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E-Book

Schule, Moschee, Elternhaus

Eine ethnologische Intervention

AutorWerner Schiffauer
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl300 Seiten
ISBN9783518742914
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Das Verhältnis zwischen Schulen und muslimischen Elternhäusern ist belastet, wenn nicht zerrüttet. Viele Lehrer reagieren ungehalten auf Muslime, die nur selten als Bereicherung empfunden werden. Die Eltern fürchten Diskriminierung und die Entwertung der Religion. Konflikte um Schwimmunterricht und Klassenfahrten sind nur der sichtbarste Ausdruck dieser Spannungen. Im Rahmen des Projektes »Brücken im Kiez« haben Werner Schiffauer und sein Team einen Dialog zwischen Eltern, Vertretern von Moscheegemeinden und Lehrern initiiert und versucht, einen Lernprozess in Gang zu setzen. Jenseits aller Klischees von Parallelgesellschaften und Integrationsverweigerung zeigen sie auf, wo konkret die Hürden für ein besseres Miteinander liegen.

<p>Werner Schiffauer, geboren 1951, ist Professor f&uuml;r Kulturanthropologie in Frankfurt an der Oder. In der edition suhrkamp erschien zuletzt <em>Nach dem Islamismus. Die islamische Gemeinschaft Mill&icirc; G&ouml;r&uuml;?</em> (es 2570).</p>

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Leseprobe

Meryem Uçan


Keine Barrierefreiheit:
Migranteneltern und Schule


 

 

Im Einführungskapitel hatten wir das belastete Verhältnis von Elternhaus und Schule angesprochen. Dies soll im vorliegenden Kapitel vertieft werden. Damit wird die Problemstellung entfaltet, die dem ganzen Projekt zu Grunde lag.

Wie erleben türkischstämmige Eltern Schule? Wie agieren sie in dem Feld von Bildung, Schule und Familie? Welche Ursachen liegen ihren Deutungen und Handlungen in Bezug auf Schule und Bildung zu Grunde? Welche Erfahrungen beeinflussen ihre Sichtweisen und Haltungen?[1]

Selbstverständlich kann man nicht pauschal von den türkischen Eltern sprechen. Es handelt sich um eine höchst heterogene Gruppe, deren Mitglieder sich u. ‌a. nach Schulbildung (von Menschen mit geringer Schulbildung bis hin zu Akademikern) differenzieren sowie danach, ob sie ihre Schulbildung in der Türkei oder in Deutschland durchlaufen haben. Auch die Sprachkompetenz beziehungsweise ihre Sicherheit im Umgang mit der deutschen Sprache und der Umstand, ob es sich um praktizierende Muslime handelt oder nicht, sind wichtige Differenzierungsmerkmale.

Im Folgenden wird die keineswegs kleine Gruppe im Zentrum stehen, bei der die Zusammenarbeit mit der Schule sich als schwierig erweist – also diejenigen Eltern, die nur eine elementare Schulbildung von meist fünf Jahren in der Türkei durchlaufen oder die in Deutschland ohne einen Abschluss die Schule verlassen haben, die unsicher im Deutschen und die als praktizierende Muslime in besonderem Maße diskriminierenden Zuschreibungen ausgesetzt sind. Diese Eltern empfinden die Beziehung zur Schule als belastet[2]; und umgekehrt werden die Eltern von Lehrkräften als schwierig erlebt. Sie sind häufig für die Lehrer nicht erreichbar und beteiligen sich kaum an schulischen Aktivitäten. Die Lehrer ziehen daraus den Schluss, dass diese Eltern sich ihrer Verantwortung entziehen, und weisen ihnen damit die Schuld zu. Sie werden als »schulfern« klassifiziert. Ihnen wird unterstellt, dass sie sich nicht für die schulischen Leistungen ihrer Kinder interessieren und dass ihnen an den schulischen Abschlüssen der Kinder nichts liegt.

