirgt. Wenn der oder die Leidende therapeutische Hilfe anfragt, treten die Ärzte und/oder Psychotherapeuten auf den Plan.

Die Definition der IASP hebt, wie Kröner-Herwig (2011) richtig anmerkt, »den emotionalen Aspekt als konstitutive Komponente des Schmerzgeschehens heraus und unterscheidet damit Schmerz von anderen sensorischen Wahrnehmungsprozessen, die nicht notwendigerweise eine affektive Reaktionskomponente beinhalten. Schmerz ist damit mehr als reine Reizwahrnehmung« (S. 4). Allerdings würden Schmerzpatienten die Kennzeichnung ihrer Schmerzen als »unpleasant«, als üblen Euphemismus bezeichnen, was in der neuen Schmerzdefinition 2016 dann auch explizit berichtigt wurde (s. u.).

Aber schon in dieser frühen Definition wurde die kausale Verknüpfung von Gewebeschädigung und Schmerzreaktion aufgegeben.

Zumal wir heute mittels bildgebender Verfahren wissen, dass, neurophysiologisch gesehen, »psychische« Phänomene wie seelischer Schmerz oder das »Mitfühlen« von Schmerzen anderer Menschen (Empathie) in sehr ähnlichen (den gleichen, wie die Autorin anmerkt) Hirnregionen stattfinden, wie die Verarbeitung des selbst erlebten Schmerzes, wobei dies besonders die affektive Verarbeitung betrifft (Singer et al. 2004). Gleiches gilt für Einsamkeit – in der Schmerzpsychotherapie meist als Depression diagnostiziert – die, wie Manfred Spitzer (2018) betont, sich als Schmerz bemerkbar macht und mit Schmerzmitteln »bekämpft« wird. In der psychologischen Schmerzdiagnostik und -psychotherapie werden schmerzassoziierte Emotionen wie Angst und Depression berücksichtigt, allerdings steht die verhaltensbezogene Komponente von Schmerzen im Fokus des therapeutischen Interesses. Also: Was tut der Mensch, wenn er Schmerzen, Angst oder Depressionen hat, was an seinem Tun ist funktional und was dysfunktional? Vor allem: Was kann er wegen seiner Schmerzen nicht tun, wo ist er eingeschränkt? Dies ist beobachtbar und auch deshalb wichtig, weil der Schmerz selbst nicht beobachtbar ist, außer vom betroffenen Menschen. Alle Versuche, vom Ausdrucksverhalten, sei es der Mimik oder dem körperlichen Schonverhalten, auf Schmerzen zu schließen, sind höchst unzuverlässig.

Meine Mutter musste sich einmal einer Operation unterziehen. Danach lag sie in ihrem Krankenhausbett, und die Tränen liefen ihr übers Gesicht. Das sah die Schwester, verschwand und kehrte mit einer Tablette zurück, die sie meiner Mutter gab, zusammen mit einem Schluck Wasser. Dann erst fragte meine Mutter: »Was war das jetzt für ein Medikament?« Die Schwester: »Etwas gegen Schmerzen.« Meine Mutter: »Ich hab doch gar keine Schmerzen.« Die Schwester: »Ja, warum weinen Sie dann?« Meine Mutter: »Ich bin so froh, dass ich nach der OP wieder aufgewacht bin!«

Man muss also immer nachfragen, und wenn der Patient nicht antworten kann, z. B. bei sehr kleinen Kindern, tappt man im Dunkeln. Man ist allerdings auch nicht berechtigt, aus dem Ausdrucksverhalten auf Schmerzfreiheit zu schließen, ein Irrtum, der noch bis vor Kurzem dafür verantwortlich war, dass Kinder schmerzhafte Prozeduren ohne Analgetikum bzw. Anaesthetikum erleiden mussten. Kleine Kinder ziehen sich in Notsituationen oft völlig in sich zurück, was dem archaischen Notfallreflex »Totstellen« entspricht. Sie tun dies auch in anhaltenden Mangelkontexten, was der erlernten Hilflosigkeit nach Seligman gleichkommt und zum Tod durch Erlöschen führen kann, was schon René Spitz 1945 in gut ausgestatteten amerikanischen Kinderheimen beobachtet hatte. Also keine Spur von »braves Kind!«, wie es von außen erscheinen mag.

Die neue, überarbeitete Schmerz-Definition der IASP von 2016, die sich explizit auf das biopsychosoziale Schmerzmodell bezieht, lautet nun:

Pain is a distressing experience associated with actual or potential tissue damage with sensory, emotional, cognitive and social components (Williams & Craig 2016).

Die Autoren weisen in ihrem Kommentar darauf hin, dass die Kennzeichnung von Schmerz als unpleasant – also unangenehm – nun durch den Begriff distress ersetzt wurde, womit seine negative emotionale Valenz stärker konnotiert werden sollte. Die Schmerzerfahrung setzt sich auch in dieser neuen Definition aus Komponenten zusammen, die ungewichtet nebeneinander stehen, was dem derzeitigen wissenschaftlichen Schmerzverständnis entspricht.

Was die Definition der IASP nicht berücksichtigt, sind chronische Schmerzen und der Übergang vom akuten zum chronischen Schmerz, also der Prozess der Chronifizierung.

Von chronischem Schmerz spricht man, wenn er »persists past the normal time of healing« (Bonica 1953). Was eine normale Heilungszeit sein soll, ist, bezogen auf den Einzelfall, nicht darstellbar. Zumal man bei einem Schmerz, dem keine Verletzung oder Erkrankung zugrunde liegt, gar nicht weiß, wie man den Begriff der normalen Heilungszeit verstehen könnte.

Man benutzt deshalb ein einfaches zeitliches Kriterium, meist drei Monate und für wissenschaftliche Studien 6 Monate, was problematisch ist, wie ich weiter unten mithilfe von Patrick Wall (1982) diskutieren will. Das Mainzer Stadienmodell der Schmerz-Chronifizierung (Gerbershagen 1996) unterscheidet mehrere Stufen der Chronifizierung, in dem erschwerende Merkmale hinzutreten: Beeinträchtigungen im Lebensvollzug, insbesondere bei der Arbeit und Freizeit, sozialer Rückzug und psychische Beeinträchtigungen, besonders Resignation, Hilflosigkeit, Depressivität. Je weiter die Chronifizierung fortgeschritten ist, umso weiter hat sich der Schmerz von seinen ursprünglichen Auslösern entfernt, und umso weniger erfolgreich wird Schmerztherapie eingeschätzt. In der englischsprachigen Literatur sprach man lange Zeit von »intractable pain« d. h. von unbehandelbaren Schmerzen. Der Patient hat dann eine »Schmerzkrankheit« und ist ein Schmerzpatient.

Schauen wir uns den Schmerz einmal aus einer systemischen...

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