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Schulinfarkt

Was wir tun können, damit es Kindern, Eltern und Lehrern besser geht

AutorJesper Juul
VerlagKösel
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783641098933
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis5,99 EUR
Dieses Buch bringt Jesper Juuls Analysen, Vorschläge und Provokationen zum Thema Schule auf den Punkt. Er bezieht darin vor allem Position für die Schüler, dabei aber nicht gegen die Lehrer. In seinem Plädoyer, die bestehenden Zustände an Schulen nicht mehr länger hinzunehmen, beschreibt der bekannte Konfliktberater und Familientherapeut die Bausteine, die eine neue Schule braucht - damit sie nicht länger eine Institution ist, die Kindern und Jugendlichen die natürliche Freude am Lernen austreibt.

Jesper Juul hat selbst Lehramt für Religion und Geschichte studiert und viele Weiterbildungen mit Lehrern geleitet. Mit seinem Buch ermutigt er

• Schüler, Eltern und Lehrer, sich als Leidtragende am überkommenen Schulsystem zu verbünden.

• Nicht länger darauf zu warten, dass die Politik dafür sorgt, dass sich etwas ändert.

• Die Schüler als gleichwürdige Gesprächspartner und Mitspieler in diesem System einzubeziehen.

• Als wichtigsten ersten Schritt die Beziehungsqualität zwischen Lehrern und Schülern zu verändern.

Und er zeigt ganz konkrete Wege auf, um heute damit anzufangen.



Jesper Juul (1948-2019) war einer der bedeutendsten und innovativsten Familientherapeuten Europas, Konfliktberater und Gründer des Elternberatungsprojekts familylab international. Durch zahlreiche Seminare, Vorträge, Medienauftritte und erfolgreiche Elternbücher wurde er international bekannt. Seine respektvolle, gleichwürdige Art, mit Menschen umzugehen, beeindruckt Fachleute wie Eltern auch heute noch immer wieder neu.

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Leseprobe

Schule unter Druck

Die Schulen, insbesondere die Schulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, befinden sich in einer tief greifenden Krise, glauben jedoch, dass diese Krise von den Kindern und ihren Eltern ausgeht. Als ich vor über fünfzehn Jahren meine Arbeit in Deutschland begann, konnte ich mit dem Wort Bildungsdruck, das mir immer wieder begegnete, nicht so viel anfangen. Doch je mehr Eltern, Kindern und Jugendlichen ich begegnete, desto stärker verspürte ich diesen Druck am eigenen Leib. Es ist ein Phänomen, das ich in Dänemark und den anderen skandinavischen Ländern nie in ähnlicher Weise erlebt habe.

Heute muss ich konstatieren, dass im gesamten deutschsprachigen Raum ein enormer Bildungsdruck herrscht. Dass dieser Zustand auf Dauer untragbar ist, dürfte jedem klar sein, denn Druck erzeugt Gegendruck, führt also – nicht nur in der Physik – zu Widerstand, und so wächst der Druck allmählich ins Unermessliche.

Der Bildungsdruck, wie er hierzulande herrscht, ist ein Phänomen, das ich in Dänemark und den anderen skandinavischen Ländern nie in ähnlicher Weise erlebt habe.

Dieser Bildungsdruck ist nicht nur zum Scheitern verurteilt, sondern auch äußerst ungesund, weil er die zwischenmenschlichen Beziehungen, vor allem zwischen Eltern und ihren Kindern, belastet und das Selbstgefühl der Kinder beeinträchtigt.

Denn jedes Mal, wenn wir unseren Kindern sagen, sie müssten den Anforderungen der Schule unbedingt gerecht werden, weil sie sonst keine Zukunft hätten, tötet das ihre innere Stimme und hindert sie daran, ihr Selbstgefühl zu entwickeln.

Beim Selbstgefühl (manchmal auch Selbstwertgefühl genannt) handelt es sich, im Gegensatz zum Selbstvertrauen, um eine existenzielle Qualität. Es spiegelt unser Wissen und Erleben davon, wer wir sind. Wir nehmen ein gut ausgeprägtes Selbstgefühl als Gefühl wahr, in uns selbst zu ruhen, uns durch und durch wohlzufühlen. Ein mangelndes Selbstgefühl wird als konstantes Empfinden von Unsicherheit, Selbstkritik und Schuld erlebt. Das gesunde Selbstgefühl sagt uns, dass wir in Ordnung und wertvoll sind, allein deshalb, weil wir existieren. Selbstvertrauen hingegen handelt von unseren konkreten Fähigkeiten und Fertigkeiten, von dem, was wir können und zu leisten imstande sind. (Weil mir die Unterscheidung zwischen Selbstgefühl und Selbstvertrauen so wichtig ist, gehe ich in einem späteren Kapitel noch einmal darauf ein.)

