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E-Book

Sexualstörungen

AutorHelke Bruchhaus Steinert
VerlagCarl-Auer Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl231 Seiten
ISBN9783849781965
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis33,99 EUR
Sexualität ist einerseits sehr vom individuellen Erleben geprägt und hängt gleichzeitig stark vom Kontext ab - in der Interaktion mit anderen, aber auch kulturell. Entsprechend komplex können die Hintergründe von Sexualstörungen sein. Ihre Folgen betreffen meist ein Paar, oder - umgekehrt: Paarkonflikte führen zu sexuellen Funktionsstörungen. Die Sexualtherapie steht deshalb in enger Verbindung zur Paartherapie. In einem systemischen Störungsverständnis werden die Symptome in einen Sinnzusammenhang gestellt. Es geht darum, die darin zum Ausdruck kommenden berechtigten Bedürfnisse zu verstehen und sie für eine selbstbestimmte, verantwortungsvolle Gestaltung der persönlichen Sexualität und Beziehung zu nutzen. Nicht die Funktion steht im Zentrum, sondern die Person mit ihren Wünschen nach Intimität und Angenommensein. Helke Bruchhaus Steinert vergleicht zunächst unterschiedliche Diagnoseansätze zu sexuellen Funktionsstörungen und stellt verschiedene Erklärungsmodelle sexueller Störungen vor, die für die Therapie hilfreich sind. Sie verlässt dabei ein schulenspezifisches Abgrenzungsdenken und integriert stattdessen wirksame Vorgehensweisen aus verschiedenen Schulen. Therapeutische Interventionen werden anhand von Fallbeispielen aus der Praxis vorgestellt. Zahlreiche verständliche Abbildungen stehen auch als Onlinematerial zur Verfügung und können so unmittelbar für die Therapie genutzt werden.

Helke Bruchhaus Steinert, Dr. med.; Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie; Weiterbildungen in tiefenpsychologischer und systemischer Psychotherapie sowie Sexualtherapie; seit 2002 in eigener Praxis niedergelassen; Sexualtherapeutin der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS); Dozentin, Supervisorin und Vorstandsmitglied am Institut für Ökologisch-systemische Therapie Zürich; Dozentin und Co-Leiterin des Studiengangs DAS Sexualmedizin/Sexualtherapie der Universität Basel. Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Fachzeitschrift 'Familiendynamik'. Schwerpunkte: Beziehungsthemen, Paartherapie, Sexualtherapie im Einzel- und Paarsetting, Partnerschaft und Sexualität im Alter, Umgang mit Affären.

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Leseprobe

3Erklärungsmodelle sexueller Störungen


Erklärungsansätze, die sich an der Unterscheidung der psychotherapeutischen Schulen wie tiefenpsychologisch, verhaltenstherapeutisch und systemisch orientieren, sind für das Verständnis sexueller Funktionsstörungen schon seit Längerem verlassen worden. Deshalb folgt dieses Kapitel einer modifizierten Einteilung: Sie stellt die klassischen den neuen Ansätzen gegenüber. Die meisten Ansätze basieren auf einem verhaltenstherapeutischen Hintergrund und integrieren tiefenpsychologische wie systemische Konzepte. Aus der Sicht der Autorin eignet sich das biopsychosoziale Modell am ehesten, die Komplexität sexueller Störungen zu verstehen.

Viele Modelle nehmen heute eine störungsübergreifende Perspektive ein. So können ungelöste Paarkonflikte oder intrapsychische Konflikte zu verschiedenen Störungsbildern führen, z. B. Luststörungen oder Erregungsstörungen. Den spezifischen Konflikt, der zu einer spezifischen Störung führt, gibt es nicht. Das heißt aber umgekehrt nicht, dass ein bestimmtes Problem nicht mit einer spezifischen kränkenden oder schambesetzten Erfahrung in der persönlichen Geschichte eines Partners oder des Paares in Zusammenhang steht.

Die Einteilung in diesem Kapitel folgt zudem einer zeitlichen Logik. Zunächst werden die klassischen, frühen Ansätze beschrieben, danach wird auf die neuen, späteren Ansätze eingegangen. Ergänzt werden sie durch zwei Ansätze aus der neurobiologischen Forschung, die zum Verständnis sexueller Reaktionen beitragen.

