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»Sein und Zeit« neu verhandelt

Untersuchungen zu Heideggers Hauptwerk

VerlagFelix Meiner Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl467 Seiten
ISBN9783787336876
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Die sog. »Schwarzen Hefte« haben umfassender und deutlicher als je zuvor die Verbindungen zwischen Philosophie und Politik bei Heidegger sichtbar werden lassen und damit eine neue Debatte über den Rang dieses Denkens entfacht. Denn die dort enthaltenen Texte demonstrieren, dass Philosophie, Metapolitik und Politik bei Heidegger eine Einheit bilden, zu der die Befürwortung des Nationalsozialismus und der Antisemitismus gehören. Ins Zentrum der kritischen Revision rückt das erste Hauptwerk von 1927, »Sein und Zeit«, das nahezu unangefochten als epochaler Beitrag zur Philosophie des 20. Jahrhunderts gilt. Die »Schwarzen Hefte« fordern eine »Destruktion« dieses Werks auch insofern heraus, als die dort präsentierten Selbstinterpretationen das philosophische Profil dieses Denkens schärfen und neue Gesichtspunkte für die Diskussion seiner Substanz im philosophischen und ideologischen Kontext des 20. Jahrhunderts eröffnen. 90 Jahre nach seinem Erscheinen stellt sich der philosophischen Forschung die kritische Auseinandersetzung mit »Sein und Zeit« als unabweisbare Aufgabe. Im Vordergrund stehen hierbei zwei Fragen: Wie ist das Unternehmen einer in der »Fundamentalontologie« des Daseins begründeten temporalen Ontologie der systematischen Intention und Durchführung fachphilosophisch zu beurteilen? Beinhalten die ausgearbeiteten Teile bereits gedankliche Präfigurationen oder Grundlagen für Heideggers Antisemitismus und Nationalsozialismus? Der Band behandelt diese Problemstellungen aus unterschiedlichen philosophischen, aber auch disziplinären Perspektiven; er enthält Beiträge von Charles Bambach, William Blattner, Christoph Demmerling, Emmanuel Faye, Anton M. Fischer, Johannes Fritsche, Hassan Givsan, Marion Heinz, Christoph Jamme, Sidonie Kellerer, Rainer Marten, Daniel Meyer, Livia Profeti, Tom Rockmore und Dieter Thomä.

Marion Heinz ist emeritierte Professorin für Theoretische Philosophie an der Universität Siegen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der europäischen Aufklärung (vor allem Herder und Kant), in der Phänomenologie, insbesondere Heidegger, und in der philosophischen Geschlechterforschung. Bei Meiner erschien: Sensualistischer Idealismus. Untersuchungen zur Erkenntnistheorie des jungen Herder (1763-1778).

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Leseprobe

Christoph Demmerling

Sein und Zeit: Zur Verteidigung eines Buches gegen seine Kritiker und seinen Autor


»Heidegger wurde geboren, er war ein Nazi und er starb. In der Zwischenzeit veröffentlichte er Sein und Zeit, die berühmteste und vielleicht die wichtigste philosophische Arbeit des 20. Jahrhunderts.« Mit diesen Worten soll der 2010 verstorbene Philosoph John Haugeland seine Lehrveranstaltungen über Heidegger begonnen haben. Die Erträge von Haugelands Auseinandersetzung mit Heidegger sind inzwischen in dem unvollendeten und überaus inspirierenden Buch Dasein Disclosed veröffentlicht worden.1 Haugeland, der in der philosophischen Szene eher bekannt ist für seine Arbeiten zur Philosophie des Geistes und der Kognitionswissenschaften – zu nennen sind insbesondere die Bücher Artificial Intelligence. The very Idea (1985) und Having Thought. Essays in the Metaphysics of Mind (1998) – war zeit seines Lebens ein begeisterter Leser Heideggers und hat bereits in den 1980er Jahren mit Aufsätzen wie »Heidegger on Being a Person« und »Dasein’s Disclosedness« viel dafür getan, die philosophische Substanz des Hauptwerks von Heidegger auf eine Weise zu präsentieren, die deutlich macht, dass niemand, der ernsthaft an Beiträgen und Fragestellungen zu den verschiedenen Debatten der analytisch aufgeklärten Gegenwartsphilosophie interessiert ist, ganz gleich, ob auf den Gebieten der Philosophie des Geistes, der Sprache oder der Wissenschaften, um eine Auseinandersetzung mit Heidegger herumkommt.2 Ich möchte mich im Folgenden nicht mit Haugelands Heidegger-Deutung befassen. Vielmehr verweise ich auf die Bemerkung von Haugeland, weil sie deutlich macht, auf wie wohltuende Weise unaufgeregt sich mit Heideggers philosophischem Erbe, zumindest mit Teilen desselben, und seiner politischen Verstrickung umgehen lässt.

