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E-Book

Schopenhauer und Goethe

Biographische und philosophische Perspektiven

VerlagFelix Meiner Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl488 Seiten
ISBN9783787330638
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Schopenhauers Verhältnis zu Goethe hat seine eigene Dramaturgie: Von Bewunderung und gemeinsamen Diskussionen geprägt, führte die Auseinandersetzung mit dem Farbentheoretiker Goethe in einen Überbietungswettkampf, der schließlich mit einem unfreiwilligen Bruch endete. Der Einfluss Goethes auf das Werk Schopenhauers ist folgenreich und tiefgreifend, wenn auch ohne Systematik. Dennoch öffnet die Diskussion dieses Verhältnisses gleichermaßen einen neuen Blick auf das jeweils andere Werk. Die in diesem Band versammelten Beiträge bieten erstmalig einen zusammenhängenden Versuch, das Verhältnis zwischen Schopenhauer und Goethe differenziert und fächerübergreifend in biographischer sowie werk- und kulturhistorischer Hinsicht unter Einbeziehung erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer, ästhetischer, farbtheoretischer und ethischer Fragestellungen zu diskutieren. Mit Beiträgen von Sascha Dümig, Søren R. Fauth, Heinz Gerd Ingenkamp, Manja Kisner, Børge Kristiansen, Steffen Lange, Jens Lemanski, Barbara Neymeyr, Thomas Regehly, Theda Rehbock, Alexander Roth, Helmut Schanze, Brigitte Scheer, Daniel Schubbe, Rolf Selbmann, Niklas Sommer und Robert Zimmer.

Daniel Schubbe ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften der FernUniversität in Hagen und Vorstandsmitglied der Schopenhauer-Gesellschaft.

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Leseprobe

Robert Zimmer

Baccalaureus und der Einzige


Schopenhauer und Goethe: Die Geschichte einer Begegnung

1.   Baccalaureus Schopenhauer?

Nicht ganz zu Unrecht hat man jenen Baccalaureus, den Goethe im zweiten Akt des zweiten Teils des Faust auftreten lässt, mit dem jungen, frisch promovierten Dr. Schopenhauer in Verbindung gebracht,1 der sich im Herbst 1813 bei seiner Mutter in Weimar einquartierte: Auf die Bühne tritt der ehemalige »Lockenkopf« mit »Spitzenkragen«, ein bis zur Überheblichkeit selbstbewusster junger Mann, »[e]ntwachsen akademischen Ruten«,2 der das Haus seines alten Lehrers aufsucht und den Anspruch erhebt, mit der angeblich verrotteten Bildungswelt der älteren Generation aufzuräumen. Mit dem Satz: »Hat einer dreißig Jahr vorüber, / So ist er schon so gut wie tot«3 reiht er sich in eine ganze Tradition deutscher akademischer Jugendrevolten ein. Doch mehr noch: In dem rhetorisch pompös vorgetragenen Weltschöpferanspruch: »Dies ist der Jugend edelster Beruf! / Die Welt, sie war nicht, eh’ ich sie erschuf; / Die Sonne führt’ ich aus dem Meer herauf; / Mit mir begann der Mond des Wechsels Lauf«4 karikiert Goethe einen in Schopenhauers gerade fertig gestellter Dissertation Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde vertretenen erkenntnistheoretischen Idealismus, nach der die von uns wahrgenommene Welt lediglich ›Vorstellung‹, also von den Erkenntnisvoraussetzungen des Subjekts abhängig ist. Hier werde, so Goethe in einem Brief an Schopenhauer mit dezenter Ironie, der Neigung Ausdruck verliehen, »die Welt aus dem Subject zu erbauen«5 – was dem Spinozisten Goethe durchaus suspekt bleiben musste. Auf die Grobheit seines Auftretens hingewiesen, reagiert der Baccalaureus mit der Aussage: »Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist.«6

