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E-Book

Seidentochter

Ein Adoptivkind aus Korea findet seine leiblichen Eltern

AutorAnneli Schinkel
VerlagVerlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl236 Seiten
ISBN9783732537563
Altersgruppe16 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR

Anneli Schinkel wagt sich mit einundzwanzig Jahren in ihr Geburtsland Korea, wo sie als Baby vor den Stufen eines Waisenhauses ausgesetzt worden war. Mit dem Wenigen, das sie über ihre Herkunft weiß - nicht viel mehr als ein Name, den ihr koreanische Behörden gaben, und ein ungefähres Geburtsdatum -, begibt sie sich auf die Suche nach dem Ursprung ihres Lebens. Es ist die Suche nach der leiblichen Mutter und das Herantasten an die Kultur, in die sie einst hineingeboren wurde.

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Leseprobe

Auf dem Weg nach Korea


Mein Bruder Jannik und ich sind auf dem Weg nach Südkorea, einer Halbinsel vor China, die etwas kleiner ist als Baden-Württemberg und Bayern zusammen. Es soll ein sehr bergiges Land sein, in dessen Hauptstadt Seoul etwa zehn Millionen Menschen leben, also ein knappes Viertel aller Südkoreaner. Es ist das Land, in dem ich im Juli 1982 geboren wurde und das ich im November 1982 als Adoptivkind verlassen habe.

Damals war die Reisezeit doppelt so lange wie heute; nach einem 24-Stunden-Flug trug mich eine Stewardess aus der Maschine und übergab mich in der Empfangshalle des Frankfurter Flughafens meinen Adoptiveltern. Janniks Ankunft drei Jahre später verlief ähnlich. Und heute fliegen wir als junge Erwachsene gemeinsam von dem gleichen Flughafen aus in die entgegengesetzte Richtung – zurück in unser Geburtsland.

Während wir auf das Boarding warten, kreisen meine Gedanken immer wieder um meine Ankunft hier in Deutschland vor ungefähr 20 Jahren.

Früher konnte ich nicht oft genug hören, wie mich meine Eltern erwartet und empfangen haben. Und als ich einmal eine schwangere Frau sah, fragte ich Mama: »Bin ich auch aus deinem Bauch gekommen?« Mama verneinte es, und gemeinsam schauten wir uns das Album mit den Bildern an, die kurz nach meiner Landung in Deutschland entstanden sind. Ich wollte alles immer ganz genau wissen, auch warum sie keine eigenen Kinder hatten. Und meine Eltern gaben mir auf alle Fragen eine Antwort. Von Beginn an haben sie mir erzählt, dass sie mich adoptiert haben – mein asiatisches Aussehen ließ ihnen aber auch keine andere Wahl. Sie nahmen Bilder- und Kinderbücher zu Hilfe und haben wirklich mit einer Engelsgeduld auch meine neugierigsten Fragen beantwortet.

Sie müssen vor meiner Ankunft sehr aufgeregt gewesen sein. »Dieses Warten in der Empfangshalle vor dem Ausgang ist mir so vorgekommen wie das Warten auf eine Niederkunft im Kreißsaal«, erzählt Papa heute noch gern.

»Das hat eine Ewigkeit gedauert«, fügt Mama dann jedes Mal hinzu.

Im Warten hatten meine Eltern Übung. Statt zehn Monate wie bei einem leiblichen Kind hatten sie von der ersten Auskunft über eine Adoption bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich rechtmäßig, also auch »auf dem Papier«, ihr Kind geworden war, zwei Jahre Geduld aufbringen müssen, eine lange Zeit, in der es sich manche Paare vielleicht auch noch einmal anders überlegen.

Erst im Sommer 1982 erfuhren meine Eltern, dass terre des hommes ihnen ein Adoptivkind vermitteln würde. Damals mussten sie festlegen, aus welchem Land ihr Kind stammen sollte. Sie entschieden sich für ein Waisenkind aus Südkorea, weil die Chance, einen Säugling oder ein Kleinkind zu bekommen, größer war als bei Adoptionen aus den meisten anderen Ländern.

