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E-Book

Schwarze Erde

Eine Reise durch die Ukraine

AutorJens Mühling
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783644053410
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Das Porträt eines Landes in der Zerreißprobe «Wird jemand für das vergossene Blut zahlen? Nein. Niemand.» Michail Bulgakow schrieb das in Kiew, in den Wirren des russischen Bürgerkriegs, als sich in der Ukraine im Wochentakt die Grenzen verschoben. Den Deutschen gehörte damals ein Stück des Landes, den Polen schon nicht mehr, obwohl ihnen früher ein sehr großes gehört hatte. Ein kleineres den Österreichern, den Litauern lange fast alles, den Russen später der Rest, den Sowjets am Ende das Ganze. Allein den Ukrainern gehörte nichts. Ein Jahrtausend lang lebten sie zwischen Grenzen, die sich unter ihren Füßen stetig verschoben. Und die nun wieder in Bewegung geraten sind. Als Staat existiert die Ukraine erst seit 1991; was sie vorher war, ist unter ihren Bewohnern so umstritten wie unter ihren europäischen Nachbarn. Jens Mühling erzählt von Begegnungen mit Nationalisten und Altkommunisten, Krimtataren, Volksdeutschen, Kosaken, Schmugglern, Archäologen und Soldaten, deren Standpunkte kaum unterschiedlicher sein könnten. Sein Buch schildert ihren Blick auf ein Land, über das wir kaum etwas wissen - obwohl es mitten in Europa liegt.

Jens Mühling, geboren 1976 in Siegen, war Redakteur der «Moskauer Deutschen Zeitung» und des Berliner «Tagesspiegels». Heute ist er Reporter beim «Stern». Seine Reportagen und Essays über Osteuropa wurden mehrfach ausgezeichnet, sein erstes Buch «Mein russisches Abenteuer» war für den Johann-Gottfried-Seume-Literaturpreis und in Großbritannien für den renommierten Dolman Travel Book Award nominiert. Es folgten die Reportagebücher «Schwarze Erde. Eine Reise durch die Ukraine» und «Schwere See. Eine Reise um das Schwarze Meer».

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Leseprobe

Die Ameisenstrasse


Es war noch nicht Mittag, als ich im polnischen Grenzort Medyka aus dem Bus stieg, aber schon jetzt hatte die schrägstehende Septembersonne die Luft auf über dreißig Grad erhitzt. Mein Rucksack wirbelte eine gelbe Staubwolke auf, als ich ihn auf dem Asphalt absetzte. Ein lückenlos blauer Himmel zog sich straff wie ein Spannbettlaken von Horizont zu Horizont, darunter schliefen die Hügel Galiziens. Die vertrockneten Wiesen sahen aus, als hätten sie seit Jahren keinen Regen abbekommen.

Eine alte Frau kam auf mich zugelaufen. Sie hielt mir zwei Zigarettenschachteln unter die Nase, beschriftet mit ukrainischen Warnhinweisen. Auf der einen erkannte ich das Foto einer offenen Raucherlunge, auf der anderen die stilisierte Zeichnung eines erschlafften Penis.

«Kaufen Sie meine Zigaretten!», sagte sie, auf Ukrainisch.

Ich kramte ein paar Złoty-Münzen aus der Tasche und deutete auf die Raucherlunge.

«Kaufen Sie beide, damit ich nach Hause gehen kann!»

Während ich noch überlegte, was das bedeuten sollte, umringten mich vier weitere Frauen. Alle hatten Zigarettenschachteln in der Hand, manche hielten in der anderen eine Flasche Schnaps.

Ich warf einen gespielt ratlosen Blick in die Runde. Die Frauen kicherten, dann begannen sie zu erklären.

Jeden Morgen setzt sich in den grenznahen Dörfern der Ukraine eine Prozession aus vielen Frauen und ein paar Männern in Bewegung. Ihre Heimatorte liegen in jenem Dreißig-Kilometer-Streifen auf der ukrainischen Seite der Grenze, dessen Bewohner im Rahmen einer Sondervereinbarung ohne Visum den Dreißig-Kilometer-Streifen auf der polnischen Seite besuchen dürfen. Mit leeren Handkarren steigen sie in Kleinbusse, die sie zum Übergang Medyka-Schehyni bringen, wo sie in den ukrainischen Grenzkiosken Tag für Tag das Gleiche kaufen: zwei Schachteln Zigaretten, eine Flasche Schnaps. Sie rollen ihre Handkarren durch einen engen Fußgängerkorridor, der auf beiden Seiten von grünen, mannshohen Metallzäunen gesäumt ist. Nach zweihundert Metern passiert der Korridor einen ersten Metallcontainer, die ukrainische Passkontrolle, nach wieder zweihundert Metern einen zweiten, den polnischen Zoll. Vor beiden stehen die Ukrainer Schlange, und jeder hält das Gleiche in den Händen: zwei Schachteln Zigaretten, eine Flasche Schnaps. Es ist die maximale Menge, die pro Grenzgang überführt werden darf.

