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E-Book

Sexuell traumatisierte Menschen mit geistiger Behinderung

Forschung - Prävention - Hilfen

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl198 Seiten
ISBN9783170258488
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis26,99 EUR
Sexualität behinderter Menschen war bis vor wenigen Jahrzehnten in den Einrichtungen der Behindertenhilfe kein oder besser: ein Tabuthema. Die Kehrseite dieser Verdrängung: Vor allem geistig behinderte Frauen sind zwei- bis dreimal häufiger Opfer sexueller Gewalt als der weibliche Bevölkerungsdurchschnitt; jede zweite geistig behinderte Frau berichtet über sexuellen Missbrauch in Kindheit und Jugend. Der Band wird für dieses hochaktuelle Thema der Behindertenhilfe und -pädagogik weitgehend Neuland betreten. Präsentiert werden die aktuellen Forschungsergebnisse zum Thema des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Gewalt gegenüber Menschen mit Behinderungen. Der zweite Teil beleuchtet dann innovative Projekte der Prävention und Konzepte zur therapeutischen und heilpädagogischen Begleitung von geistig behinderten Opfern sexueller Gewalt.

Professor Dr. Ulrike Mattke lehrt an der Hochschule Hannover.

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Leseprobe

2          Lebenssituation und Gewalterfahrungen von Frauen mit sogenannter geistiger Behinderung in Deutschland


Ausgewählte Aspekte und Ergebnisse einer repräsentativen Studie im Auftrag des BMFSFJ.1


Monika Schröttle


2.1        Einleitung


Die in Medien, Politik, sozialer Praxis und Wissenschaft vielbeachtete Studie »Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland« im Auftrag des BMFSFJ (vgl. Schröttle et al. 2012/2013) war eine der ersten Studien, die mit einem breiten methodischen Zugang Frauen mit unterschiedlichen Behinderungen, sowohl in Einrichtungen als auch in Privathaushalten, repräsentativ befragt hat. Sie zeigte ein gravierendes Ausmaß von Gewalterfahrungen von Frauen mit Behinderungen auf. Diese waren zwei- bis dreimal häufiger als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt unterschiedlichen Formen von Gewalt im Lebensverlauf ausgesetzt und hatten fast durchgängig Erfahrungen mit Diskriminierungen gemacht.

Auch Frauen mit Behinderungen, die in Einrichtungen leben, waren den Ergebnissen nach häufig von Gewalt betroffen. Sie waren außerdem einem hohen Maß an struktureller Benachteiligung ausgesetzt, welche Gewalt befördern und die Suche nach Unterstützung in Gewaltsituationen erschweren kann. Beides ist nicht mit den in der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschriebenen Rechten vereinbar.

Da in der politischen und sozialen Praxis ein hoher Bedarf besteht, aus den umfangreichen Daten der repräsentativen Studie weitere differenzierte Kenntnisse über die Ursachen und Risikofaktoren für Gewalt in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe zu ziehen, wurde im Rahmen des Forschungsprojektes »Gewalterfahrungen von in Einrichtungen lebenden Frauen mit Behinderungen« (Schröttle & Hornberg 2014) eine vertiefende sekundäranalytische Sonderauswertung der Daten von insgesamt 401 in Einrichtungen lebenden Frauen durchgeführt. Es handelt sich dabei zum einen um 318 Frauen mit Lernschwierigkeiten und kognitiven Beeinträchtigungen, die in Einrichtungen für Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen leben und die in vereinfachter Sprache befragt worden waren. Zum anderen wurden 83 psychisch erkrankte Frauen in stationären Wohneinrichtungen befragt.

Im Rahmen der Studie wurden Auswertungen zur Lebens- und Wohnsituation der in den stationären Einrichtungen lebenden Frauen sowie zu deren Gewalterfahrungen im Lebensverlauf mit einem Fokus auf Risikofaktoren und Barrieren für Schutz und Unterstützung Betroffener durchgeführt. Zudem wurden in Kooperation mit der Fachpraxis Maßnahmenvorschläge für die verbesserte Prävention und Intervention bei Gewalt in Einrichtungen entwickelt.

Der nachfolgende Text bezieht sich vor allem auf die kognitiv beeinträchtigten Frauen, die in Einrichtungen leben. Alle Frauen wurden von spezifisch geschulten Interviewerinnenteams in vereinfachter Sprache befragt (vgl. zur Methodik Schröttle & Hornberg, BMFSFJ 2013).

2.2        Kindheitserfahrungen und aktuelle Lebenssituation kognitiv beeinträchtigter Frauen in Einrichtungen


Die aktuelle Lebenssituation der kognitiv beeinträchtigten Frauen, die in stationären Einrichtungen leben, ist vielfach geprägt durch einen Mangel an Selbstbestimmung und Privatheit sowie einen unzureichenden Schutz der Intimsphäre. So stehen oft keine eigenen Wohnungen zur Verfügung, das Zusammenleben wird in (größeren) Wohngruppen organisiert, Bad- und Toilettenräume sind nicht abschließbar und der Alltag sowie die Lebensgestaltung werden durch Einrichtungsroutinen bestimmt und reglementiert. Vielen Frauen fehlen nach eigenen Angaben Rückzugsmöglichkeiten wie auch enge, vertrauensvolle Beziehungen; insgesamt ist die Möglichkeit, Sexualität, Paar- und Familienbeziehungen zu leben, in den Einrichtungen strukturell erheblich eingeschränkt oder gar nicht erst vorgesehen. Zudem verfügen kognitiv beeinträchtigte Frauen in Einrichtungen zumeist nur über geringe finanzielle, Bildungs- und berufliche Ressourcen. Wenn sie erwerbstätig sind, arbeiten sie zumeist in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen, mit geringer Entlohnung und vielfach keiner ausreichenden Information und wenig Verfügungsmacht über die eigenen Finanzen. Auch hierdurch werden die Optionen für alternative, selbstbestimmte Lebensentwürfe außerhalb des stationären institutionellen Kontextes stark begrenzt.

