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Sexualität und geistige Behinderung? Selbstbestimmung und sexualpädagogische Intervention im Wohnheim

AutorAstrid Niehues
VerlagStudylab
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl210 Seiten
ISBN9783668209121
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis39,99 EUR
Die Sexualität von Menschen mit geistiger Behinderung stellt auch in unserer freiheitlichen Gesellschaft nach wie vor ein Tabuthema dar. Betrachtet man die breite Öffentlichkeit, scheint es, als würden sich Sexualität und Behinderung gegenseitig ausschließen. In Fachkreisen hingegen herrscht Konsens darüber, dass Sexualität auch für Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden, ein selbstverständliches Grundbedürfnis und Grundrecht ist. Die vorliegende Diplomarbeit untersucht die Sexualität von Menschen mit geistiger Behinderung unter besonderer Berücksichtigung ihrer Lebenssituation im Wohnheim. Die Autorin erstellt sexualpädagogische Leitlinien, welche das Leben einer selbstbestimmten Sexualität für die im Wohnheim lebenden Menschen ermöglichen und unterstützen sollen. Im Rahmen dieses Vorhabens wird die Fragestellung 'Welche Bedeutung hat Sexualität für die menschliche Entwicklung und für die Persönlichkeitsentwicklung für Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung insbesondere?' bearbeitet, da diese die Basis für die Entwicklung der Leitlinien darstellt. Hierbei werden Faktoren, die die Persönlichkeitsentwicklung und somit auch die Entfaltung der Sexualität eines Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung erschweren, aufgezeigt. Insgesamt soll diese Arbeit zu einer weiteren Enttabuisierung der Sexualität des betreffenden Personenkreises beitragen und ihr Recht auf eine selbstbestimmte Sexualität im Wohnheim stärken.

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Leseprobe

1. Einleitung


 

Das Thema „Sexualität und sogenannte geistige Behinderung“ scheint in unserer Gesellschaft, in einer Zeit, wo die Genetik und die Pränataldiagnostik sich stets weiterentwickeln und es sich zur Aufgabe gemacht haben, nach ihrer Sichtweise „gesundes“ und „leistungsfähiges“ Leben zu produzieren, eine besondere Brisanz in sich zu bergen. Man bekommt das Gefühl, dass hierdurch wieder verstärkt abwehrende Haltungen gegenüber Menschen mit Behinderungen entstehen und neue Barrieren im Umgang aufgebaut werden, die nur schwer überwunden werden können. Betrachtet man die breite Öffentlichkeit, erscheint es so, als würden sich insbesondere Sexualität und Behinderung diametral gegenüber stehen, da hierbei gleich zwei von der Gesellschaft tabuisierte Themen in einen Kontext gestellt werden.

 

Mein persönliches Interesse an diesem Themengebiet ist insbesondere durch Gespräche mit Dritten im Alltag entstanden. Eine Bekannte berichtete mir von ihrer erwachsenen Mitbewohnerin, die sehnlichst ein Kind habe wolle und auf Wunsch ihrer Eltern regelmäßig ein Kontrazeptiva einnehme, mit der Begründung, dass sie davon schwanger werden würde. In diesem Fall blieb der Frau eine Aufklärung über Verhütung verwehrt, und eine selbstbestimmte Entscheidung wurde unterdrückt. Durch ein vertrauliches Gespräch mit einer Angestellten in einem Wohnheim für Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung erfuhr ich, dass dies kein seltener Fall sei und Sexualität auch in ihrer Einrichtung negiert werden würde. Über diese und weiteren Erfahrungsberichte habe ich Bereiche ausgemacht, in denen die Sexualität dieser Menschen meiner Ansicht nach eine „Sonderbehandlung“ erfahren kann. Zum einen kann dies in der Familie, zum anderen in Wohnheimen der Fall sein[1].