Auf der polnischen Seite reihen sich die Ukrainer an der Landstraße auf, die das polnische Dorf Medyka mit dem ukrainischen Ort Schehyni verbindet. Sie warten auf Kunden. Nähert sich ein polnisches Auto, wird es von ukrainischen Händlern umringt. Schon an der Körpersprache lässt sich bei solchen Begegnungen das Kräfteverhältnis zwischen beiden Seiten der Grenze ablesen. Die Polen lassen sich Flaschen und Schachteln durchs Fenster reichen, wenden sie kritisch in den Händen, geben sie kopfschüttelnd zurück. Die Ukrainer pressen sich von außen an die Fensterscheiben, nicken dankbar, kramen eilig nach Wechselgeld.

Sind die Händler ihre Ware losgeworden, laufen sie zurück: Korridor, Container, Korridor, Container, Korridor, Kiosk, zwei Schachteln, eine Flasche. An schlechten Tagen schaffen sie drei Grenzgänge, an guten sieben, an sehr guten neun. Die Złoty-Münzen, die sich bis zum Abend in ihren Taschen sammeln, sind selten mehr als fünf Euro wert. Am Ende des Tages, noch auf der polnischen Seite, machen sie Kassensturz. Ihren Profit geben sie in den polnischen Läden an der Grenze aus, meist kaufen sie Lebensmittel und Haushaltswaren, manchmal Textilien, Elektroartikel, Baumaterial, wofür das Geld gerade reicht. Was sie einkaufen, schnallen sie auf ihre Handkarren, dann fahren sie nach Hause, ihr Arbeitstag ist vorbei. Er basiert auf einem Preisgefälle, das mir eine der Frauen mit folgenden Worten erklärte: «In Polen ist alles billiger, was man zum Leben braucht. In der Ukraine ist alles billiger, wovon man schneller stirbt.»

Bevor ich mich von den Frauen verabschiedete, kaufte ich ihnen, um ihren Arbeitstag zu beschleunigen, noch eine Raucherlunge, zwei Kehlkopfgeschwüre und ein Geschwader nikotingeschädigter Spermien ab.

Sie erkundigten sich, wohin ich unterwegs sei. Ich deutete nach Osten, auf die andere Seite der Grenze. Verständnislos starrten sie mich an. Welcher Trottel, sagten ihre Blicke, kauft zu polnischen Preisen Zigaretten, wenn er in die Ukraine fährt?

Rund um den Eingang des Fußgängerkorridors hockten Kleinhändler vor ausgebreiteten Bettlaken, auf denen sich gebrauchte Elektrobohrer und Schleifmaschinen türmten, Autoradios, Mikrowellen, Föhne, Toaster – ausrangierter Wohlstandsschrott, im Westen nicht mehr neu, im Osten noch nicht alt. Frauen durchwühlten Stapel aus getragenen Kinderklamotten. Dazwischen parkten Kleinbusse, bis zur Oberkante beladen mit Äpfeln, Birnen, Kartoffeln. Auf der Ladefläche eines LKWs dösten zwei Männer mit nackten Oberkörpern zwischen eingeschweißten Würsten.

Ich kam mit einem alten polnischen Parkplatzwächter ins Gespräch, der seinen bierfassförmigen Bauch durch die Mittagshitze schleppte. Er hieß Tadyk und lebte in Medyka. Halb auf Russisch, halb auf Polnisch erklärte er mir die Grenzgeschäfte, die auf seinem Parkplatz abgewickelt werden, dem letzten vor dem Fußgängerkorridor.

In Medyka beginnt, was im Grenzjargon «die Ameisenstraße» heißt. Polnische LKWs, deren Fracht für die andere Seite bestimmt ist, entladen hier ihre Waren, um sie an die «Ameisen» zu verteilen – ukrainische Grenzgänger auf dem Rückweg von ihren Zigaretten- und Schnapsgeschäften. Die Ameisen packen die Waren auf ihre Handkarren und transportieren sie Stück für Stück über die Grenze, jeder so viel, wie es die Zollbestimmungen für den Eigengebrauch zulassen: einen Kühlschrank, drei Kinderjacken, einen Stapel Dachschindeln, zwei Kilo Fleisch. Auf der ukrainischen Seite warten andere LKWs. Die Ameisen liefern ihre Last ab und bekommen ein paar Złoty als Provision. Stück für Stück füllen sich so die Laderäume, bis die gesamte Fracht im Ameisenverfahren die Seite gewechselt hat.

