„Niemand vermag Veränderung anders denn über Gemische zu denken. Wer versuchte, sie über die Elemente zu denken, der stieße nur auf Wunder, Sprünge, Mutationen und Auferstehungen bis hin zur Transsubstantiation.“ (Serres 1998, S. 27)
Dieses Kapitel verdient über das geläufige Maß hinaus Aufmerksamkeit, da das Thema, wie sich schnell wachsende Organisationen auf verschiedene Art und Weise für einen empirischen Zugang identifizieren lassen, in den organisationswissenschaftlichen Studien kaum bis gar nicht diskutiert, noch reflektiert wird. Im Allgemeinen wird das, was unter einer schnell wachsenden Organisation verstanden werden soll, ohne weitere Explikation vorausgesetzt oder im geringsten Fall durch das Setzen unreflektierter Indikatoren legitimiert. Daher wird hier ausführlich der Frage nachgegangen, wie der Forschungsgegenstand ‚schnell wachsende Organisation‘ fassbar gemacht werden kann und wie sich dieser von anderen Phänomenen organisatorischen Wandels abgrenzen lässt. Dieser Aspekt (B 1 Zugangsprobleme) wird daher den größten und ersten Teil des Abschnittes einnehmen. Der zweite Teil dieses Kapitels (B 2 Forschungsdesign) legt dar, wie das Forschungsdesign aufgebaut wurde und welche Implikationen damit einhergehen. Dabei wird die Diskussion und Reflexion der Methoden zur Erforschung des Gegenstandes mit einbezogen.
B 1 Zugangsprobleme
„Die Theorie selbstreferenzieller Systeme verzichtet darauf, ihren Gegenstand (in unserem Falle: Organisationen) durch Wesensannahmen zu bestimmen. Die Erfahrung lehrt, dass solche Annahmen zu unlösbaren Meinungsverschiedenheiten führen, sobald verschiedene Beobachter das, was sie für das Wesen der Sache halten, verschieden definieren …“ (Luhmann 2006, S. 45)
Als empirisch orientierter Organisationswissenschaftler, stellt sich die Frage, wie sich der Forschungsgegenstand fassen und von anderen Phänomenen abgrenzen lässt. Solange es (nur) um Wachstumsprozesse geht, lässt sich immer eine Organisation und die dazu passende Beobachterperspektive finden. Doch durch das Hinzufügen diverser Steigerungsformen und die begriffliche Addition von Superlativen wie „schnell“, „stark“, „rapide“, etc. erhält der Selektionsprozess eine neue Qualität. Den theoretischen wie den methodologischen Aspekten dieses Differenzierungsproblems wird in der organisationswissenschaftlichen Literatur bislang kaum Beachtung geschenkt (vgl. Henrekson/Johansson 2008; Barringer et al. 2005, Weinzimmer/Nystrom/Freeman 1998; ähnliches gilt für den organisationalen Wandel vgl. Greenwood/Hinnings 2006). Dabei liegt die Vermutung nahe, dass je nach eingenommener Beobachterperspektive, gewähltem Referenzrahmen und betrachtetem Zeithorizont unterschiedliche Versionen des Organisationswachstums resultieren können.[23]
„(…) some studies with similar sample characteristics have still yielded inconsistent results regarding predictors of organizational growth. For example, using samples of start-up firms from high-tech industries, Eisenhardt and Schoonhoven (1990) found mixed results regarding the positive relationship between growth and top management team size, while Feeser and Willard (1990) found strang support for this same relationship. Similarly, using general samples of firms, Hamiltion and Shergill (1992) found a significant positive relationship between growth and related diversification, whereas Varadarajan and Ramanujam (1987) did not. Therefore, wie think such inconsistencies are also likely to be dure partially to inconsistencies in the measures of organizational growth being used.” (Weinzimmer/Nystrom/Freeman 1998, S. 236)
Obwohl die Erforschung organisationalen Wachstums mittlerweile einen bedeutsamen Bestandteil in den Organisationswissenschaften darstellt (vgl. A 2 Forschungsperspektiven, S. 15 ff.), bleibt (schnelles) Wachstum ein nach wie vor unscharfer Begriff. Die Bestimmung von Wachstum, gleichgültig welcher Form, führt auf einen Beobachter zurück, der dieses Wachstum konstruiert, also festlegt, worum es geht. Dieser Umstand wurde insbesondere im Kontext organisationalen Wandels reflektiert (vgl. Luhmann 2006, S. 331; Van de Ven/Poole 2005; Weick/Quinn 1999). Der Beobachter legt die Perspektive fest, aus der beobachtet wird. Er bestimmt die Indikatoren, durch die eine Veränderung im Vorher/Nachher möglich wird und er legt die Zeiträume fest in denen die Beobachtung erfolgt. Je nach Variation des beobachteten Zeitraums stellt sich die Dynamik und/oder das Ausmaß des Wachstums unterschiedlich dar (vgl. Luhmann 1984, S. 471). Daraus resultiert, dass es jeweils nur beobachtbare Beobachtungen organisationalen Wachstums und deren Konsequenzen gibt.