 

Angeregt durch die Betrachtungen auf gesellschaftlicher Ebene habe ich damit begonnen, den pädagogischen Fachdiskurs bezüglich der Materie „Sexualität und sogenannte geistige Behinderung“ zu betrachten, welcher sich völlig anders darstellte. Innerhalb der Rehabilitationspädagogik hat sich mittlerweile ein Paradigmenwechsel vollzogen, der sich von einer Defizitorientierung abwendet und dem es darum geht, die Stärken des Individuums in allen Lebensbereichen zu fördern – dies impliziert auch den Lebensbereich Sexualität.

 

Der öffentliche Fachdiskurs behandelt die Thematik „Sexualität und sogenannte geistige Behinderung“ in der Fachliteratur, auf Tagungen und Kongressen. In der Fachliteratur herrscht allgemein Konsens darüber, dass Sexualität auch für Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden, ein selbstverständliches Grundbedürfnis und Grundrecht ist (Walter 2005). Es wird hier explizit die Selbstbestimmung im Lebensbereich Sexualität für Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung gefordert. In den gegenwärtigen, insbesondere sexualpädagogischen, Diskursen geht es nicht mehr um eine Anerkennung der sexuellen Bedürfnisse für den betreffenden Personenkreis, sondern um weiterführende Themenfelder wie die Umsetzung von ethischen Rechten, Sexualassistenz und Sexualbegleitung, Elternschaft und sexualisierte Gewalt (vgl. Specht 2008, S. 295). Problematiken werden hier weniger in einer Diskrepanz zwischen Sexual- und Intelligenzalter wahrgenommen als in einer Verhinderung der Sexualität durch äußere Faktoren.

 

Dennoch gestaltet sich die Umsetzung des theoretischen Diskurses in die Praxis als schwierig. Dies hat sich mir unter anderem an meinen Recherchen bezüglich der vorliegenden Arbeit gezeigt. Um vertiefende Einblicke in die sexualpädagogische Arbeit von Institutionen zu bekommen, bat ich verschiedenen Einrichtungen um ihre sexualpädagogischen Konzeptionen. Die Rückmeldungen waren niederschmetternd, die meisten meiner Anfragen wurden mit ausschweifenden Begründungen wie „unser Klientel ist zu schwer behindert“, „wir brauchen keine Konzeptionen, wir machen das so“ und „wir haben keine, uns sitzt der katholische Bischof im Nacken“ abgelehnt.

 

Dieses Konglomerat aus persönlichen Erfahrungen und Recherchen, die unterschiedliche Wahrnehmung der Sexualität von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung in der Gesellschaft und im pädagogischen Fachdiskurs sowie die anscheinend bestehende Kluft zwischen sexualpädagogischer Theorie und der Praxis in Wohnheimen waren ausschlaggebend für das Forschungsanliegen dieser Arbeit.

 

In meiner Diplomarbeit werde ich die Sexualität von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung unter Fokussierung der Lebenssituation im Wohnheim untersuchen. Es handelt sich hierbei um eine theoriegeleitete Arbeit, mit dem Ziel, sexualpädagogische Leitlinien für das pädagogische Handeln im Wohnheim zu erstellen, welche das Leben einer selbstbestimmten Sexualität für die dort lebenden Menschen ermöglichen und unterstützen sollen. Im Rahmen dieses Vorhabens soll die Fragestellung „Welche Bedeutung hat Sexualität für die menschliche Entwicklung und für die Persönlichkeitsentwicklung für Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung insbesondere?“ bearbeitet werden, da diese die Basis für die Entwicklung der Leitlinien darstellen wird. Des Weiteren ist die Fragestellung insofern von Bedeutung, als das die Sexualität von Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden, in unserer Gesellschaft mit Vorurteilen behaftet ist und eine Sonderstellung einnimmt. Ein weiteres Ziel dieser Arbeit soll es deswegen sein, deutlich zu machen, dass Sexualität für die Entwicklung und Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen wesentlich ist, ganz gleich, ob „behindert“ oder „nicht behindert“. Hierbei sollen Faktoren, die die Persönlichkeitsentwicklung und somit auch die Entfaltung der Sexualität eines Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung erschweren, aufgezeigt werden. Insgesamt soll diese Arbeit zu einer weiteren Enttabuisierung der Sexualität des betreffenden Personenkreises beitragen und ihr Recht auf eine selbstbestimmte Sexualität im Wohnheim stärken.

