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Sexueller Missbrauch in Familie und Institutionen

Psychodynamik, Intervention und Prävention

AutorMagdalena Stemmer-Lück, Mechthild Gründer
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl188 Seiten
ISBN9783170238152
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Sexueller Missbrauch findet sowohl im familiären Kontext als auch in Institutionen statt. Er bedeutet immer Machtmissbrauch an Kindern und Jugendlichen, die auf Schutz und Fürsorge in tragfähigen Beziehungen angewiesen sind. Nach Bekanntwerden von Missbrauchsskandalen und nachfolgenden Aufdeckungs- und Verarbeitungswellen wird das Thema in der Öffentlichkeit und in Fachkreisen diskutiert. Je mehr Wissen zur Opfer-Täter- und Institutionsdynamik sowie über Richtlinien zur Prävention sexuellen Missbrauchs in Institutionen und den entsprechenden gesetzlichen Grundlagen vorhanden ist, desto eher wird professionell reagiert und reflektiert. Das Buch liefert dafür notwendiges Grundwissen zur Psychodynamik und veranschaulicht anhand von Fallbeispielen aus unterschiedlichen Institutionen wirksame Maßnahmen zur Intervention und Prävention.

Mechthild Gründer, Dipl.-Sozialarbeiterin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Opfer- und Tätertherapeutin, Lehrbeauftragte. Prof. em. Dr. Magdalena Stemmer-Lück, Dipl.-Psychologin, Psychoanalytikerin DPG, Supervisorin DGSv.

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Leseprobe

Einführung


Das Thema des sexuellen Missbrauchs wird in der Öffentlichkeit immer wieder heftig diskutiert in Abhängigkeit von bekannt gewordenen Skandalen und nachfolgenden Aufdeckungs- und Verarbeitungswellen. Sexueller Missbrauch ist immer Machtmissbrauch an Kindern und Jugendlichen, die auf Schutz und Fürsorge in tragfähigen Beziehungen angewiesen sind. Derartiger Machtmissbrauch rüttelt an den Grundfesten unserer Gesellschaft und gefährdet das Vertrauen in Einrichtungen, die ein sicherer Ort sein sollten. In den letzten Jahren erreichte eine neue Welle von Bekanntmachungen von sexuellem Missbrauch im Heim, im Internat, in der Schule und in der Kirche wieder die Öffentlichkeit. Die Reaktionen sind polarisierend: von radikalen Bestrafungstendenzen bis zu Bagatellisierungen im Sinne einer völligen Aufbauschung der Vorkommnisse. Das Thema löst Betroffenheit aus und wird grundsätzlich kontrovers diskutiert. Der im Kontext von sexuellem Missbrauch zentrale Schutzmechanismus der Spaltung zeigt sich auch in den öffentlichen Reaktionen.

Nach Angaben der Forschungsgesellschaft ISTSS (International Society for Traumatic Stress Studies) kann angenommen werden, »dass 20 % der Mädchen und 5 bis 10 % der Jungen während ihrer Kindheit Erfahrungen mit ungewolltem sexuellen Kontakt und sexueller Belästigung hatten« (ISTSS 2004, S.415). Diese Annahme basiert auf einer Vielzahl von epidemiologischen Studien, in denen Erwachsene über ihre Kindheit befragt wurden. Das Ergebnis deckt sich in etwa mit einer aktuelleren großen Metaanalyse über 217 Studien zwischen 1980 und 2008, wonach die mittlere Prävalenzrate für Frauen bei 18 % und die für Männer bei 7,6 % liegt (vgl. Stoltenborgh et al. 2011). Studien zu sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen durch Personal in Institutionen zeigen deutliche Defizite (vgl. DJI 2011, S.42 ff.). Das Ausmaß der Studien steht entgegen gesetzt zum Ausmaß des öffentlichen Aufsehens.

Angesichts der aktuellen Vorkommnisse hat die Bundesregierung im März 2010 die Einsetzung eines nationalen Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs beschlossen; außerdem noch die Einrichtung des Runden Tisches »Sexueller Kindesmissbrauch«. Ein Abschlussbericht liegt vor (Deutsches Jugendinstitut e.V. – DJI 2011). Die ehemalige Unabhängige Beauftragte Bergmann richtete u. a. eine Anlaufstelle ein, an die sich Betroffene und ihre Kontaktpersonen telefonisch oder schriftlich wenden können (www.beauftragte-missbrauch.de). »Die wissenschaftliche Auswertung der telefonischen Meldungen und Briefe von Betroffenen bestätigt, dass Mädchen und Jungen, junge Frauen und Männer häufig in Institutionen sexuell ausgebeutet werden. Die weiblichen Betroffenen hatten in deutlich mehr als der Hälfte der Fälle sexualisierter Gewalt in der Familie (70,8 Prozent), in nahezu jedem sechsten Fall in Institutionen (17,2 Prozent), in jedem zehnten Fall im sozialen Umfeld der Familie und in einigen wenigen Fällen durch Fremdtäter erlebt. Männliche Betroffene wurden weniger häufig als Mädchen innerhalb der Familie (32,6 Prozent), jedoch häufiger in Vereinen, auf Ferienfreizeiten, in Pfarrgemeinden und anderen Institutionen sexuell ausgebeutet (56,9)« (Bange & Enders 2012, S. 21). Die Statistiken sind alarmierend. Zu bedenken ist dabei, dass sie sich auf eine spezifische Population beziehen und die Dunkelziffer unberücksichtigt bleibt. Auf der Basis von 827 Anrufen von Betroffenen und Kontaktpersonen verteilt sich nach dem Abschlussbericht das Missbrauchsgeschehen in Institutionen wie folgt: Katholische Kirche 29 %, evangelische Kirche 11 %, Kirche ohne Spezifikation 4 %, Schule 24 %, Heim 19 %, Kliniken und Praxen 7 %, Vereine 5 % (Abschlussbericht der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs 2011, S. 49).