Nun kannte Haugeland die Schwarzen Hefte nicht. Was die im engeren Sinne politischen Überzeugungen Heideggers betrifft, so bietet das in den Heften enthaltene Material allerdings auch keine überraschenden Neuigkeiten. Dies gilt selbst für den Antisemitismus Heideggers, der einer interessierten Öffentlichkeit spätestens seit 1989 hätte bekannt sein können, als der Marburger Historiker Ulrich Sieg zum ersten Mal einen Brief Heideggers an den Ministerialrat Victor Schwoerer zitierte, der auf den 2. Oktober 1929 datiert ist und in dem von einer »wachsenden Verjudung« der Universitäten die Rede ist.

Es liegt mir fern zu bestreiten, dass die Veröffentlichung der Schwarzen Hefte in manchen Belangen eine neue Sicht auf Heideggers Denken und vor allem auch auf seine Person eröffnet. Dies ist ohne Frage der Fall. Aber die Schwarzen Hefte erfordern keine Neubewertung von Heideggers Philosophie im Ganzen, wobei Teilaspekte seines Denkens – und dies gilt insbesondere für Heideggers Konstruktion einer Seinsgeschichte – sicher in einem anderen Licht betrachtet werden können und auch müssen.3 Die philosophische Substanz von Sein und Zeit wird aus meiner Sicht aber nicht tangiert. Wer sich als Philosoph an Heidegger wendet, der tut gut daran, den Gehalt des Buches im Kontext systematischer philosophischer Fragen zu verorten. Eine Rekonstruktion von Heideggers Gedanken in ihrer immanenten Verfassung, eine Einbettung in die Entwicklungsgeschichte seines Denkens, in ihren historischen Kontext und die Berücksichtigung lebensgeschichtlicher Hintergründe bei deren Beurteilung – dies alles sind Unternehmungen, die ihre Berechtigung haben und die durchaus von Wichtigkeit sind, aber sie befriedigen in erster Linie die Belange des Ideengeschichtlers und des Biographen, nicht unmittelbar das Interesse des Philosophen, sofern Letzterer vorrangig an der Frage interessiert ist, wie triftig oder brauchbar philosophische Ideen ganz unabhängig davon sind, wer sie wann und unter welchen Umständen gedacht hat.

In Heideggers Philosophie finden sich atemberaubende Gedanken, inspirierende Ideen, phänomenologisch aufschlussreiche Analysen, stupende Lektüren klassischer Texte; in ihr finden sich aber auch nebulöse Zumutungen, kaum erträglicher Denkerkitsch und hermeneutische Dummheiten. Bedeutende Fundstücke und Gedankenmüll liegen häufig dicht beieinander, was die Beurteilung der Sachlage bereits unter ausschließlich philosophischen Gesichtspunkten nicht einfach macht. Zieht man überdies noch den Gestus und den Stil von Heideggers Philosophieren in Betracht, ganz gleich, ob man ihn imperativisch, kryptisch oder anti-diskursiv nennen möchte, wird verständlich, warum sich viele Anhänger einer aufgeklärten Philosophie nicht viel von einer Auseinandersetzung mit Heidegger versprechen.4 Dennoch gehört Sein und Zeit zu den großen Büchern der abendländischen Tradition. Meine Überlegungen sind der Frage gewidmet, warum das so ist.