Nach einer jahrelangen Auseinandersetzung mit diesem Thema als Sozialarbeiterin, nach den Interviews, die ich im Rahmen meiner Promotionsarbeit führte, und nach den Elternseminaren im Rahmen des Projekts bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass nicht das vermeintliche Desinteresse der Eltern das Problem ist. Im Gegenteil: Viele Eltern, die auf Grund ihres eigenen niedrigen Ausbildungsgrades unter schlechten Arbeitsbedingungen, unsicheren Arbeitsverhältnissen und niedriger Entlohnung zu leiden haben, wollen den Kindern dies alles ersparen. Sie verbinden mit ihrer Situation nicht nur finanzielle Schwierigkeiten und einen bescheidenen Lebensstil, sondern vor allem auch einen niedrigen sozialen Status in der Gesellschaft. Sie werden als »billige Arbeitskraft« behandelt und erleben in vielen alltäglichen Angelegenheiten wie beim Einkauf, beim Aufsuchen von Ämtern oder bei Arztbesuchen eine Entwertung ihrer Person. Diese Demütigungen stehen hinter den hohen Bildungsambitionen für ihre Kinder. Sie sollen ein besseres Leben haben! Schließlich wurde ja auch ihre eigene Migration durch das Ziel sozial aufzusteigen motiviert – wenn schon nicht selbst, dann auf jeden Fall die Kinder.[3] Wenn die Kinder dann in der Schule scheitern, stellt dies auch den Sinn der Migration in Frage. So ist die Aussage einer Mutter im Gespräch mit mir zu verstehen: »Wenn meine Kinder die Schule abbrechen würden, würde ich wahnsinnig werden: Ich würde vermutlich im Dreieck springen. Meine Kinder sollen es besser haben.«

Wenn es aber nicht mangelnde Bildungsaspiration ist – wo liegt dann das Problem? Schließlich nehmen die Lehrer für sich in Anspruch, alles zu machen, was in ihrer Hand liegt, um die Eltern zu erreichen. Meine These ist: Die deutsche Schule ist nicht »barrierefrei« – weder in sprachlicher noch in kultureller noch in sozialer Hinsicht. Sie ist eine von der deutschen Mittelschicht geprägte Institution. Die Barrieren, die sich daraus ergeben, werden von denen sehr bewusst wahrgenommen, die mit der Lehrerschaft weder Sprache noch Kultur oder Schichtzugehörigkeit teilen – und sie sind fast unsichtbar für diejenigen, die dieser sozialen Klasse angehören. Das bei den praktizierenden Muslimen verbreitete Bewusstsein, abgelehnt oder gar missachtet zu werden, macht es noch einmal schwieriger, diese Barrieren anzugehen, geschweige denn zu überwinden. Die Folge ist oft ein resignativer Rückzug.

Sozio-kulturelle Barrieren


Der Umgang mit dem deutschen Schulsystem verlangt erhebliche kulturelle Kompetenzen.[4] Man muss wissen, wo man wie rechtzeitig Informationen erhalten kann – und man muss wissen, wie man diese Informationen zu bewerten und einzuordnen hat. Dieser Punkt wurde mir besonders deutlich bei unseren Elternseminaren, bei denen der Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule das Thema war. Die Teilnehmer waren zum Großteil Eltern mit geringer Bildung. Es wurde deutlich, dass ihnen das deutsche Bildungssystem oft sehr undurchsichtig war. Sie sind sich zwar der Bedeutung einer richtigen Schulwahl bewusst, sehen sich aber kaum in der Lage, eine sachkundige Entscheidung zu treffen.

 