Das Problem der Unschärfe wird nochmals vergrößert, wenn beständige und dramatisch beschleunigte Formen organisationalen Wachstums unterschieden werden sollen. Für einen kompetenten Umgang mit der Beliebigkeit des organisationalen Wachstums bedarf es zweier Festlegungen. Erstens muss geklärt werden, was unter organisationalem Wachstum verstanden wird und zweitens muss aufgezeigt werden, wie sich schnelles organisationales Wachstum fassen und von anderen Wachstumsformen unterscheiden lässt. Dabei geht es allerdings nicht darum, eine eindeutige, reale Definition zu finden (wenn es soetwas überhaupt gibt), sondern vielmehr Beschreibungsperspektiven des Forschungsgegenstandes aufzudecken, um Kontingenz sichtbar zu machen und aus der Kontrastierung der möglichen Alternativen eine Entscheidung für das weitere methodische Vorgehen abzuleiten.
Geht es darum, Organisationen, die schnell wachsen, zu identifizieren, so stellt sich die Frage, wie sich solche Organisationen von anderen Organisationen unterscheiden lassen und anhand welcher Kriterien diese Unterscheidungen erzeugt werden. Dies zielt auf die Festlegung von Indikatoren zur Ermittlung schnellen Wachstums. Entscheidend ist hierbei, die Referenzen im Auge zu behalten (welche die Indikatoren setzt), durch die schnelles Wachstum beschreibbar wird. Diese Referenzen beziehen sich auf Beschreibungen des Wachstums und demnach auf Kommunikation. Genauer geht es um die Frage, wo und wie (schnelles) Wachstum hergestellt wird.
Für die Zugangsproblematik lassen sich zwei Beschreibungsreferenzen identifizieren. Zum einen die Produktionsreferenz und zum anderen die Vergleichsreferenz. Die Produktionsreferenz lässt sich danach differenzieren, wo die Beschreibung des Wachstums angefertigt wird (innerhalb oder außerhalb der zu identifizierenden Organisation). Die Vergleichsreferenz lässt sich hingegen danach differenzieren, wie das Wachstum hergestellt wird (durch die Unterscheidung von Vorher/Nachher oder System/Umwelt)[24]. Aus diesen zwei Referenzunterscheidungen ergibt sich eine theoretisch fundierte Heuristik (vgl. Abbildung 23, S. 64), um sich dem Phänomen schnellen organisationalen Wachstums in der Forschung anzunähern und verschiedene Zugangsweisen unterscheiden zu können. Diese Zugangsmöglichkeiten haben unterschiedliche Implikationen und eröffnen alternative Perspektiven auf Organisationen, welche sich in einem schnellen Wachstum befinden.
Beschreibungen über ein schnelles organisationales Wachstum können an verschiedenen Stellen produziert werden. Die Produktionsreferenz stellt die Frage nach dem „wo“ der Beschreibung. Unterschieden wird hier zwischen Beschreibungen, die entweder in der Organisation selbst erzeugt werden (Selbstbeschreibungen) oder die außerhalb der Organisation von anderen Beobachtern erzeugt werden (Fremdbeschreibungen).
B 1.1.1 Selbstbeschreibungen
Selbstbeschreibungen sind Produktionen „eines Textes oder funktionaler Äquivalente eines Textes (zum Beispiel indexical expressions wie ‚wir‘ oder ‚hier‘ oder eines Eigennamens) […], mit dem und durch den die Organisation sich selbst identifiziert.“ (Luhmann 2006, S. 417). Damit ist gesagt, dass in der Organisation Beschreibungen schnellen Wachstums angefertigt werden können, mit denen sich die Organisation dann identifizieren kann: „Wir sind eine schnell wachsende Organisation.“ Aber diese Selbstbeschreibung ist keine zeitlose bzw. kontextfreie. Sie integriert Prozesse des Werdens und Wachsens, evtl. auch des Vergehens und Schrumpfens einer Organisation. Selbstbeschreibungen stellen daher, in welche Form sie auch immer gegossen sind (schriftlich, mündlich), das Gedächtnis einer Organisation dar (ebd., S. 418).
Wenn sich die Organisation selbst als im (schnellen) Wachstum befindlich beschreibt, dann findet auch hier eine Interpretation anhand bestimmter Merkmale (z. B. neue Mitarbeiter, höhere Erfolgsbeteiligungen, etc.) statt, die insoweit simplifizierend wirkt, als damit nie die gesamte Organisation erfasst wird. Die organisationale Interpretation kann sich dabei aber nicht nur auf interne...