Sie sind hier
E-Book

Schnippelkunst im Schützengraben

Berthold Reichels Erlebnisse im Ersten Weltkrieg

AutorBerthold Reichel
VerlagAnno Stock
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl141 Seiten
ISBN9783967247190
Altersgruppe13 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Berthold Reichel hat nicht nur eine Vielzahl an Scherenschnitten, Zeichnungen sowie Liedern und Märchen geschaffen. In seiner Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg führte er Tagebuch und schuf so ein wertvolles Dokument der Zeitgeschichte.

Berthold Reichel wurde am 23. August 1881 in Bordesholm geboren. Als Mittelschullehrer wirkte er in Kappeln an der Schlei, wo er Biologie, Englisch und Musik unterrichtete. Seine eigentliche Leidenschaft aber galt der Kunst. Allein mit Papier und Schere entstanden in seinen Händen zahllose Schattenbilder. Viele davon sind so zeitlos, dass sie auch in der heutigen Zeit entstanden sein könnten. Sein Enkel Gerhard Stock hält die Scherenschnitte Reichels gemeinsam mit seiner Frau am Leben, die mit der Säge echte Kunstwerke nach Scherenschnittvorlage entstehen lässt. Berthold Reichel war aber nicht nur Scherenschneider. Er betextete und komponierte auch einige Lieder und war ein kreativer Geschichtenerzähler. Damit diese Geschichten nicht in Vergessenheit geraten, werden sie ab 2019 im Kleinverlag seines Urenkels Anno Stock wieder neu aufgelegt. Im Jahre 1936 verstarb Berthold Reichel viel zu früh. Aber sicher hätte er sich gefreut, dass sein Werk für die Nachwelt erhalten bleibt.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

II. Buch

 

Gas

 

Jetzt, im Sommer, haben sich zwischen den Kreidebrocken am Grabenrand doch noch allerlei Pflanzen angesiedelt, die teilweise durch schöne Blüten erfreuen. Als ich letzthin unseren Wilhelm Gründel, der Vize geworden ist, durch den vordersten Graben begleitete, konnte ich ihn auf drei verschiedene Arten von Mohn aufmerksam machen, nämlich Klatschmohn, Sandmohn und eine weitere Art, deren Namen ich nicht wusste. Auch Kornblumen, Leimkraut, Fingerkräuter und Glockenblumen gibt's da; aber kaum irgendwelche Arten, die ich nicht auch zu Hause in Schleswig-Holstein gefunden hätte.

Bei unserem letzten Eintreffen im Graben finde ich die ganze Blumenpracht vernichtet, alles ist braun und welk. Das hat ein Gasangriff getan. Hin und wieder sind im Graben Glocken angebracht, die bei Gasalarm geläutet werden. Eine schanzende Abteilung wurde kürzlich von einem Gasangriff überrascht. Einige Leute hatten ihre Masken abgelegt und infolgedessen nicht gleich bei der Hand. Das mussten sie mit dem Tod büßen. Auch bei uns war der Graben zeitweise stark vergast. Wir mussten in Masken Dienst tun. Ich hatte eine ziemliche Runde zu machen und kam mit meiner Maske nur langsam vorwärts, denn es atmet sich schwer dadurch. Als ich nach längerer Zeit bei meinem Unterstand angestolpert komme, lachen die Kameraden mich aus. Sie haben keine Masken mehr auf, denn das Gas hat sich inzwischen ziemlich verzogen.

