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Sexuelle Verwahrlosung

Empirische Befunde - Gesellschaftliche Diskurse - Sozialethische Reflexionen

AutorMichael Schetsche, Renate-Berenike Schmidt
VerlagVS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV)
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783531924779
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,27 EUR
Der Band erfüllt drei Aufgaben: Erstens soll aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ein kritischer Blick auf frühere und aktuelle Debatten zu sexualmoralischen und sexualpolitischen Problemlagen, namentlich im Kontext des Kinder- und Jugendschutzes, geworfen werden. Zweitens soll der aktuelle Stand der empirischen Forschung zum Sexualverhalten von Heranwachsenden und jungen Erwachsenen dokumentiert, diskutiert und fortgeschrieben werden. Drittens schließlich sollen auf Basis der empirischen Befunde und theoretischen Überlegungen grundlegende sozialethische Reflexionen zum Verhältnis Sexualität und Moral sowie Individuum und Gesellschaft angestellt und befördert werden. Das Buch versteht sich dabei ausdrücklich als ebenso wissenschaftlich-sachlicher wie kritisch-reflexiver Beitrag zur aktuellen Debatte über die Gefahren der 'sexuellen Verwahrlosung' in unserer Gesellschaft.

Privatdozent Dr. rer. pol. Michael Schetsche lehrt Soziologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Arbeitsgebiete: Wissens- und Mediensoziologie; Soziologie sozialer Probleme.

Privatdozentin Dr.phil. Renate-Berenike Schmidt lehrt Erziehungswissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; Arbeitsgebiete: Sexualpädagogik, Sozialisationsforschung.

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Leseprobe
Explizite Lyrik – „Porno-Rap“ aus jugendsexuologischer Perspektive (S. 207-208)

Konrad Weller


Das Epizentrum des 2007 ausgelösten medialen Bebens über die sexuelle Verwahrlosung der Jugend in Deutschland liegt in Essen-Katernberg. Dort hat ein erfahrener Sozialarbeiter einem ebenso erfahrenen stern-Redakteur seine professionellen Naherfahrungen mitgeteilt (Wüllenweber 2007). Die seither geführte journalistische wie wissenschaftliche Debatte ist außerordentlich facettenreich. Es handelt sich diverse Fallschilderungen aus den sozialen Brennpunkten der Republik, in denen z. B. beschrieben wird, dass Unterschicht-Eltern mit ihren Kindern gemeinsam Pornos gucken, dass 12jährige Musik hören, in denen sexistische Gewalt ein Dauerthema ist oder dass sich 14jährige zum Gruppensex treffen (ebd.).

Von diesen Fällen heißt es, sie seien nur die „Spitze des Eisbergs“ (vgl. Weirauch 2007). Daran, dass Eisberge aus kleineren sichtbaren und größeren unsichtbaren Teilen bestehen (oder, kriminologisch formuliert, aus kleineren Hellfeldern und größeren Dunkelfeldern) soll nicht gezweifelt werden. Die Frage ist allerdings: Wie viele Eisberge gibt es denn im Großen Ozean der Jugendsexualität? Was vermittelt der geweitete sexualwissenschaftliche Blick auf diesen Ozean, wenn man den sozialarbeiterischen und journalistischen Zoom auf Eisberge zurückfährt? Die aktuelle Verwahrlosungsdebatte ist in ihrem Kern bzw. Ausgangspunkt eine Pornographie- bzw. Pornographisierungsdebatte. In den oben angesprochenen Naherfahrungen wird häufig von Fällen berichtet, in denen sich heutzutage vor allem Jungen bereits vom späten Kindesalter an pornographisches Material ansehen und anhören.

Die Auswirkungen scheinen evident – der Sozialarbeiter berichtet: Die Heranwachsenden lernen nicht mehr, was Liebe ist. Sie küssen nicht mehr, haben aber Sex miteinander (ganz wie im Porno). Besonders auffällig ist auch die zunehmende Sexualisierung der Sprache. Ein besonderes Indiz hierfür ist die Popularität des sogenannten „Porno-Rap“. In diesem Artikel soll vor allem der Frage nachgegangen werden, was sich hinter dem Phänomen „Porno-Rap“ verbirgt, wie es um die Verbreitung, Rezeption, Wirkung pornographischer, gewaltverherrlichender, frauenverachtender und homophober Elemente innerhalb der populären und identitätsstiftenden Jugendkultur des HipHop steht.

Dabei geht es nur zum Teil um die traditionelle, pädagogisch wertvolle Frage des Kinder- und Jugend(medien)schutzes, wie von Erwachsenen für Erwachsene produzierte Pornographie von Kindern und Jugendlichen genutzt wird und auf sie wirkt. Es geht um Musik, Rhythmus und Poesie (Rhythm and Poetry), um Rap als Lebensgefühl und integratives Band in der Clique, um die Frage, inwieweit die Protagonisten des neuen deutschen Gangsta-Rap verhaltensrelevante Leitbilder liefern, welche Bedürfnisse sexistischer Rap anspricht und wofür er steht: als bloße Mode oder Indiz für (sexual-)kulturelle Tendenzen.