Da die Behinderungen bei kognitiv beeinträchtigten Frauen überwiegend bereits seit Geburt oder Kindheit bestehen, sind viele an Betreuung und Unterstützung durch Dritte und in Institutionen gewöhnt; ein selbständiges und eigenverantwortliches Leben zu führen, eigene Entscheidungen zu treffen, anderen gegenüber Grenzen zu setzen, wurde von vielen nicht gelernt. Subjektiv werden die vorhandenen Beeinträchtigungen und Begrenzungen jedoch vielfach als weniger belastend wahrgenommen als von Frauen, deren Behinderung(en) erst im Lebensverlauf eingetreten war(en). Die Lebenszufriedenheit der kognitiv beeinträchtigten Frauen in Einrichtungen ist relativ hoch, was aber vor dem Hintergrund oft fehlender alternativer Erfahrungen und Möglichkeiten durchaus auch kritisch gesehen werden kann.

Bei den befragten kognitiv beeinträchtigten Frauen finden sich Hinweise auf erhöhte Belastungen und Risiken in Kindheit und Jugend: viele sind nicht bei beiden Elternteilen aufgewachsen und der Anteil der in Heimen oder bei Pflegepersonen ganz/teilweise Untergebrachten ist hoch; auch lässt sich gegenüber dem Bevölkerungsdurchschnitt eine deutlich erhöhte Betroffenheit durch sexuellen Missbrauch in Kindheit und Jugend feststellen. Dennoch liegen aber gerade im Vergleich mit den psychisch beeinträchtigten Frauen in Einrichtungen bei der Mehrheit der kognitiv beeinträchtigten Frauen keine hoch belasteten Kindheiten vor.

2.3        Gewaltbetroffenheit(en) und Gewaltkontexte


Nach den Ergebnissen der Studie waren die kognitiv beeinträchtigten Frauen im Erwachsenenleben in deutlich höherem Maße von psychischer, körperlicher und sexueller Gewalt betroffen als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt. Sie waren in ihrem Erwachsenenleben mehrheitlich von Gewalt betroffen. Mehr als zwei Drittel der Befragten (68%) gaben an, seit dem 16. Lebensjahr psychische Gewalt oder psychisch verletzende Handlungen erlebt zu haben, über die Hälfte (52-58%)2 waren von körperlichen Übergriffen betroffen und gut jede Fünfte (21%) berichtete erzwungene sexuelle Gewalthandlungen. Von sexueller Belästigung waren fast 40% betroffen. Auffällig hoch ist der Anteil der kognitiv beeinträchtigten Frauen, die zu Fragen nach sexueller Gewalt und sexueller Belästigung keine Angaben gemacht haben (11-23%), was auf Scham und Angst, Gewalt zu berichten, hindeuten kann und damit auf ein erhöhtes Dunkelfeld und eine mögliche Untererfassung sexueller Gewalt bei dieser Zielgruppe verweist.

Kognitiv beeinträchtigte Frauen hatten Gewalt häufig durch Partner und Familienangehörige erlebt, nicht selten aber auch durch Personen in den Wohnheimen und Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Es handelte sich hier häufig um Mitbewohner und Mitbewohnerinnen sowie andere Menschen mit Behinderungen in Arbeitskontexten. Diese zentralen Täter-Opfer-Kontexte (Familie, Partnerschaft und Nutzer/innen der Einrichtungen) werden in der Präventionsarbeit in Einrichtungen immer noch zu wenig berücksichtigt.

Tab. 1: Gewaltbetroffenheit kognitiv beeinträchtigter Frauen in Einrichtungen im Erwachsenenleben (Quelle: Schröttle & Hornberg 2014, S. 65)

Neben der manifesten Gewalt spielt auch latente Gewalt in Form von Ängsten, Bedrohungs- und Unsicherheitsgefühlen eine Rolle. Kognitiv beeinträchtigte Frauen äußerten hierzu häufig Unsicherheitsgefühle und Ängste in Bezug auf fremde und kaum bekannte Personen im öffentlichen Raum. Darüber hinaus benennt aber jede sechste bis siebte in einer Einrichtung lebende Frau Ängste und Unsicherheitsgefühle, die sich auf potentielle Gewalt durch Personen in der Einrichtung beziehen – insbesondere durch andere Mitbewohner/innen, aber auch durch Personal. Das Leben in den Einrichtungen scheint von einem relevanten Teil der Frauen als bedrohlich und unzureichend sicher oder geschützt wahrgenommen zu werden.

In der folgenden Tabelle lässt sich erkennen, dass für einen relevanten Teil der in Einrichtungen lebenden kognitiv beeinträchtigten Frauen eine Privat- und Intimsphäre kaum möglich ist. Insbesondere das Fehlen abschließbarer Zimmer, Wasch- und...

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