Wir liegen in Reserve. Einige tiefe Stollen am Anfang der Laufgräben bieten uns Unterschlupf. Abends musste ich mit meiner Gruppe nach vorn und Sandsäcke, die von den Pionieren mit Kreidebrocken gefüllt ans Tageslicht gebracht worden sind, über den Grabesrand ausschütten lassen. Der Tommy scheint zu wissen, wann die Arbeit getan wird und macht dann regelmäßig einen Feuerüberfall. Wir wollen ihm zuvorkommen und fertig sein, ehe er mit der Schießerei beginnt. Halb im Laufschritt, so wie es eben dämmert, geht’s nach vorn. Da liegt fast der ganze Graben dichtgepackt. Die Arbeit ist nicht schwer, aber unangenehm. Erstens droht das Artilleriefeuer, zweitens können Maschinengewehrsalven besonders den auf Deckung Arbeitenden verhängnisvoll werden. Wir greifen alle tüchtig zu, um schnell fertig zu werden. Als der Feuerüberfall kommt, sitzen wir schon wieder im sicheren Bunker. Am folgenden Abend schaffen wir’s wieder schnell, aber auf dem Rückweg im Laufgraben erhalten wir Shrapnellfeuer. Wir sehen die feurigen Explosionen über uns und hören das unheimliche Krachen. Die Vordersten beginnen zu rennen. Alles rennt nach. Ich bin der Zweitletzte, und muss wohl oder übel mit, denn hinter mir rennt ja noch einer. Da stolpere ich. „Sievers“, das ist mein Hintermann, wälzt sich über mich hinweg, denn der Graben ist schmal, und Sievers scheint große Angst zu haben. Wie ich zwanzig Meter weiter bin, merke ich, dass meine Gasmaske fehlt. Da kommt ein Trotz der Beschämung über mich. Ich denke an das Wort des wackeren Kameraden „Böhn“, der sagt: „Du laufscht und laufscht, und nachher da laufscht grad dahin, wo die Granat platzt. Und nachher ärgerst dich.“

Langsam gehe ich, weitere Shrapnelle nicht achtend, zurück bis dahin, wo ich gefallen war, und wo die abgerissene Gasmaske natürlich liegt, nehme sie auf und gehe ebenso langsam den Kameraden nach.

Noch einen Abend haben wir die gleiche Arbeit zu leisten, kommen glücklich zurück und machen es uns im Bunker bequem. Gut, dass wir hier sind, denken wir, denn draußen ist eine Kanonade, schlimmer denn je. Der Eingang des Stollens ist durch eine Holztür und vorgehängte Zeltbahnen verschlossen. Ich lese, einige von uns spielen Karten. Jemand ist neugierig, was oben passieren mag. Er schlägt Holztür und Zeltbahnen zurück und will hinauf. Da schreit er laut auf: „Gas, Gas!“ Schnell wird der Eingang wieder verschlossen, aber schon ist eine gute Menge zu uns hinuntergesunken. Wir setzen unsere Masken auf und warten wie’s weiter wird. Da wir aber merken, dass der Geruch nicht zunimmt, legen wir die Masken wieder beiseite.

Die Absperrung des Unterstandes bewährte sich gut. Nach kurzer Zeit poltert’s auf der Treppe. Zwei Ordonnanzen, die vom Gas überrascht worden sind, suchen und finden Zuflucht bei uns. Andere Kameraden, die in jener Nacht unterwegs waren, hat’s das Leben gekostet.

 

 

Verse im Schützengraben

Die Gräben sind ein Dorado für Ratten. Alles, was wir von unseren Essensportionen übrig lassen - und oft, wenn’s einen Schlangenfraß, z.B. Drahtverhau (Dörrgemüse) gibt, ist es nicht wenig, wird auf Deckung, d.h. zwischen die Kreidebrocken der Grabenkante geschüttet. Da haben die lieben Tiere dann ja ausreichend Nahrung und es ist eigentlich unverschämt von ihnen, dass sie auch noch die Unterstände besuchen, uns das karg bemessene Komissbrot weg zu knabbern. Es ist deswegen nicht mehr als recht, dass auch sie ihre Feinde haben, die ihnen nach dem Leben trachten, nämlich erstens verwahrloste Katzen, zweitens Iltisse und drittens Kameraden, die sich im Pistolenschießen üben wollen. Als vor kurzem ein Störungsfeuer die feindlichen Gräben stundenlang in Qualm einhüllte und auch das Niemandsland raucht und dampft, kam eine Muschikatz in unseren Unterstand. Sie wurde mit Freuden begrüßt und mit Dingen gefüttert, die wir uns am Munde absparten. Aber sie war undankbar. Als das Feuer nachließ, verschwand sie wieder spurlos. Einen Iltis sah ich, als ich abends durch eine Schießscharte guckte. Er guckte gerade von der anderen Seite neugierig hindurch.