Eine zentrale Motivation für das Schreiben des vorliegenden Buches ist die Vergrößerung des Schutzes von Kindern und Jugendlichen. Dafür ist es notwendig, dass Fachleute, denen Kinder und Jugendliche anvertraut sind, sich ihrer generativen Verantwortung bewusst sind und über ein professionelles Wissen verfügen, welches die eigene Wahrnehmung erweitert. Mit Wahrnehmung ist sowohl die nach außen gerichtete Wahrnehmung als auch die Selbstwahrnehmung gemeint, denn auch Professionelle unterliegen Abwehrmechanismen. Von daher gibt es stets Differenzen zwischen den erklärten Zielen von Professionellen im Umgang mit sexuellem Missbrauch und dem tatsächlichen Verhalten. Professionelle sind immer Teil des Feldes, in dem sexueller Missbrauch erfolgt, insofern wirkt immer auch die Dynamik der Institution. Die Struktur der Institution und die Haltung der Leitung tragen entscheidend dazu bei, sexuellen Missbrauch zu ermöglichen oder zu verhindern. Um der Abwehrdynamik, insbesondere der Verleugnung nicht zu erliegen, hilft nur ein strukturiertes bedachtes Vorgehen und Unterstützung von außen.

Um die Dynamik von sexuellem Missbrauch in größeren Institutionen zu verstehen, ist es notwendig, sich zunächst mit der Dynamik in der Institution Familie zu beschäftigen. Darum lautet der Titel des Buchs »Sexueller Missbrauch in Familie und Institutionen«. In der Familie kann die Dynamik in vergrößerter Form beobachtet werden; in anderen Institutionen greifen generell dieselben Prinzipien.

Theoretische Basis des Buches ist der psychodynamisch-psychoanalytische Zugang. Da die Beziehung und Beziehungsgestaltung das Herz psychodynamischen Denkens und psychoanalytischer Theoriebildung ist, eignet sich der Zugang zum Beschreiben und Verstehen der missbrauchten Vertrauensbeziehung. Er hilft auch unbewusste Dynamiken zu verstehen, die individuell wie auch interaktionell greifen. Hier sind insbesondere die komplexen Abwehrmechanismen zu betrachten. Die bedeutsamen Zusammenhänge von Missbrauchserfahrungen in der Kindheit und Störungen in der Kindheit, Jugend und im Erwachsenenalter sind von psychodynamischen Ansätzen umfassend untersucht und beschrieben.

Anliegen/Ziele dieses Buches sind:

•  Merkmale bzw. Symptome von sexuellem Missbrauch zu erkennen.

•  Langfristige Folgen von sexuellem Missbrauch zu erkennen und zu verstehen. Die Folgen können sich auf ein Individuum wie auf eine Institutionskultur beziehen.

•  Die Dynamik des Missbrauchs in Macht-Abhängigkeitsverhältnissen zu verstehen. Dazu gehört die interaktionelle Dynamik zwischen Opfer und Täter wie auch die des Umfeldes.

•  Die Dynamik des Opfers wie die des Täters zu kennen und zu verstehen. Denn nur wenn Täterstrategien bekannt sind, können Kinder langfristig geschützt werden.

•  Konkrete Interventionsschritte aufzuzeigen bei vagem Verdacht, berichtetem und beobachtetem Missbrauch.

•  Präventive Maßnahmen anzuregen und mit Irrtümern aufzuräumen.

•  Sensibilisierung für die schwierige rechtliche Situation. Denn die Beweislast für die Tat als auch für die Folgen der Tat liegt beim Opfer. Der Beweis ist jedoch häufig aus unterschiedlichen Gründen nicht möglich.

•  Nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern auch die Haltung von Professionellen zu verändern, damit sie aktiv Kinderschutz gewährleisten. Dieser aktive Kinderschutz erfordert Zivilcourage, manchmal auch gegen die Leitung der Institution, die nicht zu handeln erlaubt.

•  Prävention, weder Schuldzuschreibung noch Exkulpation. Prävention ist letztlich nur auf einer Basis des Verstehens sinnvoll möglich.

Im vorliegenden Buch konzentrieren wir uns auf den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch überwiegend erwachsene Täter und Täterinnen. Auch Jugendliche und Kinder können sexuell übergriffig sein. Bezogen auf die Missbrauchten verwenden wir die Begriffe Opfer oder Betroffene, bezogen auf die Täter und Täterinnen benutzen wir auch die Begriffe Missbraucher und Missbraucherinnen.

Das Buch gliedert sich in drei große Kapitel. Nach einer »Einführung« wird in Kap. \1»Zum sexuellen Missbrauch allgemein« das Phänomen des sexuellen Missbrauchs von vielen Seiten beleuchtet. Wir beginnen mit »Definitionen« (1.1) des sexuellen Missbrauchs in einem Macht-Abhängigkeitsverhältnis und stellen »Psychologische Definitionen« (1.1.1) sowie »Juristische Merkmale« (1.1.2) vor. Auf die gesellschaftliche »Tabuisierung des sexuellen Missbrauchs« als Handlungs- und Sprachtabu wird im folgenden Kapitel (1.2) eingegangen. Da der psychodynamisch/psychoanalytische Zugang zum Verstehen im vorliegenden Buch zentral ist und die Psychoanalyse einen bedeutenden Beitrag zum Verstehen dieses Phänomens einschließlich der Abwehr leistet, wird der »Bedeutung des sexuellen Missbrauchs in der Psychoanalyse« (1.3) ein eigenes Kapitel...

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