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Schulaufgaben

Wie wir das Bildungssystem verändern müssen, um unseren Kindern gerecht zu werden

AutorJutta Allmendinger
VerlagPantheon
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783641082840
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Was sich ändern muss, damit die Schule jedem Kind gerecht wird
Auch nach etlichen Reformen gelingt es den Schulen nicht, Kinder nach ihrer jeweiligen Leistungsfähigkeit zu fördern. Statt Schülern Raum zu geben, um sich in ihrem eigenen Tempo Wissen zu erwerben, werden sie schon früh in starre Lehr- und Zeitpläne gezwungen. Vor allem leistungsschwächere Schüler und Kinder aus nicht privilegierten Elternhäusern werden so rasch abgehängt und ausgesiebt.

Jutta Allmendinger, geboren 1956, ist Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB). Sie studierte Soziologie, Sozialpsychologie, Volkswirtschaftslehre und Statistik an den Universitäten Mannheim und Wisconsin und promovierte an der Harvard University. Nach Stationen am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin und an der Harvard Business School wurde sie 1992 Professorin für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie Direktorin des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. Seit 2007 ist Jutta Allmendinger Professorin für Bildungssoziologie und Arbeitsmarktforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin und Präsidentin des WZB. Für ihre wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Arbeit wurde sie mit zahlreichen Preisen geehrt, zuletzt erhielt sie den Communicator-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Allmendinger ist Autorin zahlreicher Bücher, darunter »Frauen auf dem Sprung« (2009) und »Verschenkte Potenziale« (2010).

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Leseprobe

KAPITEL 1


Aller Anfang braucht mehr als Zeit


Die Prägung der ersten Lebensjahre

 

1994, Mitte April. Ein sonniger Nachmittag in Norddeutschland. Im Stundentakt sieht man Frauen, teilweise begleitet von ihren Männern, ein schönes Einfamilienhaus betreten und wieder verlassen. Geöffnet wird die Tür von einer blonden Frau in Jeans und mit lustigem Pferdeschwanz, manchmal auch von einem großen, fast schlaksigen Mann. Um was es geht, erschließt sich dem Beobachter von außen nicht.

Meine Freunde Susanne und Michael erwarten im August ihr erstes Kind. Schon lange steht fest, es wird mein Patenkind sein: das Kind, welches ich hoffentlich über Jahrzehnte begleiten würde. Auch deshalb bin ich heute dabei. Die zukünftigen Eltern hatten eine Anzeige in die Zeitung gesetzt: Wir suchen eine Kinderfrau. Aus den vielen Zuschriften wählten sie mühsam fünf Bewerbungen aus. Die Frauen stellen sich heute vor. Eine skurrile Situation. Die Schwangerschaft sieht man Susanne kaum an. In der Wohnung deutet nichts darauf hin, dass hier bald ein Kind leben wird. Fachzeitschriften für Architektur und Design stapeln sich auf den Tischen. Nüchtern und irgendwie provisorisch ist alles eingerichtet, fast wie eine zu groß geratene Studentenbude.

Wir sitzen am Küchentisch und befragen die fremden Frauen, wie sie ein Kind erziehen würden. Wie würden sie es versorgen und betreuen? Welche Erziehungsstile würden sie wohl anwenden? Nur Michael und ich fragen, einen vorbereiteten Bogen mit Stichpunkten in der Hand. Susanne wirkt ungewohnt reserviert, fast in sich gekehrt. Die Bewerberinnen antworten, manche lassen ihre Männer für sich sprechen, es fehlt ihnen das nötige Deutsch. Ganz unterschiedliche Menschen haben wir zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Ältere Damen, junge Studentinnen, politische Flüchtlinge, die in Deutschland nur schwer Fuß fassen dürfen. Alle haben Erfahrungen mit Kindern, eine Ausbildung als Erzieherin und entsprechende Abschlüsse kann keine vorweisen.