Auch zum Geschlecht ihres Adoptivkindes durften sie einen Wunsch äußern. Meiner Mutter war es nicht wichtig, ob ein Junge oder ein Mädchen zu ihnen kam, mein Vater jedoch wollte als erstes Kind am liebsten eine Tochter.

Als meine Eltern schließlich die Zusage für ein Mädchen aus Südkorea erhielten, suchten sie sogleich fieberhaft nach einem passenden Namen. Sie wollten ihn selbst mit Liebe auswählen, und nicht das fortführen, was vielleicht irgendein koreanischer Sachbearbeiter begonnen hatte. Sie entschieden sich schließlich für Anneli, so hieß eine Spielkameradin von Papa, als er noch klein war, und dieser Name hatte ihm immer gefallen. Anneli konnte man außerdem in Anne-Li abwandeln, für den Fall, dass ich mir später einmal einen asiatisch klingenden Namen wünschen würde.

Mama erzählte, dass sie total aufgeregt gewesen sei, als sie endlich den Brief mit dem »Kindervorschlag« in Händen hielt, in dem sie zum ersten Mal von mir erfuhr und auch zwei Fotos von mir sah. Noch heute gefallen mir diese ersten beiden Bilder, die es von mir gibt, nicht so richtig. Im Spaß habe ich sogar einmal behauptet: »Bei den Bildern hätte ich mich nicht genommen.«

Aber Mama sagt immer, sie habe sich sofort in mich verliebt und von diesem Tag an hätten sie es kaum erwarten können, mich am Flughafen in Empfang zu nehmen. Adoptivmütter verlieben sich anscheinend genauso blind in ihre Kinder wie andere Mütter auch.

Die Geschichte meiner Ankunft habe ich durch die wiederholten Erzählungen meiner Eltern so verinnerlicht, dass ich die Bilder wie einen Film vor meinem inneren Auge abspulen kann. Während sich die Wartehalle immer mehr füllt, sehe ich in Gedanken alles genau vor mir: Am Donnerstag, den 25. November 1982 um 9.20 Uhr, harren meine Eltern nervös in der Empfangshalle des Frankfurter Flughafens aus. Mama steht gewappnet mit einer Tasche da, in der sind Windeln, Babycreme, eine Kinderdecke mit einem weißen Pferdchen und Herzen darauf und einem kleinen Plüschbär, den ich später einmal »Eumelchen« taufen würde. Sie und Papa sind nervös, denn sie wissen nicht sicher, ob ich tatsächlich in dem Flieger bin.

Das Gefühl, als sie mich endlich in ihren Armen halten dürfen, ist überwältigend. Mamas Augen glänzen, wenn sie davon erzählt.

»Du hattest einen schicken türkisfarbenen kleinen Anzug aus Frotteestoff an, der eigentlich viel zu warm war, und um das Handgelenk trugst du ein kleines Namensschild, wie es Neugeborene im Krankenhaus auch tragen«, höre ich ihre Stimme. »Und du hast aus Leibeskräften geschrien. Wir konnten dich zuerst gar nicht beruhigen.«

Ich war bestimmt völlig übermüdet, wollte eine frische Windel, etwas zu essen und schlafen …

»Unser Flug, Anneli.« Jannik stupst mich an und sortiert sein Gepäck. Das Boarding beginnt, und die Hektik der anderen Passagiere steckt uns an. Eine halbe Stunde später nehmen wir unsere Plätze in der Maschine ein.

