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Seit wann hat 'geil' nichts mehr mit Sex zu tun?

100 deutsche Wörter und ihre erstaunlichen Karrieren

AutorMatthias Heine
VerlagHoffmann und Campe Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl204 Seiten
ISBN9783455851496
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Wörter werden geboren, sie sterben, sie wandern ein, sie wandern aus, und ihre Bedeutung wandelt sich. Wörter machen Geschichte. Aber wer macht eigentlich die Wörter? Da wäre zum Beispiel der Hiwi, der sich nach kalten Zeiten an der Ostfront heute in deutschen Universitätsstuben wärmen darf. Der Hipster, der die Hautfarbe wechselte. Und der Rocker, der im Deutschen eine unerwartete Karriere als krimineller Motorradfahrer gemacht hat. Matthias Heine fahndet seit Jahren für 'Die Welt' nach den schillerndsten deutschen Begriffen. Die besten Wort-Steckbriefe versammelt dieser Band und gibt außerdem Antwort auf die Fragen: Was ist das schwierigste Wort der deutschen Sprache? Warum haben wir seit Luther auf den Ausdruck Shitstorm gewartet? Ist Plattenbau ein westdeutscher Kampfbegriff? Und warum müssen wir uns für das global erfolgreichste deutsche Wort ewig schämen?

Matthias Heine, 1961 in Kassel geboren, hat in Braunschweig Germanistik und Geschichte studiert. Seit 1992 ist er Journalist in Berlin, hat u.a. für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, taz, BZ, den Cicero, Neon und Theater heute geschrieben und Radiobeiträge für den NDR und SFB/RBB produziert. Seit 2010 ist er Kulturredakteur der Welt. Zuletzt erschienen von ihm bei Hoffmann und Campe Seit wann hat 'geil' nichts mehr mit Sex zu tun? 100 deutsche Wörter und ihre erstaunlichen Karrieren (2016), Letzter Schultag in Kaiser-Wilhelmsland. Wie der Erste Weltkrieg die deutsche Sprache für immer veränderte (2018) und Mit Affenzahn über die Eselsbnrücke. Die Tiere in unserer Sprache (2019).

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Leseprobe

Aktivist


Vom Bagger auf die Barrikade

Überall, wo heute Geschichte gemacht wird, ist er dabei. Er stand am Majdan in Kiew mit rauchgeschwärztem Gesicht und hat hinter seinem selbstgebastelten Schild weitergemacht, als seine Kameraden von Scharfschützen dezimiert wurden. Am Gezi-Park schützte er sich mit feuchten Tüchern vor dem Tränengas. Er ging in Caracas auf die Straße, um gegen Inflation, Korruption und Kriminalität zu demonstrieren. Er wird in Russland für drei Jahre ins Straflager gesteckt, weil er gegen Umweltverschmutzung protestiert hat. Die Rede ist vom Aktivisten, dem Universal Soldier des globalen Protestes.

Das Wort Aktivist hat eine erstaunliche Karriere gemacht. Es ist, als hätten die Nachrichtenhändler sehnsüchtig auf einen Begriff gewartet, den jeder zu verstehen glaubt und der dennoch unklar genug ist, um alle gleichermaßen zu umfassen: Regierungsgegner und Unterstützer des Präsidenten Maduro in Venezuela, rechte Populisten von Pro NRW und linke Tierrechtler in Deutschland, französische Gegner der Homo-Ehe und amerikanische Transsexuelle, die sich endlich ordnungsgemäß bei Facebook registrieren wollen. In der Mediensprache gelten Pussy Riot genauso als Aktivisten wie der Journalist Glenn Greenwald, dem die Welt die Snowden-Enthüllungen verdankt.

Manchmal hat ein Wort von Beginn an mehrere Bedeutungen, doch eine dieser Bedeutungen schiebt sich immer weiter in den Vordergrund, sodass sie irgendwann die einzig akzeptable zu sein scheint. Wenn diese Bedeutung verblasst, weil der gesellschaftliche und politische Rahmen, in dem sie Karriere gemacht hat, wegfällt, wird das Wort wieder frei und eine andere Bedeutung blüht plötzlich. So war es bei Aktivist.