3.1Klassische Ansätze


3.1.1Das Modell von Masters und Johnson

Die moderne Sexualtherapie begann mit den Forschungen von William Masters und Virginia Johnson in den 50er- und 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts. William Masters war Gynäkologe und Virginia Johnson Wissenschaftlerin. Ihr Ziel war es, die sexuelle Reaktion des Menschen in ihrem regelhaften Ablauf zu verstehen und beschreiben zu können. Dazu erhoben sie bei Versuchspersonen verschiedenste physiologische Parameter während deren sexueller Aktivität. Die Menschen wurden quasi beim Sex vermessen. Im gesellschaftlichen Kontext eines prüden Amerikas der damaligen Zeit war dies ein mutiges und gewagtes Unterfangen. 1966 wurde ihr erstes Hauptwerk Human Sexual Response veröffentlicht, auf Deutsch »Die sexuelle Reaktion« (Masters u. Johnson 1984). Sie beschrieben darin den »Human Sexual Response Cycle« (HSRC) als lineare Abfolge von vier Phasen: 1) Erregungsphase, 2) Plateauphase, 3) Orgasmusphase und 4) Refraktärphase. Dieser Reaktionszyklus läuft natürlicherweise ab, wenn er nicht gestört oder unterbrochen wird. Der Zyklus wurde im Kern für Männer und Frauen gleichermaßen angewendet, auch wenn Hartmann betont, dass Masters und Johnson die größere Variabilität der weiblichen sexuellen Reaktion bewusst war (Hartmann 2017).

Aus ihren Forschungsergebnissen heraus entwickelten sie ein Therapiekonzept, den sogenannten Sensate Focus, der im deutschsprachigen Raum seine Weiterentwicklung vor allem im »Hamburger Modell« fand. Im Deutschen wird meist von »Sensualitätsübungen« gesprochen. Im Zentrum ihres Erklärungsmodells sexueller Funktionsstörungen steht die sog. performance anxiety – gemeint sind Versagensängste und ein übermäßiger Leistungsdruck, die den natürlichen Ablauf des sexuellen Reaktionszyklus behindern. Als weitere Behinderung sahen sie die restriktiven moralischen Gebote der damaligen Zeit an, der sie eine körperfreundlichere, sexuell offenere Haltung entgegensetzen wollten. Ihr Therapieprogramm, der Sensate Focus, wurde ein Erfolgsrezept und konnte für die klassischen Funktionsstörungen sehr gute Erfolge verzeichnen. Das Therapieprogramm sah immer die Therapie des Paares vor und beruhte auf einer schrittweisen Abfolge von Übungen, die das Paar zu Hause durchführen sollte. Dadurch sollten die hindernden Versagensängste Schritt für Schritt abgebaut werden. Dabei wird jeweils ausgewogen zwischen der aktiven und rezeptiven Position der Partner abgewechselt. Das Programm wird von einem Koitusverbot begleitet. Schrittweise werden die Partner im Sensate Focus durch die Übungen geführt, von einer wertfreien Wahrnehmung des eigenen Körpers und Befindens über die erweiterte Wahrnehmung auch des Partners bis hin zu gerichteter sexueller Stimulation und schließlich dem Koitus. Das Ziel besteht in korrigierenden körperlichen Erfahrungen, die über das Erleben von Entspannung, Vertrautheit und Selbstsicherheit den Zugang zur natürlichen Sexualität ermöglichen sollen. Clement kritisiert zu Recht, dass diesem Denkmodell eine starke Defizitorientierung zugrunde liegt, die sexuelles Funktionieren als den normativen Anspruch setzt (Clement 2004). Dennoch ist unbestritten, dass korrigierende Erfahrungen körperlich erfahren und verankert werden müssen. Es scheint, als ob sich verschiedene Ansätze für die störungsspezifischen Interventionen auf die klassische Therapie mit dem Sensate Focus zurückbesinnen. So entwerfen Maß und Bauer eine »modifizierte Sexualtherapie nach Masters und Johnson« (Maß u. Bauer 2016) und Hartmann integriert in seinem »Hannover-Ansatz« (s. u.) Elemente des Sensualitätsfokus, wie er Sensate Focus übersetzt (Hartmann 2017).

