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Seichtgebiete

Warum wir hemmungslos verblöden

AutorMichael Jürgs
VerlagC. Bertelsmann
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641028336
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
»Ein kluger politischer Kopf.« Frankfurter Rundschau
Alle wissen es, keiner schreit auf: Ob falsche Betroffenheit in Talkshows, prollige Vorbilder wie Mario Barth oder Dieter Bohlen, von Supernannys statt von ihren Eltern erzogene Kinder oder die selbst vom Feuilleton zu Ikonen der Subkultur stilisierten Bestsellerautoren à la Roche, Bushido und Co. - überall breiten sich Seichtgebiete und Verblödung aus. Jürgs prangert nicht deutsch bierernst, sondern indem er sie lächerlich macht, jene an, die zynisch schamlos mit der Verdummung Geld machen. Er schont auch nicht sich und seine Branche, und erst recht nicht die Oberlehrer der Nation, die nur angeekelt ihre Nasen rümpfen. Mit seiner provokanten Streitschrift warnt Jürgs vor den Folgen einer verödenden demokratischen Kultur.

Michael Jürgs war u.a. Chefredakteur von Stern und Tempo und hat sich als Biograph einen Namen gemacht. Seine Lebensbeschreibungen Der Fall Romy Schneider, Der Fall Axel Springer, Gern hab' ich die Frau'n geküsst (über Richard Tauber), Bürger Grass und Eine berührbare Frau (über Eva Hesse) wurden ebenso Bestseller wie Die Treuhänder, Der kleine Frieden im Großen Krieg (2003) und Der Tag danach. Zusammen mit der Journalistin und TV-Moderatorin Angela Elis legte er das Pamphlet Typisch Ossi, typisch Wessi vor. Viel Anerkennung bekam er für seine Bilanz der deutschen Einheit Wie geht's, Deutschland? (2008) und für seine Geschichte des Bundeskriminalamts BKA. Die Jäger des Bösen (2011) und Codename Hélène: Churchills Geheimagentin Nancy Wake und ihr Kampf gegen die Gestapo in Frankreich (2012); seine Streitschrift Seichtgebiete (2009) verkaufte sich über 100.000mal. Er ist Co-Autor vieler Fernsehdokumentationen, die nach seinen Büchern gedreht wurden.

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Leseprobe
KAPITEL II
»Ich bin ein Depp, lasst mich hier rein!«
 
 
 