Ich ließ meinen Blick über den Parkplatz wandern. Am hintersten Ende standen zwei Männer auf der Ladefläche eines Pick-ups und warfen Autoreifen in den Staub, ansonsten war kaum ein Fahrzeug zu sehen.

«Nicht viel los heute?»

Tadyk schob die linke Hand unter sein T-Shirt und kratzte seinen Bierfassbauch.

«Hier ist seit Monaten nichts mehr los. In der Ukraine ist Krieg. Niemand arbeitet, nichts funktioniert, das Geschäft ist tot.»

Als ich in den Fußgängerkorridor einbog, lief ich an einem großen Werbeplakat vorbei. Ein lächelnder Arbeiter in einem Blaumann sah auf die vorbeiziehende Ameisenstraße herab. Daneben stand auf Ukrainisch: «Sie suchen Arbeit in Polen? Logistik und Produktion, keine Vermittlungsgebühr.»

Unter dem Plakat lief ich an zwei Frauen vorbei, die Mühe hatten, ihre Einkäufe auf ihren Handkarren unterzubringen.

«Soll ich was tragen?»

Die beiden sahen mich irritiert an. Dann zeigte eine grinsend auf einen großen Pappkarton. Er sah schwer aus. Ich ging in die Knie und packte zu. Beim Hochheben fiel ich fast hintenüber – die Kiste war federleicht. Die beiden Frauen lachten. Ich sah ratlos den Karton an, aus dem ein merkwürdiges Piepsen kam. Erst als ich die Luftlöcher im Deckel sah, begriff ich, dass ich Hühnerküken trug.

«Sind die in Polen billiger?»

Die Frauen schüttelten die Köpfe. «Besser. Werden fetter als unsere.»

Wir kamen schnell durch die polnische Passkontrolle. Vor dem ukrainischen Zollcontainer mussten wir eine Weile anstehen. Nur ein Metallzaun trennte uns von den Wartenden, die im Parallelgang des Korridors in umgekehrter Laufrichtung unterwegs waren. Die Schlange vor dem polnischen Zollcontainer war deutlich länger. Während wir warteten, drängelten sich auf der anderen Seite des Zauns drei Männer in Anzügen durch die Menge. Als eine alte Frau protestierte, schwenkten die Anzugträger stumm ihre polnischen EU-Pässe und liefen weiter.

«Sind die besser als wir?», hörte ich jemanden in der Schlange auf Ukrainisch fragen.

«Europäischer», sagte ein anderer.

«Reicher.»

«Weil wir unser Geld in ihren Läden lassen.»

«Habt ihr gehört, dass die uns nur verkaufen, was sie selbst nicht mehr essen? Das haben sie im Fernsehen gesagt. In der EU würde man solches Zeug nicht mal Tieren vorsetzen!»

«Wo hat man solches Fleisch gesehen? Zerfällt in der Suppe, bevor die Kartoffeln gar sind!»

Als weiter vorne plötzlich Bewegung in die Schlange kam, verstummte die Debatte sehr abrupt. Alle Augen richteten sich auf den Zollcontainer, konzentriert verteidigten die Wartenden ihre Plätze, um vorwärtszukommen, näher an die polnischen Fleischtöpfe.

Als wir den ukrainischen Zollcontainer betraten, warf ein Uniformierter einen strengen Blick auf die vollgepackten Handkarren der beiden Frauen. Er deutete auf einen Metalltisch, wo einer seiner Kollegen gerade den Koffer eines alten Mannes durchwühlte. Ich stellte den Kükenkarton ab und wollte meinen Rucksack öffnen, aber der Uniformierte winkte mich ungeduldig weiter, als er meinen deutschen Pass sah.

Unschlüssig sah ich die beiden Frauen an.

Sie lachten. «Hau ab, so schwer sind die Hühner nicht.»

 

Schehyni, das ukrainische Dorf auf der anderen Seite, unterschied sich auf den ersten Blick kaum vom polnischen Medyka. Auf den zweiten Blick fiel mir auf, dass die Kirchenkreuze hier einen orthodoxen Doppelquerbalken hatten, der den katholischen Kreuzen in Medyka fehlte. Auf den dritten Blick...

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