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Schulabsentismus

Praktische Handlungsansätze im Umgang mit Schulversäumnissen

AutorHeinrich Ricking, Viviane Albers
VerlagCarl-Auer Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl96 Seiten
ISBN9783849781972
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR
Fehlzeiten von Schülerinnen und Schülern können vielfältige Erscheinungsformen und Hintergründe haben. Wer ihnen erfolgreich begegnen will, steht gleich vor mehreren Aufgaben. An erster Stelle steht, dass die Betreffenden zeitnah wieder in den Unterricht integriert werden. Dabei sind nicht nur formale rechtliche Vorgaben zu beachten. Tragfähige Lösungen müssen mit verschiedenen Beteiligten erarbeitet werden, die unterschiedliche Interessen verfolgen: Erziehungsberechtigte, Fachkräfte und natürlich die Jugendlichen selbst. Am ehesten gelingt dieser Prozess, wenn Schüler den Schulbesuch wieder als positives Erlebnis erfahren und in ihren Lern- und Entwicklungsprozessen Unterstützung finden. Heinrich Ricking und Viviane Albers vermitteln praxisbezogene Instrumente zur Einschätzung der Hintergründe von Schulversäumnissen und präsentieren darauf abgestimmte Handlungsansätze. Sie reichen von geeigneten Beobachtungskriterien über Vorschläge zu alternativen Beschulungsmaßnahmen bis zu Formulierungshilfen für Gespräche mit betroffenen Schülern und deren Erziehungsberechtigten. Neben der akuten Intervention geht es den Autoren auch um die langfristige Prävention. Sie nehmen dazu sowohl die pädagogische Arbeit im Unterricht als auch die organisatorische Ebene im 'System Schule' in den Blick. Dieser umfassende Ansatz ermöglicht es pädagogischen Fachkräften, die mit Schulabsentismus konfrontiert sind, eigene Maßnahmen zu reflektieren, Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen und Erfolge langfristig zu sichern.

Heinrich Ricking, Prof. Dr. phil. Ausbildung und langjährige Berufserfahrung als Förderschullehrer. Hochschullehrer für Sonder- und Rehabilitationspädagogik mit Schwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. Viviane Albers, Ausbildung zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik im Fachbereich Pädagogik bei Verhaltensstörungen / emotionale und soziale Entwicklung. Honorarkraft in der Leinerstift Akademie GmbH.

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Leseprobe

4Schulische Prävention und Intervention


4.1Bedeutsamkeit schulischer Prävention


Ohne fachliche Einflussnahme zeigen die Verläufe von Schulversäumnissen vielfach einen Prozess der Eskalation mit zunehmender Entfremdung von der Schule: von der Schulaversion über den Schulabsentismus zum Dropout (Beekhoven a. Dekkers 2005). Zu Beginn – oft noch in der Grundschulzeit – wirken sich unangenehme Erfahrungen mit negativen Begleitemotionen so aus, dass Unzufriedenheit sowie auch eine erste Abwehrhaltung gegenüber schulischem Handeln auftreten. Es sind vielfach demotivierende Versagenserlebnisse beobachtbar, die häufig weder in der Schule noch in der Familie aufgefangen werden. Die Grundbedingung dafür, dass mit dem täglichen Aufenthalt in der Schule überwiegend positive Gefühle verbunden sind, wird nicht erfüllt (Sälzer 2010). Eine schulaversive Haltung baut sich auf. Um kognitive Dissonanzen zu vermeiden, wird die Bedeutung von Schule abgewertet.