Sexistischer Rap wird, soviel soll vorweg genommen werden, vor allem von sozial benachteiligten Jungen gehört. Das führt zu einem weiteren Aspekt der Verwahrlosungsdebatte, die eine Unterschicht- bzw. Prekariatsdebatte ist. Jakob Pastötter (aktuell Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung) hat im oben genannten stern-Artikel die These von der „Pornographie als Leitkultur der Unterschicht“ aufgestellt. Das resultiert aus der oben erwähnten Fokussierung der Verwahrlosungsdebatte auf Berichte aus sozialen Brennpunkten.
Inhaltsverzeichnis
Inhalt5
Gefühlte Gefahren. Sexuelle Verwahrlosung zur Einführung7
Unterwegs im Bermuda-Dreieck von Sexualverhalten, Sexualmoral und sexueller Sozialisation7
Sexualität – gefährliche Untiefen des Sozialen?9
Die Orientierung zwischen den sexualmoralischen Klippen12
Alternative Peilungen19
Literatur23
I. Diskurse25
Deutschlands sexuelle Moralpaniken26
Prolog26
1. Akt: 9. Juli 1851: Wichern sichtet Sodom und Gomorrha in Berlin sowie Hamburg und anderswo27
2. Akt: 3. Oktober 1782: Pestalozzi sichtet Sodom und Gomorrha bei Rousseau und zieht daraus (sozial-)pädagogische Konsequenzen30
3. Akt: 1896: Freud entdeckt Sodom und Gomorrha in Wien – aber Nietzsche war eigentlich einen Schritt schneller gewesen (mit bit32
4. Akt: 1. Januar 1934: Herman Nohl sorgt sich um den „Erbstrom“ des deutschen Volkes, andere planen die Endlösung der ‚sexuelle35
5. Akt: April 1971: Sodom und Gomorrha, neu und attraktiv ausbuchstabiert von Jerry Rubin, kehren zurück – nun als Projekt des a37
6. Akt: Februar 2007: Sodom und Gomorrha kehren erneut zurück – nun als Gespenst des nicht-akademischen Prekariats42
Epilog44
Literatur46
Strafrechtliche Normierung von Sexualität im Kontext der Debatte über ‚sexuelle Verwahrlosung‘50
Probleme des strafrechtlichen Kinderund Jugendschutzes51
Das 27. Strafrechtsänderungsgesetz vom 23.07.199351
Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung vom 27.12.200355
Gesetz vom 16.08.2008 zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates der Europäischen Union zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutu56
Exkurs: Müssen europarechtliche Vorgaben vorbehaltlos umgesetzt werden?58
Einschätzungen60
in dubio pro libertate!60
Gesetzesvollzugs61
gesellschaftlichen Bedingungen61
zweck-rationalen Konzepten61
Risiko-, Sicherheitsund Präventions-Strafrecht61
Moralschutz,62
‚punitive Wende‘62
neue Intensität der präventiven Kontrolle62
Verhaltenmotivation62
kommerzialisierbare63
Literatur64
Sexuelle Verwahrlosung in der DDR?66
De nitionen und Gebrauch des Begriffs67
Empirische Befunde76
Sexualpartnermobilität. Oder: Rausch und Rauch der vielen76
Kohabitarche. Der frühe Start ins koitale Sexualleben78
Familiarisierung der Sexualität. Verwildern oder Verhäuslichen.80
Nacktheit. Die veränderte Scham81
Schluss88
Literatur89
II. Befunde92
Wandel der Jugendsexualität in der Bundesrepublik93
Jugend und Sexualität – historische Vorbemerkungen93
Sexualitätsdiskurs und bürgerliche Jugendbewegung96
Die „Erotische Eiszeit“98
Die „sexuelle Revolution“100
Empirische Befunde zur Jugendsexualität6101
„Erstes Mal“: Frühe heterosexuelle Erfahrungen102
Motive für sexuelle Erfahrungen: Stärkere Ebenbürtigkeit107
Verhütungsverhalten: Stärkere Verantwortlichkeit108
Sexuelle Beziehungen: Stärkere Romantisierung108
Fazit: Das feste Band der Monogamie109
Literatur111
Jugendschwangerschaften – kein Indikator für sexuelle Verwahrlosung116
Die Studie119
Sexualität in festen Beziehungen120
Wie bald und wie oft?121
Elterliche Toleranz und Kontrolle122
Zum Stellenwert von Sexualität in festen Beziehungen124
Diskrepante sexuelle Wünsche125
Sexuelle Treue128
Fremdgehen und Affären132
Singlesex10134
Beziehungsbiogra en136
Jugendtypische Sexualmuster: Ein Fazit137
Danksagung138
Literatur138
Wirkung pornographischer Mediendarstellungen141
Subjektbezogene Medienwirkungen: Von der Allmachtstheorie der Medien zu bedürfnisorientierten Ansätzen141