Das Wort war Anfang des 20. Jahrhunderts zunächst für die Vertreter einer philosophischen Richtung erfunden worden, die sich Aktivismus nannte. Bereits 1912 ist es im Philosophen-Lexikon von Rudolf Eisler belegt, es muss da also schon eine Weile existiert haben.

Ins Politische gewendet hat es dann der expressionistische Schriftsteller Kurt Hiller. Auf der Homepage der Hiller-Gesellschaft heißt es: »Kurt Hiller und seine Schriftstellerkollegen Rudolf Kayser und Alfred Wolfenstein ersannen dieses Schlagwort im Herbst 1914, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Hiller selbst definierte den Unterschied dergestalt, dass er den Expressionismus als eine Ausdrucksart empfand, den Aktivismus hingegen als eine Gesinnung, wobei beides in einer Person zusammenfallen konnte. Schockiert durch die Geschehnisse während des Kriegs, schlossen sich viele Schriftsteller der Gesinnung des Weltänderungswillens an. Nach Ende 1918 wurde eine Reihe mehr oder weniger aktivistischer Literaturzeitschriften aus der Taufe gehoben, und es erschienen viele Bücher, denen der Wille zum Aktivismus gemeinsam war.«

Der polemische Giftpilz Karl Kraus macht sich 1920 in seiner Zeitschrift Die Fackel genau über diese Dichter lustig: »Sie verwandeln sich in ›Aktivisten‹ und wenden sich, da in ihnen ja doch keine andere Flamme als die des Ehrgeizes brennt, den Geschäften der Völkerbefreiung zu und behaupten, dadurch dass sie dem alten Pathos nicht gewachsen sind, zu einem neuen gekommen zu sein.«

Auch Klabund begegnet den Künstler-Politikern 1922 in seinem Kunterbuntergang des Abendlandes nur noch mit (mildem) Hohn: »Ein kubistischer Maler namens Täubchen beschloss, nachdem er viele Bilder kubischer Art gemalt, nunmehr als rechter Aktivist auch ›so‹: nämlich kubisch zu leben.«

Zeitungsbelege aus den Zwanzigerjahren beziehen Aktivist aber vor allem auf Vertreter der nach dem Ersten Weltkrieg aufblühenden Nationalismen in Europa. Im Berliner Tageblatt wird im März 1918 Graf Ronikier »Führer der polnischen Aktivisten« genannt. In der gleichen Zeitung ist mehrfach von »flämischen Aktivisten« die Rede.

Lion Feuchtwanger schreibt 1930 rückblickend in seinem Roman Erfolg über den »Ruhrkampf« von 1923: »Gepriesen wurde der Terror, durch den dort deutsche Aktivisten die fremde Besatzung bekämpften. Verherrlicht insbesondere in riesigen Totenfeiern wurde ein Mann, der einen Zug zur Entgleisung gebracht hatte und dafür von den Franzosen erschossen worden war.« Gemeint ist der später von den Nationalsozialisten zum heldenhaften Ahnen hochstilisierte Freikorps-Kämpfer Albert Leo Schlageter.

Ambivalent ist der Gebrauch von Aktivist in der Nazisprache. Einerseits hat das Wort einen positiven Klang: 1936 nennt der Völkische Beobachter die ultra-nationalistischen putschenden Soldaten, die am 26. Februar in Tokio mehrere Minister getötet hatten, »Aktivisten«. Immer wieder werden auch Vertreter der sudetendeutschen Minderheit in der Tschechoslowakei so bezeichnet.

Andererseits wird das Wort während des Russlandfeldzugs geradezu zum Synonym für die politischen Kommissare der Roten Armee, die die »Einsatzgruppen« der SS sofort erschossen. Die Protokolle der Nürnberger Prozesse nach 1945 sind voll von Beispielen für solche Fälle, wo Aktivist ein Todesurteil bedeutete.

Deshalb darf es als besondere Ironie der Geschichte gelten, dass Aktivist in den Entnazifizierungsverfahren der Nachkriegszeit ein juristischer Fachbegriff der Nazi-Verfolger wurde. Damals teilten die Besatzungsbehörden alle, die ihr Verhalten im Dritten Reich vor einer Kammer verantworten mussten, in fünf Gruppen ein. Die zweitschlimmste Kategorie nach den »Hauptschuldigen« umfasste »Belastete«, und sie wurde noch unterteilt in »Aktivisten, Militaristen und Nutznießer«.