Bei einem Elternseminar zu diesem Thema berichtete mehr als die Hälfte der Eltern, dass sie bei der Entscheidung, das Kind für eine weiterführende Schule anzumelden, vor großen Schwierigkeiten standen. Soll das Kind das Gymnasium oder die »anderen Schulen« besuchen? Bei der Diskussion stand einerseits die Angst vor einer Überforderung der Kinder am Gymnasium im Raum, andererseits die Sorge, dass sie an der »Realschule« (die Eltern nutzten noch die alten Bezeichnungen, obwohl die Schulen zu Sekundarschulen umgewandelt worden waren) hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben würden. Eine Mutter berichtete, dass der Lehrer auf der Basis des Notendurchschnitts ihrer Tochter eine Gymnasialempfehlung ausgesprochen habe. Der Vater unterstütze diese Entscheidung und sei sich mit der Tochter darin einig. Sie ihrerseits habe jedoch große Zweifel, ob die Tochter die am Gymnasium geforderten Leistungen würde erbringen können. Die Tochter sei sehr vergesslich und ihrem Eindruck nach viel zu langsam. Ihrer Meinung nach überschätze der Vater die Fähigkeiten der Tochter und sehe nicht, dass diese womöglich die Schule später wieder verlassen müsste. Auch andere Mütter sorgten sich um die Kinder und würden ihnen gerne schlechte Erfahrungen wie das »Herunterstufen« und den Schulwechsel ersparen. Die Väter schienen insgesamt eher zum Gegenteil zu neigen: Nach Darstellung der Mütter (nur sie waren anwesend) seien Väter eher angstfrei und plädierten in Zweifelsfällen für das Gymnasium – auch dann, wenn die Empfehlung in Richtung Gesamtschule gehe.

 

So weit unterscheidet sich die Diskussion in nichts von ähnlichen Diskussionen in anderen Elterngruppen. Aus ihr tritt das gleiche Interesse, aber auch die gleiche Sorge hervor wie bei allen Eltern. Der Unterschied zu Eltern der (nicht-migrantischen wie migrantischen) Mittelschicht zeigt sich jedoch an zwei Punkten.

Die meisten bildungsschwachen Migranteneltern verfügen über keine eigenen Erfahrungen mit weiterführenden Schulen und haben keine genauen Vorstellungen über die geforderten Leistungen. Sie können nicht einschätzen, ob ihre Kinder in der Schule überfordert oder unterfordert sind. Auch sind sie mit den Leistungen und Fähigkeiten ihrer Kinder nicht vertraut, da sie diese auf Grund fehlender Kompetenz nie bei den Hausaufgaben unterstützen konnten. In dieser Hinsicht sind sie auf die Selbsteinschätzungen ihrer Kinder und die Bewertung der Lehrer angewiesen.

Hier wird jedoch ein fehlendes Institutionenvertrauen relevant. Viele Eltern haben das Gefühl, den Lehrern nicht immer trauen zu können, was die Einschätzungen der Leistungen und die Gymnasialempfehlungen betrifft. Dabei schlagen die Traumata einer ganzen Generation, in »Ausländerklassen« oder Sonderschulen abgeschoben zu werden, durch. Man kann kaum ein Gespräch mit Angehörigen der zweiten Generation über ihre Schulerfahrungen führen, ohne dass diesbezügliche Erfahrungen eine zentrale Rolle spielen.[5] Viele räumen ein, dass sich die Lage inzwischen verbessert hat, bleiben aber dabei, dass die türkischstämmigen Schüler nach wie vor anders behandelt und eingeschätzt werden als deutschstämmige Kinder.

 

Eine Mutter kritisierte die Haltung vieler Lehrer, die von vornherein niedrigere Erwartungen an türkischstämmige Schüler stellten, was zur Demotivation bei den Kindern führe. Andere Eltern berichteten von Erfahrungen, nach denen türkischstämmige Kinder in Bezug auf Notengebung benachteiligt und nicht im gleichen Maße wie herkunftsdeutsche Kinder gefördert würden. Derartige Erfahrungsberichte werden innerhalb der Community diskursiv verstärkt – Geschichte folgt auf Geschichte und verstärkt so das Misstrauen.

 

Bei bildungsschwachen Eltern greifen auch Informationsangebote nicht, wie sie etwa am »Tag der offenen Tür« gemacht werden. Insgesamt scheint die Aufforderung der Lehrer, die ins Auge gefassten Schulen vorher zu besuchen, für viele Eltern wenig hilfreich, weil sie keine genauen Angaben darüber erhalten, worauf sie zu achten haben.

 

»Die Lehrer sagen uns, wir sollen die Schulen besuchen. Was soll ich mir denn da anschauen...

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