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E-Book

Selbstverletzendes Verhalten bei stressassoziierten Erkrankungen

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2008
Seitenanzahl204 Seiten
ISBN9783170265899
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Selbstverletzungen, z. B. Schneiden, Verbrennen oder Kopf-an-die-Wand-Schlagen, stellen eine wichtige Form von Verhaltensauffälligkeiten dar. Solches Verhalten findet sich häufig bei psychischen Erkrankungen, die mit (traumatischem) Stress assoziiert sind, neben der Borderline-Persönlichkeitsstörung z. B. auch bei Patienten mit Posttraumatischer Belastungsstörung oder Depression. Das Buch spannt einen Bogen von den neurobiologischen und psychologischen Grundlagen bis zur Behandlung von selbstverletzendem Verhalten.

PD Dr. Christian Schmahl ist Leitender Oberarzt der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim. Dr. Christian Stiglmayr ist niedergelassener Psychotherapeut und Leiter der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftliche Psychotherapie Berlin.

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Leseprobe

4 Biologie selbstverletzenden Verhaltens beim Menschen


Christian Schmahl

Einleitung


Selbstverletzendes Verhalten (SVV) lässt sich psychologisch, z. B. hinsichtlich der zugrundeliegenden Motive, aber auch von der biologischen Seite untersuchen. Dass der biologische Aspekt eine wichtige Rolle spielt, lässt schon die enge Assoziation mit Impulsivität, affektiver Dysregulation und gestörter Schmerzverarbeitung vermuten. In diesem Kapitel soll die biologische Seite des SVV dargestellt werden; hierbei wird – in etwas unkonventioneller Weise – ein Top-down-Ansatz gewählt. Von der klinischen Phänomenologie ausgehend, werden zunächst Untersuchungen aus dem Bereich der experimentellen Psychopathologie (z. B. zur Imagination selbstverletzenden Verhaltens) und anschließend Befunde zur Schmerzverarbeitung und Impulsivität dargestellt; damit in Zusammenhang stehende neurochemische Befunde, insbesondere aus dem Bereich des Endogenen Opioid-Systems, des serotonergen und des Cortisol-Systems, werden erörtert und schließlich neuere Befunde zu genetischen Grundlagen diskutiert. Das Methodenspektrum reicht von funktionellen Bildgebungsstudien über neuropsychologische Testungen bis hin zu molekulargenetischen Untersuchungen.

Abb. 4.1: Übersicht über die wichtigsten beteiligten Hirnregionen

1 Experimentelle Psychopathologie


Wie kann man sich einem klinischen Phänomen wie SVV von neurobiologischer Seite her nähern? Eine Möglichkeit besteht darin, das Phänomen möglichst genau zu operationalisieren, es unter Laborbedingungen in standardisierter Form abzubilden und dann neuronale (z. B. fMRI) oder neurochemische Korrelate (z. B. Cortisol-Spiegel) zu messen.

Bei SVV handelt es sich um ein heterogenes psychopathologisches Phänomen mit großen Unterschieden in Verhaltensausprägung sowie Zeitverlauf und Intensität des Verhaltens. Dennoch lässt sich, zumindest für bestimmte Erkrankungen wie die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS), ein mehr oder weniger prototypisches Verhaltensmuster (wie das Schneiden mit Rasierklingen in Situationen erhöhter innerer Anspannung) herausarbeiten und der experimentellen Untersuchung zugänglich machen. Vom wissenschaftlichen Standpunkt ideal wäre hier die tatsächliche Durchführung des Verhaltens von den Betroffenen, z. B. das Schneiden mit einer Rasierklinge während einer fMRI-Untersuchung. Hierbei müssen allerdings ethische und methodische Gesichtspunkte kritisch geprüft werden. Eine mögliche Annäherung an das eigentliche Verhalten könnte aber z. B. die Zufügung von kleineren Stich- oder Schnittverletzungen durch den Untersucher unter standardisierten und kontrollierten Bedingungen darstellen.