Meine Freunde benötigen eine Kinderfrau ab Oktober, unmittelbar nach dem Mutterschutz von Susanne. Michael, ein Architekt, macht allemal keine Babypause. Er ist in mehrere Großprojekte eingebunden. Susanne, eine Innenarchitektin, will zügig zurück ins Büro. Sie möchte sich auf Lichtdesign spezialisieren und dann ihr eigenes Design-Büro gründen. Die Kinderfrau soll zunächst ganztags und flexibel betreuen, je nach Arbeitspensum der Eltern. Wenn das Kind sechs Monate alt ist, kann sie ihre Arbeitszeit etwas verringern, dann darf das Kind in eine Krippe. Dort ist es bereits seit letztem Jahr angemeldet, als Susanne und Michael entschieden, endlich eine Familie zu gründen. Es ist die einzige Krippe für unter Einjährige in der norddeutschen Stadt. Es ist eine private Einrichtung. Für meine gut verdienenden Freunde kostet sie, was sie wert ist: 1400 DM im Monat. Die Kinderfrau brauchen sie trotzdem. Die Kita richtet sich nicht nach den Projektterminen der Eltern, nicht nach den Dienstreisen des Vaters und den Prüfungen der Mutter, abends und an den Wochenenden bleibt sie geschlossen. Susanne und Michael rechnen mit Kosten von 3500 DM im Monat. Das ist etwas mehr, als Susanne zu dieser Zeit verdient. Wer kann sich das schon leisten.

Michael hatte die Idee und ergriff die Initiative. Er schlug vor, das Kind in der Kita anzumelden, bevor es überhaupt gezeugt war, und eine Kinderfrau auszuwählen, vier Monate vor der Geburt. Susanne macht das Angst. Sie will das alles anders. Nein, mit dem Kind zu Hause bleiben möchte sie nicht. Keinesfalls. Das sagt sie auch Michael. Sie will wieder an den Schreibtisch, arbeiten und ihre beruflichen Pläne verwirklichen. Doch dieses Treffen am Küchentisch? Das Kind soll erst einmal da sein, gesund, quietschend und froh. Sie will es sehen, erst dann die Kinderfrau und die Kita suchen. Wie soll man jetzt wissen, was passt?

Mit 36 Jahren gilt Susanne als Risikomutter. Sie muss häufiger zum Arzt als jüngere Frauen, mehr Vorsorgetests werden ihr empfohlen. Sie wartet wochenlang auf die Ergebnisse, ein wichtiges steht noch aus. Das macht sie unsicher. Mittelfristige Planungen sind in ihrem Beruf ganz normal, in diesem intimen Bereich empfindet sie das aber als anmaßend. Susanne braucht ihren gesamten Verstand, um die Betreuungsfrage so früh zu klären. Sie will das Ganze schnell hinter sich bringen. Bereits an diesem Nachmittag fällt die Entscheidung. Maria wird eingestellt, eine spanische Frau mittleren Alters. Selbst kinderlos traf sie mit ihrem Mann gerade in Deutschland ein, als Lehrerin ohne Aussicht auf eine Anstellung in deutschen Schulen. Er mit passablem Deutsch, sie holpert noch und muss lernen. Maria kam auf Empfehlung, sie ist eine entfernte Bekannte. Das war der ausschlaggebende Grund. Man kann sich auch vorstellen, Maria langfristig zu beschäftigen, denn meine Freunde wollen gerne ein zweites und drittes Kind.

Alexander kam im August zur Welt. Ein Wonnebrocken glücklicher Eltern. Maria half viel früher als geplant, wo sie nur konnte. Susanne war froh darüber. So fiel ihr die Rückkehr in den Beruf leicht. Das Kind war an Maria gewöhnt und nach sechs Monaten auch schnell an die Krippe. Mit den Eltern verbrachte Alex täglich wertvolle Stunden. Eine traute Familie war entstanden. Zwei Jahre später bestand Susanne ihre Prüfung. Alle Planungen hatten sich umsetzen lassen. Der hohe finanzielle Einsatz hatte sich gelohnt. Sie erwartete ihr zweites Kind.

 

Erkan, Jenny und Laura, die drei anderen Kinder dieser Geschichte, wurden im selben Jahr in derselben norddeutschen Stadt geboren. Doch 1994 kannte ich sie noch nicht. In den ersten drei Jahren wuchsen sie zu Hause auf.

Die Eltern von Erkan wollten das so. Erkans Mutter war allemal zu Hause und kümmerte sich mit ihrer Mutter um die große türkische Familie. Eine Krippe für Erkan kam ihnen nicht in den Sinn. Es ging ihm gut zu Hause. Seine Geschwister und die Erwachsenen spornten ihn an und brachten ihm vieles bei. Eine gute Bildung war den Eltern wichtig. Doch Erkan sprach nur Türkisch. Deutsche Kinder kannte er nicht. Der Einstieg in die Schule würde ihm später schwerfallen. Der Kinderarzt empfahl den Eltern daher dringend, Erkan zumindest für einige Stunden am Tag in einen Kindergarten zu geben. Da war Erkan schon drei.