Es gibt, was die ersten Schuljahre betrifft, kein Kind, das seine Eltern nicht glücklich machen möchte.

Kein Wunder also, dass das Selbstgefühl von Kindern leidet, die den Druck der Schule zu spüren bekommen. Man sollte sich in diesem Zusammenhang vergegenwärtigen, dass Kinder ihre Eltern unbedingt glücklich machen wollen. Es gibt, was die ersten Schuljahre betrifft, kein Kind, das seine Eltern nicht glücklich machen möchte. Wenn ihm das nicht gelingt, liegt es keinesfalls daran, dass es faul oder »unmöglich« ist oder seine Eltern nicht mehr liebt.

Druck ist eine beständige Misstrauenserklärung, dabei ist das Allerwichtigste für die Entwicklung des Selbst(wert)gefühls bei Kindern und Jugendlichen Vertrauen, Vertrauen und nochmals Vertrauen. Nicht das Vertrauen darauf, dass sie das tun, was ihre Eltern sich erwarten, sondern das Vertrauen darauf, dass sie im Rahmen ihrer persönlichen Erfahrungen bestmögliche Entscheidungen treffen – was Fehlentscheidungen mit einschließt.

Deswegen schlage ich vor, ein, zwei Mal im Jahr eine Schulfeier zu veranstalten, auf der wir unser Vertrauen darin zum Ausdruck bringen, dass unsere Kinder ihr Bestes geben.

Kinder wollen lernen

Vor Kurzem habe ich ein elfjähriges Mädchen mit seinen Eltern getroffen, und als ich die Eltern fragte, worüber sie sprechen wollten, antwortete das Mädchen, sie glaube, es ginge um sie, aber sie würde gern selber reden. Sie sagte, sie habe ein Problem, bei dem ich ihr wahrscheinlich nicht helfen könne. Als ich nachfragte, was ihr Problem sei, erwiderte sie: »Ich hasse meine Schule, aber ich liebe es zu lernen!«

Danach hat sie sehr genau beschrieben, warum sie ihre Schule hasst. Und ohne ins Detail gehen zu wollen, kann ich nur sagen, dass ich an ihrer Stelle die Schule ebenfalls gehasst hätte. Dennoch geht sie jeden Tag hin, wie ein Industriearbeiter.

Für mich ist es immer wieder eine furchtbare Erfahrung, wenn aufgeweckte Kinder, die über so viel Lebensfreude, Intelligenz und gute Voraussetzungen verfügen, Tag für Tag leiden müssen. Was nicht etwa an einzelnen schlechten Lehrern liegt, sondern an einer allgemeinen Stimmung und Lernatmosphäre, die man nur als unmenschlich bezeichnen kann.

Andere Kinder sagen, dass sie keinen Sinn darin sehen, zur Schule zu gehen, und sie nicht lernen wollen. Dabei bin ich in meinem Leben noch keinem einzigen Kind begegnet, das im Grunde nicht gern lernen wollte. Außerdem habe ich zu Beginn meiner Zeit am Kempler-Institut (ein Ausbildungs- und Beratungsinstitut für Beziehungskompetenz) zehn Jahre lang mit Erwachsenen gearbeitet, die nur wenige Jahre zur Schule gegangen waren oder diese vorzeitig abgebrochen hatten. Auch hier dasselbe Bild: Wenn wir diese Erwachsenen, unter denen sich viele alleinerziehende Mütter befanden, nach ihren Wünschen fragten, dann antworteten sie in der Regel, sie wollten vor allem ihre Schulbildung abschließen. Sie alle wollten erneut die Schule besuchen, obwohl sie dort so furchtbare, teils traumatische Erfahrungen gemacht hatten.