Beim Postenstehen wird’s manchem langweilig. Sein reger Geist treibt Blüten oder will zumindest die Blüten, die er anderweitig gepflückt hat, zur Freude der umgebenden Menschheit irgendwie zur Schau stellen. Da sind Holzverkleidungen des Grabens ideal. Was lässt sich mit einem Bleistift nicht alles darauf schreiben oder zeichnen. An einer Stelle fand ich lauter lateinische Inschriften, z.B. „de mortuis nil ni bene. Pax vobiscum. Ver aspera ad adre und Claudius Nielsenius Omnia Sera Serum Portals, onarrius et affenibus“.

Dann steht da der schöne Spruch:

Ob noch so sehr die Kugeln fliegen

Wir wollen und wir müssen siegen.

Ob noch so sehr Granaten sausen,

Wir wollen und wir müssen laufen.

Ob noch so sehr die Minen platzen,

Wir wollen und wir müssen kratzen.

Ob noch so sehr krakeelt Max Böhn, (Kom. General)

Wir trinken täglich unsern Köm.

 

Ein anderer Kamerad will seine französischen Kenntnisse nicht unter den Scheffel stellen. Er veröffentlicht eine Anthologie französischer Spottverse auf die Deutschen:

L’impératrice de l’Allemagne

Monte a un aeroplane,

Pour signer la paix

A Monsieur Poincarré.

 

 

 

 

Noch alberner ist der Reim:

Pour nos soldats français. La tête de Guillaume deux

Sera coupé en deux

Pour faire de bon pâté

 

Auf die Lorettokämpfe bezieht sich folgendes:

Les français sont à Loretao

Ils s’en vont à Touchez

Et les Boches vont les sauver

À quatre pattes comme un bidet.

 

Dann noch das singbare „Tonkinoise“:

Prussien, on peut cirer tes bottes,

Ne monteras pas, ne monteras pas Loretta,

On peut cirer tes bottes,

Tu ne monteras pas sa côté.

 

In Noyelles singen die Kinder:

O, pass mal uff du, dein Mari de retour

Petit Prussien dort dans le perceau. Und weiter:

Toujour toujours travailler (marmelade)

Alleman soldate

Toujour toujours travailler (marmelade)

Nix so viel manger

 

Und ein Klagevers lautet:

Malheur, la gerre, nix pommes de terre

Maman malade, Papa zehn Monat à la guerre.

 

 

Frauen an der Front

An einem schönen Abend nimmt Wilhelm Gründel mich mit zum Pionierdepot, wo er als Zugführer Bestellungen zu machen hat. Ich bin froh einmal aus der Kreide herauszukommen. Wir gehen der vorderen Linie parallel immer weiter nach rechts den Ernst-August-Graben entlang und kommen schließlich auf eine Landstraße. Auf dieser schreiten wir nach rückwärts und sehen nach geraumer Zeit große Wellblechgebäude auftauchen, früher ein Bergwerk, jetzt ein Pionier-Depot. Gründel weiß hier schon Bescheid. Er führt mich eine lange Treppe hinab und schon sind wir in einem großen Keller, der aus mehreren Räumen besteht. Schon ehe wir eintreten spitze ich die Ohren. Sind das nicht Frauenstimmen! Drinnen geht’s fröhlich zu. Da wird gelacht und gescherzt. Drei schöne Frauen sind in dem Keller, denen man es in allem ansieht, dass sie schon bessere Tage gesehen haben. In der Tat sollen es Ingenieurfrauen sein, deren Männer auf der Zeche angestellt waren. Da ich unter den anwesenden Kameraden wohl am meisten französisch kann, ist es mir leicht, in Kürze eine scherzhafte Unterhaltung mit ihnen anzuknüpfen. Eine der Frauen ist jedoch stark in Anspruch genommen von einem Feldwebel, einem hübschen hellblonden Kerl, der das Depot...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Fortbildung - Erwachsenenbildung - Weiterbildung