In Sein und Zeit stecken Ideen, die man sowohl gegen Kritiker als auch gegen die Selbstkritik des Verfassers verteidigen sollte. Deshalb möchte ich zuerst darlegen, worin die großen philosophischen Leistungen von Sein und Zeit zu sehen sind (I). Der zweite Teil des Beitrags beschäftigt sich mit der Frage, welche Auffassungen sich bezüglich des Verhältnisses der philosophischen Gehalte von Heideggers Denken und seinen politischen Überzeugungen und Aktivitäten vertreten lassen. Den Wert von Sein und Zeit bemesse ich in erster Linie auf Grundlage der dort entwickelten Ideen und ihrer Wirkungsgeschichte, nicht am Selbstverständnis des Autors oder der Stellung des Buches im Gesamtwerk (II). Der dritte und letzte Teil dieses Aufsatzes wirft einen knappen Blick auf die Kommentare, die Heidegger in seinen späteren Arbeiten, vor allem in den Schwarzen Heften, zu Sein und Zeit formuliert hat. Sie werfen die Frage auf, ob diese Kommentare einen Anlass zur Neubeurteilung seiner frühen Arbeit geben (III).

I. Sein und Zeit: Was philosophisch bleibt


Eine Bestandsaufnahme des philosophischen Extrakts von Sein und Zeit kann sich im Wesentlichen auf den ersten Abschnitt des Buches beschränken. Die §§ 45 ff. enthalten zwar im Einzelnen viele interessante Analysen zu Tod, Gewissen bzw. Entschlossenheit sowie Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit, aber ab dem § 63 kommt es immer wieder zu recht langwierigen methodischen Überlegungen, zu ausgedehnten Rück- und Vorblicken. Die – wie Heidegger das nennt – »ursprünglichere« Wiederholung der Analysen aus dem ersten Abschnitt mit Blick auf die Zeitlichkeit, die ab § 66 explizit durchgeführt wird, ist zudem nicht frei von Eigenheiten, gelegentlich ein wenig umständlichen Winkelzügen und auch abwegigen Interpretationen (etwa zu Hegel im § 82). Für die systematische Konstruktion von Sein und Zeit ist der zweite Abschnitt zweifellos von großer Wichtigkeit und es mag sein, dass für viele Leser gerade diese Passagen den besonderen Reiz des Buches ausmachen. Die existenzphilosophische Note der Überlegungen dieses zweiten Teils wird sicher auch dazu beigetragen haben, dass das Buch weit über die akademische Philosophie im engeren Sinne hinaus gewirkt hat. Gleichwohl sind es aus meiner Sicht die Überlegungen des ersten Abschnitts, mit denen maßgebliche Beiträge zu Kernfragen der theoretischen Philosophie, der Metaphysik, der Erkenntnistheorie, der Philosophie des Geistes und der Sprache formuliert wurden, die den philosophischen Rang von Sein und Zeit begründen.

Es handelt sich um die Formulierung der Seins- bzw. Seinssinnfrage (a), die Herausarbeitung eines übergreifenden Primats des Praktischen (b), die pragmatistische Umdeutung des Transzendentalphilosophie-Phänomenologie-Komplexes (c), die Universalisierung des Verstehens und damit die Entwicklung eines neuen (panhermeneutischen) Blicks auf Geist, Intentionalität und Sprache (d) und schließlich um den Nachweis, dass und inwieweit sich unsere Selbst- und Weltverständnisse aus deren Einbettung in historisch und sozial präfigurierte materialdiskursive Praktiken ergeben (e).

(a) Worin liegt eigentlich die Pointe von Heideggers Exposition der Frage nach dem Sinn von Sein, mit welcher er sein Buch einleitet? Das Wort »Sein« hat einen Klang, der nicht-philosophische Ohren möglicherweise abschreckt. Ist das Wort »Sein« nicht eine philosophische Blasenvokabel, bei der man sich entweder nichts oder aber viel zu viel denken kann? Muss man nicht konstatieren, dass Heideggers (allgemeine) Frage nach dem Sein in unzulässiger Weise Existenzbehauptungen, Identitätsaussagen, Prädikation und Klassifizierung, sprachliche Vollzüge, die wir tätigen, wenn wir das Wort »ist« benutzen, über einen Leisten schlägt? Dies ist zweifellos der Fall, aber es spricht nicht notwendigerweise gegen Heideggers Frage, da diese auf einen allgemeineren Sachverhalt zielt, der so einfach ist, dass er häufig übersehen wird. Heidegger macht geltend, dass Sein in allen Kontexten so viel heißt wie bedeutsam für jemanden zu sein.5 Dinge liegen nicht einfach in der Welt herum, sie lassen sich nicht...

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