 
Gegen die herrschenden Spießer und Spaßmacher, Blödmacher und Banausen in die entscheidende Schlacht zu ziehen – ach, wäre das schön! Ach, wäre das unterhaltsam! Ach, wäre das spannend! Motiviert durch beispiellos freche Ideen, bewaffnet mit grenzenloser Fantasie, ausgebildet von abtrünnig gewordenen Blödmachern ließen sich die Blöden besiegen.
Die verdeckt operierenden Spezialkommandos von »Enduring Wisdom« müssten sich der Mittel des Gegners bedienen, ohne Bedenken ihre Taktik kopieren und dürften – insbesondere aus moralischen Gründen – keinen der schmutzigen Tricks scheuen, mit denen die von der anderen Straßenseite arbeiten. Bis zu einer Entscheidung, die jedoch erst am Ende des Buches fallen wird, müssen die feindlichen Heere mit verbalen Gemeinheiten attackiert und, sooft es nur machbar ist, mit überraschenden Ein- und Ausfällen konfrontiert werden.
Am einfachsten wäre es, ihnen eines ihrer populären Formate zu klauen und listig mit anderen Inhalten zu füllen.
Geht das?
Und ob das geht.
So zum Beispiel:
Deutsche ab sechs Jahren werden nach diesem notwendigerweise in strikter Geheimhaltung entwickelten Plan X aufgerufen, während eines live übertragenen Fernsehevents aus der Schar der ihnen bekannten Blödmacherinnen und Blödmacher eine Königin oder einen König zu wählen. Mittels Teledialog (TED) soll das gesamte Volk telefonisch einen Superstar unter all denen küren, die ansonsten in ihren als Show getarnten Seichtgebietsvergnügen selbst nach einem Superstar suchen lassen. In Deutschland lebende Ausländer dürfen, falls sie ein Handy bedienen können – aber das können die meisten, bevor sie zu lesen gelernt haben -, bei der Wahl mitmachen. Deutschkenntnisse sind nicht erforderlich. Die werden bei gebürtigen Deutschen ja auch nie hinterfragt. Jede abgegebene Stimme zählt. Damit dabei möglichst viele aus der Zielgruppe derer mitspielen, die sich dumm und dämlich lachen, wenn sie mal wieder nicht merken, dass sie für dumm verkauft werden, müsste als Sponsor ihr Zentralorgan gewonnen werden, die »Bild«-Zeitung.
Schon wären zwei Essentials aus dem skizzierten Strategiepapier verwirklicht – ohne moralische Bedenken ein Erfolgsformat kopieren und ohne Scham den stärksten Verbündeten wählen. Geistiger Diebstahl als Vorwurf kann mit der Bitte gekontert werden, in dem Zusammenhang doch gefälligst mal das Wort »geistig« zu definieren.
Das Spiel wäre ein Spiel ohne Grenzen, weil der Fantasie keine Grenzen gesetzt sind. Die unterscheidet sich von der Realität unter anderem dadurch, dass mit ihr Seit’ an Seit’ auf der Welt alles möglich ist. Es soll zwischen Himmel und Erde bekanntlich mehr geben, als Schulweisheit sich träumen lässt. In diesem Zwischenreich siedeln die Erfinder des Unvorstellbaren ihre ultimative Show an, verankern sie aber aus taktischen Gründen Richtung Erde in den unterirdischen Wünschen des Publikums und lassen sich trotzdem nach oben gleichzeitig alle Möglichkeiten offen.
Übertragen wird das nicht, wie es im realen Fernsehalltag Sitte ist, als übliche Freakshow von RTL oder Sat.1 oder ProSieben, den für Ausscheidungen zuständigen Kanälen der Unterschicht. Sondern als Themenabend, der ohne Beispiel ist in der Geschichte des seriösen Fernsehens, von Arte oder als Kulturzeit in 3sat, die in diesem einmaligen Fall in gelassener Selbstironie der Macher als »Kultzeit Extra« angekündigt würde.
Wer den gewaltigen Unterschied zwischen Kultur und Kult kennt, freut sich auf seinem gehobenen Niveau, wer ihn nicht kennt, versäumt auf seiner Ebene auch nichts. Denn der Begriff des Kults, der eigentlich die unsterblichen Mythen der Kultur umfasst und zutrifft auf Legenden wie Jim Morrison, James Dean, Jimi Hendrix, Jerome D. Salinger, Marilyn Monroe, Greta Garbo etc., ist über Jahre systematisch entseelt worden durch sprachlose Dummschwätzer, weltweit werktätige Leichenschänder, die sich inzwischen in allen Medien herumtreiben. Hier geht es zwar vorrangig um deutschsprachige Deppen, um heimisches Leergut, doch im globalen Netzwerk lässt sich jede Dummheit innerhalb weniger Sekunden online in alle leeren Köpfe pflanzen.
Prominente Nullnummern werden von Gossenguys und -girls in bunten Blättern oder TV-Magazinen schon in dem Moment als »kultig« bezeichnet, wenn sie bei ihren Auftritten von pubertierenden Kreischkindern bedrängt oder auf Jahrmärkten der Eitelkeiten umschwärmt werden, obwohl sie eigentlich nichts weiter können, als zu massieren, zu frisieren, zu frittieren. Es gab Zeiten, da hätte man ihnen nicht nur geraten, sondern befohlen, uns mit ihren Dummheiten zu verschonen und sich auf- oder untereinander zu vergnügen – aber das ist lange her.