Bald darauf bekam Aktivist aber eine völlig neue Bedeutung, die rasch alle anderen für Jahrzehnte marginalisierte: »Seit 1948 wurde das Wort im östlichen Deutschland auch als verliehener Titel gebraucht«, schreibt der Berliner Linguist Wolfgang Pfeifer in seinem Etymologischen Wörterbuch.

Im elektronischen Archiv des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim findet sich dazu ein wunderschöner Beleg aus dem Neuen Deutschland von 1954. Unter der Überschrift »Bagger 90 fördert wieder« wird in hymnischer Prosa der Mann besungen, der den genannten Bagger repariert hat: »Kurt Gottschalch weiß: Die Grube braucht ihn. Nie ließ er sie im Stich. Viele tausend Tonnen Kohle hat er unserem Volk mehr gegeben, weil er geschickt und schnell arbeitet. Darum ist er Verdienter Aktivist geworden. In seiner Freizeit lernte Kurt Gottschalch. Der Meistertitel war sein Lohn. Er ist heute verantwortlich für die Reparatur aller Bagger auf Grube Greifenhain. An diesem 9. und 10. Februar bleibt er länger am Bagger, aber er denkt nicht daran, sich um die Kälte zu scheren oder nach dem Verdienst zu fragen. Er tut es, weil das Land Kohle braucht wie der Mensch seine fünf Liter Blut.«

Vorbild für Baggerführer Gottschalchs Ehrentitel war das russische Wort aktivist für einen Angehörigen eines Aktivs – das, ebenfalls nach sowjetischem Vorbild, geschaffene DDR-Wort für eine Arbeitsgruppe. Birgit Wolf definiert es in ihrem Wörterbuch Sprache in der DDR so: »Eine kleine Gruppe von Personen, die freiwillig und ehrenamtlich innerhalb von Parteien und Massenorganisationen, in der Wirtschaft und im Kultur- und Bildungsbereich an der Lösung bestimmter Aufgaben mitwirkte.«

Aktivist fungierte auch häufig als Name von volkseigenen Betrieben und Sportvereinen. Die Ehrenurkunde für Verdiente Aktivisten wurde 1950 eingeführt, allerdings in der Spätphase der DDR so inflationär verliehen, dass die goldgeprägte Mappe, in der man sie überreicht bekam, heute auf jedem ostdeutschen Flohmarkt verramscht wird.

Mit dem Ende des Kommunismus wurde Aktivist wieder frei für den Gebrauch im alten Sinne, den heute auch der Duden als erste Bedeutung nennt: »besonders politisch aktiver Mensch«. In den Statistiken des Instituts für Deutsche Sprache kann man nachvollziehen, wie die Frequenz des Wortes in den Medien zunimmt – mit einem ersten Höhepunkt in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre.

Die drei Belege aus dem Jahre 1990 beziehen sich noch alle auf DDR-Verhältnisse, in den 127 Belegen des Jahres 1999 kämpfen Aktivisten gegen den Walfang, gegen die Partei in China, für die kurdische PKK, für Amnesty International, für die Unabhängigkeit Schottlands und für die Mainzer Aidshilfe – aber auch für die britischen Tories und die verbotene österreichische Nazipartei NDP.

In den Jahren 2010 und 2011 explodierte der Gebrauch von Aktivist dann geradezu. Allein für diese beiden Jahre sind 3027 Belege verzeichnet. Das sind fast zwei Drittel der 4820 Belege seit 1954.

Zum Teil hat das damit zu tun, dass in dem genannten Korpus jetzt auch Wikipedia-Artikel ausgewertet werden, in denen jemand als Aktivist bezeichnet wird oder in denen steht, dass Sportler in DDR-Mannschaften mit Namen wie Aktivist Tröbnitz (der Serienmeister im Badminton) aktiv waren. Doch natürlich hat der Anstieg in den beiden genannten Jahren vor allem mit dem »Arabischen Frühling« zu tun.

Früher hätte man die Kämpfer in Ägypten, Libyen oder später in der Ukraine...

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