In der oben skizzierten Hierarchie der experimentellen Psychopathologie steht eine Stufe unter der Durchführung eines bestimmten Verhaltens die Imagination desselben, z. B. mit Hilfe der sogenannten script-driven imagery-Methode. Diese Methode wurde zunächst entwickelt, um peripherphysiologische (Hautleitfähigkeit, Herzfrequenz, Blutdruck), neurochemische und neuronale Korrelate von Trauma-Erinnerungen bei Patienten mit Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) zu untersuchen (Bremner et al. 1999, Lanius et al. 2001, Pitman et al. 1987). In einer Studie an inhaftierten Personen mit SVV benutzten Haines und Mitarbeiter (1995) ebenfalls die script-driven imagery-Methode und erfassten psychophysiologische Maße während der Imagination von personalisierten SVV-Episoden. Im Vergleich zu Kontrollprobanden ohne SVV führte diese Imagination zu einer signifikanten Reduktion sowohl der Herzfrequenz als auch der subjektiven inneren Anspannung. Welch et al. (2008) fanden bei Patientinnen mit BPS ähnliche emotionale und physiologische Veränderungen mit standardisierten Beschreibungen von SVV sowie suizidalem Verhalten. Beide Studien unterstreichen auf psychophysiologischer Ebene die negative Verstärkung von SVV durch die Reduktion der inneren Anspannung.

Unsere Arbeitsgruppe hat sich in den vergangenen Jahren intensiv mit der Schmerzverarbeitung und SVV bei Patientinnen (bislang wurden ausschließlich Frauen untersucht) mit BPS beschäftigt. Wir adaptierten die script-driven imagery-Methode zur Untersuchung imaginierter Selbstverletzungen während der funktionellen Bildgebung (Valerius et al. eingereicht). Elf Patientinnen mit BPS und SVV sowie elf gesunde Kontrollprobandinnen nahmen an der Studie teil. Die Teilnehmerinnen hörten während der fMRI-Messung ein standardisiertes Skript, welches eine stressreiche Situation mit einer anschließenden Selbstverletzung beschrieb. Das Hören des Skripts führte bei den Patientinnen zu stärkerer Anspannung als bei den Kontrollprobandinnen. Während der Imagination der stressreichen Situation kam es bei den Patientinnen zu signifikanten Signaländerungen im dorsolateralen präfrontalen Kortex sowie zu einer stärkeren Deaktivierung im orbitofrontalen Kortex im Vergleich zu den Kontrollprobandinnen (sie-

Abb. 4.2: Deaktivierung im orbitofrontalen Kortex nach dem Anhören einer stressreichen Situation während der Imagination selbstverletzenden Verhaltens bei Patientinnen mit BPS

he Abb. 4.2). Eine Deaktivierung im mittleren cingulären Kortex zeigte sich bei den Patientinnen während der Imagination der eigentlichen Selbstverletzung. Insgesamt führte die Imagination einer stressreichen Situation und einer nachfolgenden Selbstverletzung bei Patientinnen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung also zu einer Dysfunktion in präfrontalen Hirnarealen. Das gefundene neuronale Muster zeigt Ähnlichkeiten mit Befunden gestörter Impulskontrolle (orbitofrontaler Kortex; z. B. Coccaro et al. 2007), Auffälligkeiten bei der Reaktionswahl im Rahmen einer emotional belastenden Situation (dorsolateraler präfrontaler Kortex; z. B. Fleck et al. 2006) und reduzierter Distanz zum Gehörten (cingulärer Kortex; z. B. Ochsner et al. 2002).