Solche Pauschalurteile sind verlockend wie Pauschalreisen. Der Verzicht auf Originalität macht beide billiger. Pauschal urteilend schreibt es sich deshalb leichter. Doch ist es wirklich besonders originell, die Frage zu stellen, wie viel Dummheit eine Gesellschaft verträgt, ohne dass die demokratische Kultur in Gefahr gerät? Wer sie so pauschal stellt, gilt fast als Philosoph, zumindest als Leser von Peter Hahne, und gehört zu den nicht ganz so Blöden. Die in diesem Zusammenhang rein zufällig passende Metapher des unvergessenen Heinz Erhardt, wonach viele deshalb einen Kopf besitzen, damit sie ihr Stroh nicht mit beiden Händen tragen müssen, beweist nur, dass Verblödung kein neues Phänomen ist. Früher waren nicht schon automatisch alle besser, weil alles besser war oder die Klugen klüger oder die Blöden nicht gar so blöd.
Man könnte tatsächlich recht haben mit der Vermutung, dass es damals in der Gesellschaft kaum weniger Blöde gab als heute. Die fielen nicht weiter auf. Jedes Dorf hatte seine eigenen Trottel. Die vom Nachbardorf lernte man nie kennen.
Eine Massenbewegung, vernetzt durch eigens für sie produzierte Zeitungen, Zeitschriften und TV-Programme, sind die als Individuen unauffälligen und ungefährlichen Seichtmatrosen erst seit dem Start des privaten Fernsehens, der Stunde null im Jahre 1984. Auf Kiel gelegt wurden die Kommerzdampfer von Politikern, die sich von einer ihnen dankbaren Masse massenhaften Zuspruch für ihre Partei versprachen, die zufällig CDU hieß. Gesteuert wurden die fröhlichen Wellenbrecher von ausgebufften Blödmachern, die sich als Pioniere fühlten.
Wichtiger als irgendwelche Inhalte war ihnen von Anfang an, für die angebaggerte Masse Blödköpfchen zu zeugen und die populär zu machen. Profis wie sie wussten, dass jedes Rudel einen Leitwolf braucht, jede Gruppe einen Führer und viele Gruppen entsprechend viele Helden. Bis dahin hatten die Blöden keinen Überblick darüber, wie viele sie waren. Sie ließen höchstens im engsten Freundes- und Familienkreis die ihnen vertraute dumme Sau raus. Erst an dem Tag, an dem sie eine für die Werbung relevante Zielgruppe wurden, begann ihr Aufstieg. Seichtes gibt es inzwischen für jedes Alter. Die Jungen treffen sich bei Castings oder bei Übertragungen der für sie produzierten Freakshows, ihre Eltern und Großeltern, die Alten, bei Festen der Volksmusik.
Zurück zum Geheimplan.
Die Lieblinge der Unterschicht ausgerechnet auf den Sendern der geistigen Oberschicht, Arte und 3sat, gegeneinander kämpfen zu lassen wäre schon deshalb unter strategischen Gesichtspunkten betrachtet ein genialer Einfall, weil die Grundbedingungen für spannende Unterhaltung erfüllt sind – durch Verfremdung mit genau den Inhalten zu überraschen, die allen wohlvertraut scheinen.
In dem Fall sind Arte und 3sat das fremde Terrain, das die aus RTL und Sat.1 und ProSieben und VOX und Kabel eins bekannten Helden der Unterschicht betreten müssten. Millionen von Deutschen würden, um ihre Lieblinge live zu erleben, zwei Sender einschalten, von deren Existenz sie bisher nichts ahnten; es würde deswegen überraschend Kulturgut auf Leergut prallen. Und alle Stammkunden von Arte und 3 sat, die sich als was Besseres dünken, die nie gesehen haben, wie spielend es in sich geschlossenen Anstalten gelingt, mit talentlosen Trotteln und tapsenden Vollidioten, mit kultigen Knallchargen und furchtlosen Zotenlümmeln traumhafte Einschaltquoten zu erzielen, würden durch diese Show auf ihren Heimatsendern erschaudernd die »Wonnen des Trivialen« (Medienforscher Norbert Bolz) erfahren. Über die haben sie bislang, eigenen Angaben zufolge bei jeder Zeile von Ekeln geschüttelt, allenfalls in den Feuilletons der Gebildeten gelesen.
Der Begriff »Massenkultur« bekäme in einer solchen Show eine ganz andere Bedeutung, denn Anspruch und Amüsement sind bekanntlich selten miteinander kompatibel. Es ist also ein Experiment.Wird es gelingen, die simplen Vergnügungen der Massen dadurch kulturell wertvoller zu gestalten, dass ihre Stars auf einem ganz anderen Feld auflaufen? Werden die Blöden trotz ihrer Blödheit die böse Absicht merken? Die fantasiereiche...
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