Bei Jenny war es anders. Ihre Mutter war seit der Geburt ihres älteren Halbbruders arbeitslos, wollte arbeiten und litt sehr darunter, nur zu Hause zu sein. Sie wollte raus aus ihrer Wohnung, aus dem Viertel mit so vielen Sozialwohnungen. Sie wehrte sich dagegen, langsam unterzugehen, sich anzupassen an diese Gegend ohne Hoffnung. Der Vater ihres Sohnes hatte Wert darauf gelegt, dass sie sich nur um das Kind kümmert. Von seinem Lohn konnte die Familie leben. Dabei wäre die Mutter gern erwerbstätig gewesen. Ihr Realschulabschluss war nicht schlecht. Ihre Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau hatte vielversprechend begonnen. Dann wurde sie schwanger und brach die Ausbildung ab. Als der Vater ihres Sohnes sie später verließ, rutschte sie schnell in die Sozialhilfe. Die zweite Schwangerschaft folgte, Jenny wurde geboren. Der leibliche Vater erkannte seine Tochter zwar an, aber die Eltern wollten nicht zusammenleben. Jennys Mutter war also alleinerziehend. Solange eine Kinderbetreuung für die unter dreijährige Jenny fehlte, konnte die Mutter nicht erwerbstätig sein. Deshalb drängten Sozial- und Arbeitsamt sie nicht. Sie förderten auch nicht. Die junge, gescheite Frau verlor mehr und mehr den Halt. Die Antriebskraft verebbte, Hoffnung und Mut schwanden. So verstrichen die ersten Lebensjahre von Jenny.

Laura und ihre Familie hatten die unruhigsten ersten drei Jahre. Rasch nach der Geburt befürchtete ihre Mutter, dass mit ihrer Tochter irgendetwas nicht stimmen könnte. Laura erschien ihr kraftloser als andere Kinder. Der Kinderarzt versuchte sie zu beruhigen und verwies darauf, dass jedes Kind sein eigenes Tempo hat. Doch bis zur nächsten Vorsorgeuntersuchung hatte sich Lauras Zustand nicht verbessert. Sie zeigte zu wenig Muskelspannung für ihr Alter. Der Kinderarzt überwies sie ans Sozialpädiatrische Zentrum. In dieser Kinderklinik arbeiten Ärzte und Therapeuten unterschiedlicher Disziplinen unter einem Dach zusammen. Sie kümmern sich um Kinder, die sich auffällig entwickeln. Die Ärzte untersuchten Laura, führten spezielle Tests durch. Schließlich stellte sich heraus, dass Laura eine zentrale Bewegungskoordinationsstörung hat, mittelschwer, therapierbar. Die Ärzte empfahlen verschiedene Therapieformen und setzten ihre ganze Maschinerie in Gang. Laura wurde nach dem Bobath-Konzept behandelt, erhielt Cranio-Sacral-Therapie, ihre Mutter recherchierte nächtelang im Internet und übte mit Laura stundenlang nach dem Vojta-Prinzip. In regelmäßigen Abständen begutachteten die Ärzte, ob sich bei Laura Fortschritte zeigen, denn das war keineswegs sicher. Mit ihnen wartete Lauras Mutter. Sie wartete auf kleine Erfolge, eine gewisse Entwicklung. Keiner konnte ihr sagen, wann diese einsetzen, ob sie überhaupt kommen würde. Diese Unsicherheit nagte an ihr. Mit ihrem Mann konnte sie darüber nicht sprechen. Er ging anders mit der Situation um, räumte der Krankheit seiner Tochter nicht so viel Raum ein, vertraute ganz stark seinem Kind.

So suchte die Mutter den Rat einer Therapeutin in dem Sozialpädiatrischen Zentrum. Etwa ein Jahr lang sprach sie dort einmal in der Woche über ihre Ängste und ihre Trauer. Die Therapeutin half ihr, selbstbewusster mit der Krankheit von Laura umzugehen. Die unterschiedlichen Therapien und die Termine wurden ihr bald zu viel. Sie suchte eine andere Kinderärztin auf, zumal bei Laura zusätzlich eine sensorische Integrationsstörung diagnostiziert worden war. Die neue...

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