In unserem Flieger sitzen beinahe ausschließlich Koreaner. Als mich die blonde Stewardess der Lufthansa dann wenig später auf Englisch anspricht, antworte ich spontan auf Deutsch. Irritiert lächelt mich die junge Frau an. Ich lächle zurück. Das wäre geklärt, denke ich. Heute macht es mir nicht mehr ganz so viel aus, nicht als Deutsche erkannt zu werden. Das war aber auch schon einmal anders. Als ich 13, 14 war, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als blond zu sein und richtig deutsch auszusehen. Einfach nicht durch ein anderes Äußeres auffallen! Ohne Angst vor fremdenfeindlichen Übergriffen leben. Fuhr ich allein Straßenbahn, stieg ich immer in den Waggon gleich hinter dem Fahrer, so hatten es mir meine Eltern beigebracht. Auch sie machten sich Sorgen, dass mir oder Jannik einmal etwas passieren könnte. Ihre Sorgen hatten sich besonders auf mich übertragen, sodass ich zum Beispiel Ostdeutschland bis vor kurzem noch mied. Vor wenigen Monaten war ich in Berlin. Da habe ich jedes Mal mein Herz ganz deutlich klopfen hören, wenn jemand auch nur aus großer Entfernung auf mich zukam, der dem Aussehen nach der rechtsradikalen Szene angehören konnte.

Hier im Flugzeug fallen Jannik und ich gar nicht auf, ein Vorgeschmack auf Seoul. Zwei schlitzäugige Menschen auf dem Weg nach Asien sind nichts Besonderes.

Ich lehne meinen Kopf an die rote Kinderdecke mit dem weißen Pferdchen und den Herzen, die mich auf jede weite Reise begleitet. Sie war schon in Amerika und in der Karibik – und jetzt ist sie mit mir unterwegs nach Südkorea. Was uns dort wohl erwarten wird? Wie fremd wird uns unser Geburtsland sein? Ich schließe die Augen und hänge meinen Gedanken nach …

Ich muss eingenickt sein, denn als ich die Augen wieder öffne, um auf die Uhr zu schauen, sind mehr als zwei Stunden vergangen. Ich blicke zu Jannik hinüber. Versunken betrachtet er die Wolken unter uns. Ob er sich gerade auch fragt, was wir in Südkorea alles erleben werden? Jetzt grinst er mich an, und ich bin froh, dass wir die Reise zusammen unternehmen.

Jannik hat gerade Abitur gemacht, und ich habe angefangen zu studieren. Irgendwie hatte ich mir das Studium aber spannender vorgestellt, deshalb habe ich mich im Januar um einen Ausbildungsplatz beworben, weiterstudieren kann ich später dann immer noch. Bernhard, mein Freund, versuchte mich immer damit aufzumuntern, dass es nach dem Grundstudium bestimmt interessanter würde, aber ich habe mich fürs Erste gegen die Uni entschieden. Im Oktober werde ich eine Ausbildung zur Organisationsassistentin bei einer großen Stuttgarter Firma beginnen. Dem intensiven Auswahlverfahren nach zu urteilen, werden wir Azubis uns dort nicht langweilen, und ich freue mich schon, mein Organisationstalent spielen zu lassen und zu tun, was ich am besten kann: kommunizieren …

Während ich an zu Hause und an Bernhard denke, spüre ich ein klein wenig Heimweh aufkommen. Bis vor einem Jahr hatten wir mehr oder weniger eine Wochenendbeziehung, dann sind wir gemeinsam nach Stuttgart gezogen. Ich genieße unsere Nähe, kann es mir gar nicht mehr anders vorstellen. Zusammenzuleben ist so viel schöner, wir brauchen uns nicht erst zu verabreden, müssen keine Taschen mehr packen, um bei dem anderen zu übernachten, können jeden Tag miteinander frühstücken … »Ich wünsch dir viel Glück«, hat er zum Abschied gesagt. Bei diesem Gedanken muss ich schlucken.

Jannik und ich werden nach dem Seminar noch einige Tage mit unseren Eltern in Südkorea verbringen. Sie haben sich frei genommen, und die Flüge sind gebucht. Ich werde aber nicht nur mit meiner Familie das Land erkunden und auf den dürftigen Spuren...

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