Handbuch der Berufsbildung

E-Book Handbuch der Berufsbildung
Format: PDF

Das 'Handbuch der Berufsbildung' erfasst die gesamte Breite des pädagogischen Handlungsfeldes und gibt einen umfassenden Überblick zu Didaktik, AdressatInnen, Vermittlungs- und Aneignungsprozessen…

Handbuch der Berufsbildung

E-Book Handbuch der Berufsbildung
Format: PDF

Das 'Handbuch der Berufsbildung' erfasst die gesamte Breite des pädagogischen Handlungsfeldes und gibt einen umfassenden Überblick zu Didaktik, AdressatInnen, Vermittlungs- und Aneignungsprozessen…

Handbuch der Berufsbildung

E-Book Handbuch der Berufsbildung
Format: PDF

Das 'Handbuch der Berufsbildung' erfasst die gesamte Breite des pädagogischen Handlungsfeldes und gibt einen umfassenden Überblick zu Didaktik, AdressatInnen, Vermittlungs- und Aneignungsprozessen…

Handbuch der Berufsbildung

E-Book Handbuch der Berufsbildung
Format: PDF

Das 'Handbuch der Berufsbildung' erfasst die gesamte Breite des pädagogischen Handlungsfeldes und gibt einen umfassenden Überblick zu Didaktik, AdressatInnen, Vermittlungs- und Aneignungsprozessen…

Weitere Zeitschriften

Archiv und Wirtschaft

Archiv und Wirtschaft

"Archiv und Wirtschaft" ist die viermal jährlich erscheinende Verbandszeitschrift der Vereinigung der Wirtschaftsarchivarinnen und Wirtschaftsarchivare e. V. (VdW), in der seit 1967 rund 2.500 ...

Baumarkt

Baumarkt

Baumarkt enthält eine ausführliche jährliche Konjunkturanalyse des deutschen Baumarktes und stellt die wichtigsten Ergebnisse des abgelaufenen Baujahres in vielen Zahlen und Fakten zusammen. Auf ...

Bibel für heute

Bibel für heute

BIBEL FÜR HEUTE ist die Bibellese für alle, die die tägliche Routine durchbrechen wollen: Um sich intensiver mit einem Bibeltext zu beschäftigen. Um beim Bibel lesen Einblicke in Gottes ...

bank und markt

bank und markt

Zeitschrift für Banking - die führende Fachzeitschrift für den Markt und Wettbewerb der Finanzdienstleister, erscheint seit 1972 monatlich. Leitthemen Absatz und Akquise im Multichannel ...

Card Forum International

Card Forum International

Card Forum International, Magazine for Card Technologies and Applications, is a leading source for information in the field of card-based payment systems, related technologies, and required reading ...

dental:spiegel

dental:spiegel

dental:spiegel - Das Magazin für das erfolgreiche Praxisteam. Der dental:spiegel gehört zu den Top 5 der reichweitenstärksten Fachzeitschriften für Zahnärzte in Deutschland (laut LA-DENT 2011 ...

FileMaker Magazin

FileMaker Magazin

Das unabhängige Magazin für Anwender und Entwickler, die mit dem Datenbankprogramm Claris FileMaker Pro arbeiten. In jeder Ausgabe finden Sie von kompletten Lösungsschritten bis zu ...