Gesellschaftliche Medieneffekte: „Entfremdete Bedürfnisse“, Veränderungen der Kommunikationskultur, Jugendmedienschutz und symbo144
Gesellschaftliche Entwicklungen: Freierer Zugang für Jugendliche zu früheren Tabuthemen und die Problematik der Überverbildlichu149
Lernen am Modell: Nachahmung oder Overscription?150
Der Umgang Jugendlicher mit Pornographie: Sexualisierung der Sprache und Veralltäglichung der Nutzung151
Frauen als Sexualobjekte in Mediendarstellungen: Problematische Bilder und problematische Folgerungen152
Das Interesse von Jugendlichen an sexualitätsbezogenem Wissen: Rezeptund Orientierungswissen, Informationsquellen und präferiert154
Alles Porno oder was? Die Konstruktion von Realität in den Medien und Strukturen des Begehrens157
Anschluss kom munikationen und Anschlusshandlungen: Ein vernachlässigtes Forschungsfeld159
Literatur159
Jugend, Medien und Pornographie162
Jugendliche Mediennutzung als Problem: Die dominante Perspektive des schädlichen Ein usses162
Sexualität als das Thema Jugendlicher: Mediennutzung und „strukturelle Kopplung“167
Pornographie im Internet171
Literatur176
Sexualisierte jugendliche Netzkulturen?179
Sexy Egoshots: Netzbilder als Aufwertung des jugendlichen Körpers180
Sexuelle Software und visueller Hypersex bei jugendlichen Selbstdarstellungen?182
Egoshots: Methodische Strategien zur Untersuchung der Selbstbilder Jugendlicher184
Männer-Selbstbilder: Indie Boy vs. Macho Man185
Flirrende Weiblichkeiten: „erotisch, hässlich, künstlerisch“187
Frauen erscheinen, Männer handeln? Zum Vergleich der jugendlichen Körperbilder bei ickr190
Flickrnde Sexyness191
Übersicht über die eher jugendorientierten Gruppen („groups“)192
Jung, modisch, stylish ist sexy!192
Literatur197
Explizite Lyrik – „Porno-Rap“ aus jugendsexuologischer Perspektive200
Nutzung von Pornographie201
HipHop und Rap205
HipHop in Deutschland und die Entwicklung des sexistischen Rap207
Nutzung von „Porno-Rap“210
Resümee: Raue Schale, romantischer Kern217
Generelle Sexualisierung der Sprache als Ober ächenphänomen217
Veralltäglichung ‚normaler‘ Pornographie218
Sexistischer Rap als Ausdruck sexualkultureller Polarisierung219
Literatur221
III. Re exionen224
Verwahrlosung und die Legitimation sozialer Ungleichheit225
Literatur230
Sexuelle Verwahrlosung – Interventionsnotwendigkeiten und -möglichkeiten aus pädagogischer Perspektive233
Interventionsnotwendigkeiten233
Sexualpolitische und -pädagogische Roll-back-Bewegungen233
Angstthemen im Umkreis von Kindersexualität234
Die moderne Kleinfamilie: Zwischen Intimisierung und Inzestbedrohung235
Sexuelle Verwahrlosung als Zeichen kultureller Deprivation237
Sexuelle Bildung238
Entwicklung des sexuellen Selbst durch Eigensinn und Grenzerfahrungen238
Sexuelle Bildung zur Stärkung sexueller Identität239
Interventionsmöglichkeiten241
Die Verbindung zwischen der ‚sozialen Frage‘ und der ‚sexuellen Frage‘241
In Analogie zur sozialpädagogischen Milieugestaltung: Gestaltung von Sexualkultur!242
infrastrukturelle Dimension245
Liebe und Sexualität im Kontext von Ganztagsschulen und Bildungslandschaften246
Ausblick und Weiterarbeit247
Literatur249
Der Topos ‚Sexuelle Verwahrlosung‘: Münze im Handel zwischen den Generationen, Geschlechtern und Milieus251
Dimensionen des Problems251
Konjunkturen des Themas252
Argumente zur Problematisierung253
Positionen der Gelassenheit gegenüber den Problematisierungen255
Pornographie256
Zahl der Geschlechtspartner257
Früher Beginn mit Koitusaktivität257
Jugendschwangerschaft258
Nacktheit258
Angst machende Prognosen258
Sexuelle Anomie und Anarchie259
Jugend im Fokus259
Kommodi zierung des Sexuellen260
Zum Verlauf des Problemprozesses260
Die gesellschaftlichen Reaktionen261
Präventionen264
Warum kommt es zur Themenkonjunktur ‚Sexuelle Verwahrlosung‘?265
Schlussbemerkungen268
Literatur269
Autorinnen und Autoren270

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