2 Schmerzverarbeitung


Im Zusammenhang mit SVV spielt, insbesondere bei der BPS, die Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung eine wichtige Rolle. Klinisch fällt im Zusammenhang mit aversiven Spannungszuständen und Dissoziation eine reduzierte Schmerzsensitivität (Hypoalgesie) auf, die sich häufig nach SVV verbessert. Es lag daher nahe, die Schmerzwahrnehmung bei der BPS näher zu untersuchen. Die erste Untersuchung dazu setzte den sogenannten cold pressor test ein, bei dem die Hand in ein 10 °C kaltes Wasserbad getaucht wird und die Schmerzhaftigkeit alle 15 Sekunden über insgesamt vier Minuten angegeben wird. Die Untersuchung wurde mit drei unterschiedlichen Gruppen durchgeführt: BPS-Patienten mit schmerzhaftem SVV, BPS-Patienten mit SVV und gleichzeitiger Hypoalgesie und gesunde Kontrollprobanden (Russ et al. 1992). Die Gruppe der Patienten, die während SVV analgetisch waren, hatte auch im cold pressor test im Vergleich zu den beiden anderen Untersuchungsgruppen eine signifikant reduzierte Schmerzwahrnehmung; die beiden anderen Gruppen unterschieden sich nicht bzgl. der Schmerzhaftigkeit.

Bohus und Mitarbeiter (2000) setzten den cold pressor test bei zwölf unmedizierten BPS-Patientinnen mit SVV-assoziierter Hypoalgesie sowie bei 19 altersgematchten Kontrollprobandinnen ein. Die Patientinnen wurden zu zwei Zeitpunkten untersucht: während subjektiver Entspanntheit sowie während eines Zustands hohen Dranges zu SVV. Bereits im entspannten Zustand zeigte sich eine signifikant reduzierte Schmerzwahrnehmung bei den BPS-Patientinnen im Vergleich zu den Kontrollprobandinnen. Während erhöhter Anspannung war die Schmerzwahrnehmung nochmals signifikant gegenüber der Ruhebedingung reduziert. Diese Befunde deuten sowohl auf eine generelle Verringerung der Schmerzwahrnehmung als auch eine stressinduzierte Hypoalgesie bei BPS-Patientinnen hin.

Um den Zusammenhang zwischen Stresssymptomen und Schmerzwahrnehmung genauer zu untersuchen, erhoben wir Schmerzschwellen mittels elektrischer Stimulation bei 12 BPS-Patientinnen und 12 Kontrollprobandinnen (Ludäscher et al. 2007). Wiederum fanden sich bei den Patientinnen signifikant erhöhte Schmerzschwellen bei normaler Wahrnehmungsschwelle; außerdem zeigte sich bei den Patientinnen eine positive Korrelation zwischen der Schmerzschwelle und der inneren Anspannung sowie zwischen der Schmerzschwelle und Dissoziation. Auch wenn in dieser Untersuchung nicht explizit der Drang zu SVV untersucht wurde, kann jedoch vermutet werden, dass die vor und während SVV erhöhte Anspannung in Zusammenhang mit dissoziativer Symptomatik ebenfalls mit einer Hypoalgesie einhergeht.

Zur genaueren Differenzierung der gestörten Schmerzwahrnehmung wählten wir einen elektrophysiologischen Ansatz (Schmahl et al. 2004). Kurze Hitzeschmerzreize wurden mittels eines Lasers generiert und auf den Handrücken von zehn unmedizierten Borderline-Patientinnen und 14 gesunden Kontrollprobandinnen appliziert. Die Teilnehmerinnen führten während der Stimulation entweder eine räumliche Diskriminationsaufgabe oder eine Ablenkungsaufgabe (Kopfrechnen) durch. Die Patientinnen zeigten – in Übereinstimmung mit den Vorbefunden – eine höhere Schmerzschwelle sowie eine niedrigere subjektive Schmerzbewertung. Die Amplituden der Laser-evozierten EEG-Potentiale waren jedoch bei den Patientinnen gegenüber den Kontrollprobandinnen nicht verkleinert, und die Patientinnen unterschieden sich nicht von den Kontrollprobandinnen hinsichtlich der räumlichen Diskriminations- und der Kopfrechenleistung. Daher kann vermutet werden, dass die reduzierte Schmerzwahrnehmung weder mit einer Störung der sensorisch-diskriminativen Schmerzkomponente noch mit einem Aufmerksamkeitsdefizit...

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