 

Im Folgenden möchte ich die Vorgehensweise in Bezug auf die Fragestellung erläutern. Um die zentrale Fragestellung adäquat untersuchen zu können, erfolgt in Kapitel zwei eine Definition der wesentlichen Begriffe „Sexualität“, „Sexualpädagogik“, „Behinderung“ und „Geistige Behinderung“. Da diese Begrifflichkeiten die Basis dieser Arbeit darstellen, werden sie vorgestellt und die relevanten Definitionen bestimmt. Der Fokus liegt hierbei auf dem Begriff „Geistige Behinderung“, da er die in dieser Arbeit zu untersuchende Personengruppe beschreibt. Es wird anhand der Betrachtung der Schwierigkeit einer Begriffsdefinition und fachspezifischer Sichtweisen hinsichtlich „geistiger Behinderung“ aufgezeigt werden, dass es zu diesem Begriff keinen allgemeingültigen Konsens gibt. Abschluss des Kapitels bildet eine eigene Arbeitsdefinition der Begriffe „Geistige Behinderung“ und „Behinderung“, in der ich insbesondere mein Verständnis von Behinderung wiedergeben werde. Zudem begründe ich, warum ich mich dafür entschieden habe, für die betreffende Personengruppe die Bezeichnungen „Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung“ und „Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden“ zu verwenden.

 

Daran anschließend werde ich mich in Kapitel drei intensiv mit dem Begriff Identität auseinandersetzen. Nach einer begrifflichen Annäherung, in der unterschiedliche definitorische Zugänge aufgezeigt werden, werde ich auf auf die Begriffe Stigma, Stigmatisierung und Stigma-Identitätsthese eingehen. In diesem Kapitel wird gezeigt werden, welchen negativen Zuschreibungsprozessen seitens der Gesellschaft Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung bezüglich ihrer Identität im Allgemeinen und im Hinblick auf ihre Sexualität im Besonderen, entgegentreten müssen. Zudem ist hiermit die Basis für das darauf folgende soziologische Identitätsmodell von Frey geschaffen. Dieses Identitätskonzept fokussiert die Interaktion des Individuums mit der Umwelt. Eine solche Betrachtungsweise von Identität ist für die Persönlichkeitsentwicklung von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung von Bedeutung, da es die gesellschaftliche Komponente der Identitätsbildung miteinbezieht. Es wird deutlich werden, dass Menschen, die als geistig behindert bezeichnet werden, sich in Bezug auf die stetige Ausbildung ihrer Identität und der Entwicklung einer sexuellen Identität im Spannungsfeld zwischen persönlichen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Normen und Anforderungen befinden. Nur durch die Darstellung der Wechselseitigkeit von Identität und Gesellschaft kann die Situation von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung akkurat und mehrdimensional abgebildet werden.

 

Dass Stigmatisierungsprozesse jedoch keine negativen Auswirkungen auf Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung haben müssen, wird im Kapitel „Entstigmatisierungstechniken und Stigmatechniken“ dargestellt werden. Mit einem Zwischenfazit, welches die Bedeutung des Identitätskonzeptes von Frey bezugnehmend auf die Sexualität und die Persönlichkeitsentwicklung dieser Menschen erläutert, schließt das Kapitel und leitet in die sexuelle Identität des Menschen über. Mit dieser spezifizierten Sichtweise von Identität und deren Verortung in der menschlichen Persönlichkeit schließt das Kapitel.

 

Im Anschluss daran folgt Kapitel vier, welches die Sexualität im Allgemeinen behandelt. Zuerst wird auf unterschiedliche...

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