Die verbale, die Unverschämtheit streifende Direktheit des Baccalaureus findet bei dem frisch gebackenen Dr. Schopenhauer durchaus ihr Pendant. Auch der junge, mit blonden Locken ausgestattete Philosoph war wegen seines streitbaren Auftretens und seiner ungeschminkten Wortwahl gefürchtet. Autoritäten hatten in seinen Augen nur dann Bestand, wenn ihnen eine anerkennungswürdige geistige Leistung zugrunde lag. Kritik aus sozialen Rücksichten zurückzuhalten, war seine Sache nicht. Und noch in seinen späten Aphorismen zur Lebensweisheit bezeichnet er Höflichkeit, auch wenn er ihren gesellschaftlichen Wert anerkennt, als eine »falsche Münze«.7

Goethes etwas zwiespältige Erfahrung mit dem provozierend selbstbewusst auftretenden jungen Schopenhauer mag sich in manchem sehr wohl in der Karikatur des Baccalaureus spiegeln. Doch es bleibt eine Karikatur und hat mit dem Profil des jungen Philosophen, seiner Haltung zu Goethe und der Beziehung, die sich zwischen beiden entwickelte, nur begrenzte Ähnlichkeiten. Schopenhauers Sozialverhalten mag Anstoß erregt und Goethe zuweilen irritiert haben: Doch er blieb ein Leben lang ein Verehrer des großen Klassikers. Er empfand die Möglichkeit, von Goethe persönlich empfangen zu werden und mit ihm in Kontakt treten zu können, als Glück und außerordentlich große Ehre. Die Wertschätzung Goethes, der für ihn der »Einzige«8 blieb, hat er nie aufgegeben. Und weit davon entfernt, die Autorität des fast 40 Jahre Älteren, der der Generation seines Vaters angehörte, anfechten zu wollen, betrachtete er ihn immer als die »hohe Zierde unseres Jahrhunderts und der deutschen Nation […], dessen Namen alle Zeiten im Munde führen werden«.9 Schopenhauer und Goethe, der Baccalaureus und der Einzige: Es war eine durchaus komplexe Beziehung, in der sich gegenseitige Achtung und Wertschätzung mit Enttäuschung und Kritik mischten, ohne dass es jemals zum Bruch gekommen wäre.

2.   Die Schopenhauers und Goethes in Weimar ab 1806

Dass Schopenhauer schon sehr früh in seinem Leben Goethe begegnen konnte, hing mit dem Umstand zusammen, dass sich beide Familien in Weimar auf engstem Raum zusammenfanden. Im April 1805 hatte sich der Vater Arthur Schopenhauers, Heinrich Floris Schopenhauer, aus dem Speicher seines Hamburger Wohnhauses gestürzt. Krankheit und Depression hatten den 58-jährigen erfolgreichen Kaufmann, der eine Frau, zwei Kinder und ein beträchtliches Vermögen hinterließ, in den Tod getrieben. Die Lebensumstände der Familie änderten sich nun radikal. Das Handelshaus wurde aus dem Register gelöscht, das Wohnhaus verkauft und das Vermögen zu je einem Drittel auf die Frau, Johanna Schopenhauer, und die beiden Kinder, Arthur und Adele Schopenhauer, aufgeteilt. Arthur Schopenhauer, damals 17 Jahre alt, hatte seinem Vater versprochen, eine kaufmännische Lehre abzuschließen und blieb zu diesem Zweck zunächst in Hamburg. Die Philosophie spielte zu diesem Zeitpunkt noch keine Rolle in seinem Leben, wohl aber der Wunsch, einmal aus dem Kaufmannsjoch befreit zu werden und ein akademisches Studium aufnehmen zu können. Die Mutter, Johanna Schopenhauer, 1766 geboren und knapp 20 Jahre jünger als ihr Mann, zog es dagegen aus Hamburg fort. Sie war eine kulturell hochgebildete Frau, die mehrere Sprachen beherrschte und dem geselligen Leben zugewandt war. Mit 38 Jahren ergriff sie die Chance zu einem Neuanfang in ihrem Leben. Ihr Ziel war eine gesellschaftlich und kulturell anregende Existenz, in der sie sich in Kreisen bewegen konnte, in denen nicht nur von Bilanzen und Geschäftsbeziehungen die Rede war und in denen auch ihre kreativen Leistungen als Frau gewürdigt wurden.