Ein, zwei Tage, bevor es losgehen sollte, riefen sie dann jedoch oft bei mir an und machten einen Rückzieher, weil sie der Mut verlassen hatte. Also gingen wir dazu über, eine Art schulvorbereitenden Kurs zu veranstalten, der ihnen so sehr den Rücken stärkte, dass sie schließlich in der Lage waren, ihre Ängste zu überwinden und der Schule sowie ihren Lehrern zu begegnen. In derselben Situation, nämlich ständig ihre Angst und Unsicherheit überwinden zu müssen, befinden sich unzählige Kinder!

Was mich im Zusammenhang mit der Schulmisere jedoch am meisten überrascht, ist die Tatsache, dass sich die Eltern den gegenwärtigen Zuständen und dem allgegenwärtigen Druck nahezu stillschweigend beugen. Auch sie leiden darunter und klagen darüber, geben ihn aber trotzdem an ihre Kinder weiter, als sei er eine Naturerscheinung, mit der man sich eben abfinden müsse.

Was umso unverständlicher ist, da die angespannte Situation in unseren Schulen vor allem die Beziehung zwischen Eltern und Kindern belastet und unnötigem Stress aussetzt. Mit Beziehungen ist es wie mit einzelnen Zellen unseres Körpers. Wenn sie lange genug unter Stress stehen, wird ihre Funktionsfähigkeit beeinträchtigt.

Die angespannte Situation in unseren Schulen belastet vor allem die Beziehung zwischen Eltern und Kindern und setzt sie unnötigem Stress aus.

Bildungsrecht statt Schulpflicht

Um die allgemeine Atmosphäre rund um die Schule zu entspannen, sollten wir zunächst einsehen, dass die allgemeine Schulpflicht, wie sie in Deutschland herrscht, ein überflüssiges Relikt aus alten Zeiten ist und durch ein Bildungsrecht ersetzt werden sollte. Heutzutage ist es beispielsweise nicht mehr nötig, die ländliche Bevölkerung zu zwingen, ihre Kinder zur Schule zu schicken; ein Bildungsrecht hingegen wäre ein wichtiges Symbol für die Gleichwürdigkeit aller Beteiligten.

Es ist interessant, dass unsere Gesellschaft, die sich im Zuge ihrer Entwicklung immer mehr demokratisiert hat, heutzutage zunehmend über Zwang, Konsequenzen und Verbote nachdenkt. Was sich natürlich nicht allein auf die deutschsprachigen Länder bezieht. Als ich kürzlich in Slowenien war, um mit erfahrenen, reflektierten Journalisten zu reden, habe ich auch etwas von den neuen Leitlinien des slowenischen Bildungsministeriums erfahren, als da wären: mehr Regeln, mehr Grenzen, mehr Konsequenzen.

Wir sollten einsehen, dass die allgemeine Schulpflicht ein überflüssiges Relikt aus alten Zeiten ist und durch ein Bildungsrecht ersetzt werden sollte.

Es ist ebenso erstaunlich wie traurig, dass nicht nur Politiker, sondern auch Eltern und Fachleute in Sachen Schule so gern die Uhren zurückstellen möchten. Dass sie am liebsten zu einer Schule mit all ihren Regeln, Zwängen und Strafen zurückkehren würden, die ich selbst als Kind erlebt habe. Doch war unsere damalige Schule gelungen? Überhaupt nicht! Hätte es damals schon eine Pisa-Studie gegeben, wäre das wirklich eine Katastrophe gewesen. Denn die meisten Politiker sind ja nur auf die Ergebnisse dieser im dreijährigen Turnus stattfindenden Schuluntersuchung fixiert, weil sich diese so gut für eigene Zwecke instrumentalisieren lassen.

Im Jahr 2009 nahm Shanghai zum ersten Mal an der Pisa-Studie teil und landete prompt auf dem ersten Platz. Seitdem hat eine unübersehbare Zahl von Bildungspolitikern die ostchinesische Hafenstadt besucht, »um von Shanghai zu lernen«, wie es so oft hieß. Von den chinesischen Behörden werden sie freilich kaum die Wahrheit erfahren haben, dass nämlich sieben Prozent aller Schulkinder dort bis zum zehnten Lebensjahr Selbstmord begehen. Dies ist zweifellos ein drastisches Beispiel dafür, wie wenig die Pisa-Studie manchmal über die Qualität eines Bildungssystems aussagt.

Wenn Sie noch Zweifel haben, dann empfehle ich Ihnen das hochinteressante Buch Die Mutter des Erfolgs: Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte von Amy Chua. Es zeigt, dass...

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