Es geht hier um einen Prozess, der relativ früh mit nachlassendem schulischen Engagement beginnt und dem man ebenso früh mit geeigneten Strategien der Teilhabe begegnen sollte (Partizipation, Schaffung sozialer Bindungen, Lernunterstützung, Identifikation ermöglichen u. a. m.) (Hickman et al. 2008). In der Folge verfestigen sich diese Erscheinungsformen leicht, wenn sich die Rahmenbedingungen nicht ändern. Zumeist häufen sich Konflikte (z. B. über das verspätete Erscheinen nach der Pause, das Sozial- oder Arbeitsverhalten des Schülers im Unterricht), die Beziehung zur Lehrkraft entwickelt sich ungünstig, manche Betroffene gewinnen Abstand zu Mitschülern oder werden gemieden. Vor diesem Hintergrund setzen erste unerlaubte Fehlzeiten ein, die emotionale Entlastung bringen und nicht selten auch durch subjektiv befriedigendere Aktivitäten am Vormittag verstärkt werden (Ricking 2014). Die Distanzierung von der Schule ist somit ein langfristiger Prozess, der oft mit einer schulablehnenden Haltung beginnt, sich kontinuierlich aufbaut, sich später in Schulabsentismus manifestiert und in nicht wenigen Fällen im Dropout endet (Hickman et al. 2008). Der Schulabbruch bildet in diesem Zusammenhang vielfach den Endpunkt einer »Abwärtsspirale« aus Leistungsversagen, Demotivation, Perspektivlosigkeit und Vermeidung.

So können Schulen Versäumnisse begünstigen, indem sie basale Bedürfnisse nach Anerkennung, Wertschätzung, Teilhabe und Kompetenzerleben missachten (»push-effect«). Die vermeintlich attraktiveren Bedingungen außerhalb der Schule vermögen die Abwesenheit zu unterstützen (»pull-effect«), wie z. B. auszuschlafen, dann mit schwänzenden Mitschülern durch die Innenstadt zu ziehen oder am Computer zu spielen (Lee a. Burkam 2003). Gelingt es nicht, den Schüler zurückzuführen und wieder stärker an die Schule zu binden, droht eine Entkopplung, die mit zunehmender Dauer kaum noch rückgängig zu machen ist.

Denken Sie an einen Schüler, der bereits schulaversive Verhaltensweisen zeigt. Betrachten Sie dieses Entwicklungsmodell. Überwiegen eher Push- oder Pull-Faktoren, die eine mögliche schulaversive Tendenz in Schulversäumnisse oder sogar einen Dropout münden lassen könnten? Welche Motive, Ursachen und Merkmale der schulaversiven Haltung erkennen Sie – unter Berücksichtigung der vielfältigen Erscheinungsformen von Schulversäumnissen?

Abb. 3: Entwicklungsmodell Schulabsentismus/Dropout (Ricking 2006)

In präventiver Hinsicht muss es darum gehen, den Teufelskreis zwischen Versagen und Vermeiden zu durchbrechen, es nicht zu einer Chronifizierung kommen zu lassen und frühzeitig mit geeigneten Maßnahmen eine Verbesserung der Beziehungsqualitäten wie auch der Anbindung an Schule und Unterricht herbeizuführen.

»Präventive und frühe Interventionsmaßnahmen erscheinen dringend geboten, da Schulverweigerung oder die drohende Schulverweigerung nicht erst im 7. Pflichtschuljahr beginnt, sondern sich bereits in der Grundschule abzeichnet. Schulabstinenz als Endpunkt gravierender Belastungen von Kindern und Jugendlichen macht präventive Maßnahmen, die nicht zuletzt eine Veränderung vom Schulalltag, eine starke Verknüpfung von Schule und Jugendhilfe (z. B. Schulsozialarbeit) erfordert, dringend notwendig« (Mutzeck, Popp u. Oehme 2001, S. 71).

Dabei bieten Schüler, die die Schule aus eigenem Antrieb regelmäßig besuchen, einen wichtigen Orientierungspunkt. Diejenigen, die sozial eingebunden sind, Wertschätzung erfahren und sich sicher fühlen, entwickeln ein Zugehörigkeitsgefühl, sodass sie sich als wichtigen Teil einer (Schul-)Gemeinschaft erleben (Sälzer 2010). Werden sie darüber hinaus in ihrem Handeln bestätigt, erfahren sich als erfolgreich und wirksam in einem zufriedenstellenden Unterricht, der mitunter auch Freude bereitet, ist die Wahrscheinlichkeit illegitimer Versäumnisse gering und der Schulbesuch kein Problem. Es ist somit notwendig, schulische Bedingungen so zu gestalten und dahingehend zu entwickeln, dass sich Schüler in ihrer Gemeinschaft wohl und zugehörig fühlen sowie Erfolg und Bestätigung erleben (Ricking 2014). Schulabsentismus ist nicht nur ein schulisches Problem, doch Schulen können im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Anwesenheit und die Teilhabe von Schülern an ihren Aktivitäten deutlich beeinflussen und angesichts der extrem negativen Folgen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen ihren Beitrag dazu leisten, illegitime Schulversäumnisse zu minimieren.