Ihr Blick fiel auf Weimar. Zwar weniger urban als Hamburg oder Danzig, ein eher beschauliches Landstädtchen, in dessen Straßen Misthaufen lagen und Schafherden durchzogen, war es doch der Wohnort Goethes und das Zentrum der damaligen Elite des deutschen Geisteslebens. Im Mai 1806 unternimmt Johanna in Begleitung von Felix Ratzky, der Liaison ihrer jüngeren Schwester Charlotte, eine Erkundungsreise Richtung Thüringen. In Weimar angekommen, knüpft sie erste Kontakte, so zu ihrem Danziger Landsmann und Autor Johannes Daniel Falk, der in persönlicher Verbindung zu Goethe steht. Auch mit Carl Ludwig Fernow, dem Kunstgelehrten und Italienkenner, wird sie bekannt. Er sollte zu einem der engsten Freunde der Familie werden. Johanna entschließt sich, eine Vierzimmerwohnung nahe dem Theater zu mieten. Sie kehrt Ende Mai nach Hamburg zurück und bereitet dort den Umzug vor.

Am 28. September 1806 zieht Johanna Schopenhauer mit ihrer neunjährigen Tochter Adele in ihr neues Weimarer Domizil. Sie werden bis 1829 in Weimar wohnen. Für Johanna Schopenhauer wird es die fruchtbarste und erfolgreichste Periode in ihrem Leben werden. Doch auf kurze Sicht steht ihr eine äußerst schwierige Zeit bevor. Die napoleonischen Kriege haben Weimar wieder erreicht. Die Franzosen stehen vor der Stadt. Etwas mehr als zwei Wochen nach Johannas Umzug nach Weimar findet in nächster Nähe die Schlacht von Jena und Auerstädt statt, in der Preußen und mit ihm seine sächsisch-weimarischen Verbündeten vernichtend geschlagen werden.

Für alle Bewohner Weimars bedeutete dies eine unmittelbare Gefahr für Leben und Eigentum. Seit September war preußisches Militär in Weimar einquartiert. Goethe hatte zunächst die politischen Wolken, die am Himmel aufzogen, ignoriert. Noch unter dem Eindruck des Todes Schillers stehend, zog er sich in die Arbeit zurück und widmete sich der Vollendung seiner Farbenlehre. Erst als nach der verlorenen Schlacht marodierende französische Soldaten durch Weimar ziehen, kann er sich den Ereignissen nicht mehr entziehen. Sie treffen ihn hart und unvorbereitet. Infanteristen mit gezücktem Bajonett dringen in sein Schlafzimmer ein.10 Goethe muss um Leben und Eigentum fürchten. Mit Glück, Geschick und dank Christianes beherztem Eingreifen gelingt es schließlich, die Soldaten wieder aus dem Haus zu drängen. Goethe war mit dem Schrecken davongekommen.

Doch andere Häuser in Weimar brennen oder werden geplündert. Auch das Haus der Johanna Schopenhauer wird bedroht. Mit Klugheit und Tatkraft kann aber auch sie ihr Domizil retten. Zu Hilfe kommen ihr dabei ihre französischen Sprachkenntnisse, ihre gesellschaftliche Gewandtheit und ihr Mut, sich mit dem französischen Stadtkommandanten ins Benehmen zu setzen. Die Tatsache, dass sie darüber hinaus noch unermüdlich Hilfe für die notleidende Stadtbevölkerung organisiert, verschafft ihr schließlich die Anerkennung der Weimarer Eliten und das Eintrittsbillet in die höhere Weimarer Gesellschaft. Sie war schnell in Weimar angekommen und begann nun, eine eigene gesellschaftliche Rolle zu spielen.

Unter allen sozialen Verbindungen, die nun entstanden oder sich vertieften, war die zu Goethe nicht nur die prominenteste, sondern auch die wichtigste. Auch für Goethe war einiges neu und anders geworden. Als Folge der für ihn...

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