Der klinische Nutzen des Modells von Masters und Johnson liegt meiner Erfahrung nach darin, dass Patienten mithilfe eines gut verständlichen Modells der Ablauf einer sexuellen Reaktion erklärt werden kann. Ebenso kann damit gut die Bedeutung körperlicher Erfahrungen plausibel gemacht werden. Nicht sexuelle Wünsche und paardynamische Konflikte lassen sich aber weniger gut integrieren.

3.1.2Der Ansatz von Helen Singer Kaplan

Helen Singer Kaplan, Psychologin, Ärztin und Psychoanalytikerin, gründete die erste Klinik für sexuelle Störungen an einer medizinischen Universität in den USA, an der Payne Whitney Clinic am New York Hospital. Ihr Verdienst war die Integration der Sexualtherapie in die Psychotherapie. Sie war maßgeblich dafür verantwortlich, dass »gestörtes sexuelles Verlangen« ins DSM-III als eigene Kategorie aufgenommen wurde. Sie erkannte, dass der Ablauf der sexuellen Reaktion bei Frauen von einer psychischen Komponente, dem sexuellen Verlangen (desire, Libido), beeinflusst wird. Sie sah dieses als einen angeborenen Trieb an, durch den eine sexuelle Reaktion ausgelöst werden kann. Als Erste beschrieb sie sexuelle Lustlosigkeit als Folge psychischer Konflikte als Inhibited Sexual Desire oder als Hypoactive Sexual Desire Disorder, wenn keine Ursachen erkennbar waren. Sie betrachtete sexuelle Funktionsstörungen als multifaktoriell bedingt, integrierte analytische und verhaltensbezogene Konzepte in ihre Therapie. Auf sie geht der bekannte Begriff des »Bypassing« zurück. Damit meint Kaplan, dass eine Symptombesserung auf der Ebene der Sexualität erreicht werden kann, wenn es möglich ist, die Folgen eines Konflikts zu bearbeiten, ohne dass dazu der Konflikt selber aufgelöst werden muss (Maß u. Bauer 2016). Wenn z. B. eine vaginistische Frau mithilfe der Therapie und eines geduldigen, zugewandten Partners sich für die Penetration des Penis zu öffnen beginnt, bedarf es keiner Bearbeitung tieferliegender Konflikte ihres Vaginismus. Erst wenn die Bearbeitung der Sexualität (als Folge eines Konflikts) keine ausreichende Besserung bringt, sollte die psychotherapeutische Arbeit am Grundkonflikt erfolgen. Dazu muss man auch das Umfeld der therapeutischen Arbeit von Kaplan beachten, die mit Patienten und Patientinnen arbeitete, die sich eine teure Behandlung bei Masters und Johnson nicht leisten konnten. Sie war gezwungen, mit deutlich weniger Aufwand Erfolge zu erzielen.

3.1.3Das Hamburger Modell

Überzeugt vom Konzept von Masters und Johnson begannen Schmidt und sein Team in Hamburg Anfang der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts, deren Therapieansatz umzusetzen und wissenschaftlich zu untersuchen. Das »Hamburger Modell« kann als Paartherapie entlang körperorientierter Übungen beschrieben werden (Arentewicz u. Schmidt 1986). Es wird angenommen, dass hinter den sexuellen Störungen innerpsychische und/oder Partnerkonflikte liegen, die es in der Paartherapie zu bearbeiten gilt. Folgerichtig war das Ziel weniger die alleinige Auflösung des sexuellen Symptoms. Die Sexualität und die Übungen dienten als Grundlage für die psychotherapeutische Arbeit im Paarsetting. Bei Therapieabschluss hatten sich für 90 % der Paare ihre sexuellen Schwierigkeiten vermindert, für 60 % sehr verbessert, aber nur für 10 % behoben, wie schon Arentewicz und Schmidt kritisch festhielten (Arentewicz u. Schmidt 1986). Abgesehen vom Symptom gaben immerhin 80 % der Partner (Symptomträger wie Partner) eine Verbesserung ihrer Beziehung im Hinblick auf die Kommunikation, Gefühle von Zuneigung und den Austausch von Zärtlichkeiten an. Die Übungen folgten in ihrem Aufbau im Wesentlichen den...

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