4.2Elemente schulischer Prävention und Intervention


In vielen Schulen wird schulischer Absentismus immer noch als primär schulrechtliches oder bildungspolitisches Problem behandelt, das durch ein Ordnungswidrigkeitsverfahren und den gesetzlichen Schulzwang geahndet wird. So bieten entsprechende Vorgaben die abgestuften Möglichkeiten der Androhung und Auferlegung eines Bußgeldes, der Zwangszuführung durch die Polizei sowie von Arreststrafen. Aus pädagogischer Perspektive ist zu bezweifeln, ob eine Geldstrafe für Eltern – die häufig den erzieherischen Einfluss auf das Kind oder den Jugendlichen verloren oder stark eingebüßt haben – Zwangszuführungen oder Arreststrafen als angemessene Sanktionen betrachtet werden können bzw. angemessen sind, um zukünftigen Absentismus zu verhindern (Ricking u. Hagen 2016). Die Möglichkeit, im Verwaltungsverfahren über Mahnung, Bußgeld und Zwang die Schüler zurückzugewinnen, sind erfahrungsgemäß begrenzt. Das Verfahren kann ggf. dann seinen Zweck erfüllen, wenn Erziehungsberechtigte den Schüler bewusst von der Schule zurückhalten (Ricking u. Speck 2018). Zwangsmaßnahmen sind häufig nur kurzfristig verhaltenswirksam, tangieren wichtige Faktoren nicht, und es mangelt ihnen an einer schulpädagogischen Komponente, die Schüler wieder an die Schule heranführt und sinntragend einbindet.

Der Umgang mit Schulversäumnissen verlangt, unabhängig von rechtlichen Regelungen, eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen des Schulabsentismus, um passgenaue und zielführende Unterstützungsmaßnahmen im Sinne der Prävention, Intervention und Rehabilitation initiieren zu können (Albers, Bolz u. Wittrock 2018):

Abb. 4: Zusammenspiel von Prävention – Intervention – Rehabilitation (Albers, Bolz u. Wittrock 2018, S. 271)

Prävention soll jedoch insbesondere daran ansetzen, Schulversäumnisse zu vermeiden. Infolgedessen sollte eine ressourcen- und beziehungsorientierte Haltung im Fokus stehen.

Der adäquate Umgang mit Schulabsentismus wird maßgeblich von einem Zusammenspiel verschiedener schulischer Ebenen bestimmt (Kearney 2016; Reid 2014; Ricking 2014; Ricking u. Hagen 2016). Ricking (2014) zufolge stehen zur Prävention von Schulabsentismus drei Ebenen im Fokus. Zu diesen Ebenen zählen sowohl die organisatorische als auch die pädagogische sowie die unterrichtliche Ebene.

Auf pädagogischer Ebene gilt es, zum einen durch Lehrerverhalten und Beziehungsgestaltung mit Schülern Einfluss auf das Wohlbefinden der Schüler zu nehmen. Zum anderen soll die schulische Integration, bspw. durch eine enge Vernetzung mit der Schulsozialarbeit und den Eltern, erhöht werden.

Abb. 5: Präventionsebenen (Ricking 2014, S. 43; Albers, Bolz u. Wittrock, S. 272)

Die Beachtung methodisch-didaktischer Entscheidungen auf unterrichtlicher Ebene ist zur Partizipationsförderung unerlässlich, z. B. durch Hilfen zur Selbstregulation oder durch eine handlungsorientierte Ausrichtung – ein wesentlicher Bestandteil von Unterricht (Ricking 2007, 2014).

Außerdem stellt die Wahrnehmung, Erfassung und Analyse von An- und Abwesenheiten der Schüler eine Voraussetzung zur Ableitung...

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