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E-Book

Nach Sibirien verschleppt

Persönliche Erinnerungen eines aus Dorpat Fortgeführten

AutorErnst Seraphim
Verlagepubli
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl134 Seiten
ISBN9783745002393
Altersgruppe18 – 99
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis1,99 EUR
In einem Tatsachenbericht wird die Verschleppung von Balten-Deutschen aus Dorpat, (heute Tartu; Estland) und Reval (heute Tallinn; Estland) geschildert. Das Ziel der Deportation lautet Sibirien. Viele Hundert Menschen kamen in deren Verlauf zu Tode. Der Autor beschreibt anschaulich die politischen Umstände und die zunehmende Brutalität gegenüber deutschstämmigen Einwohnern.

August Ernst Wilhelm Seraphim, ein deutsch-baltischer Historiker und Journalist

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Leseprobe

l. Dorpater Schreckenstage.


Am Sonnabend den 10. Februar gingen in Dorpat bereits dunkle Gerüchte um, daß in der Nacht auf Sonntag eine allgemeine Haussuchung stattfinden würde, durch die sich die bolschewistischen Machthaber ihrer Gegner in der Stadt entledigen wollten, wobei es natürlich in erster Reihe gegen die deutsche Bevölkerung abgesehen war. Die Gerüchte fanden jedoch wenig Glauben, obwohl in Reval die Verhaftung des estländischen Ritterschaftshauptmanns Baron Dellingshausen-Kattentack und einiger anderer estländischer Herren die Gemüter in Erregung versetzt hatte und die Eindrücke dieses Gewaltstreichs in Dorpat heftig nachzitterten. Als Grund der Verhaftungen wurde angegeben, daß die maximalistischen Führer in Reval in den Besitz einiger Petitionen gekommen waren, in denen auf Grundlage des von der russischen Regierung selbst proklamierten Selbstbestimmungsrechts der Nationen der Auschluß unserer Heimat an das Deutsche Reich vom Deutschen Kaiser erbeten wurde, Petitionen, die auch in der estnischen Bevölkerung des Landes lebhafte Sympathien gefunden hatten, wenngleich bei dem Terror der Maximalisten und ihrer Sowjets und Komitees, wie bei der aus Deutschenhaß diktierten ablehnenden Haltung der ehrgeizigen sogenannten „politischen Führer“, vor allem des bekannten „Postimees“-Redakteurs Jaan Tönisson, diese Sympathien sich nur in sehr bescheidener Weise an’s Tageslicht wagten.

Nur zu bald sollte es sich zeigen, daß die umgehenden Nachrichten in einem Umfange sich als wahr erweisen würden, an die keiner gedacht hatte, daß vielmehr dunkle Pläne des Leiters der Revaler Schreckensmänner Anwelt, von denen man bereits munkelte — den baltischen Adel als Geiseln bei einem Anmarsch der Deutschen fortzuführen, in erschütterndem Maße verwirklicht werden würden. –

Die Nacht von Sonnabend auf Sonntag war von Anwelt und seinen Genossen in der Tat bestimmt worden, Um im ganzen Lande einen Hauptschlag zu tun.

Ich befand mich abends als Gast im Dorpater Dozentenabend. Auch hier wurde von den Gerüchten geredet, auch hier ihnen aber völlige Skepsis entgegengebracht. Als wir in kleiner Gesellschaft bald nach 12 Uhr heimkehrten, begegneten wir im Wallgraben in der Nähe der zur Stern- und Teichstraße führenden Steintreppe einer starken Militärabteilung, die Halt gemacht hatte und sichtlich Befehle erhielt. Und als wir am Wulffius’schen Hause an der Teichstraßenecke passierten, sahen wir dort bereits Soldaten vor den Türen und durch die erleuchteten Fenster, daß dort eine Haussuchung im vollen Gange war. Bald nach 12½ Uhr war ich zu Hause. Eilte doch ein jeder in begreiflicher Unruhe zu den Seinigen, im dunklen Gefühl, daß eine schwere Gefahr sich über uns allen zusammenzog. Noch wußte ich nicht, daß auf dem Heimwege vom Dozentenabend eine Anzahl von Herren, u. a. zwei alte Herren v. Stryk, Prof. v. Bulmerineq, Prof. Landesen und Prof. Krüger-Tomsk auf der Straße ohne jede Veranlassung inhaftiert und auf das Feuerwehrhaus gebracht worden waren, wo das Hauptquartier der Maxmialisten errichtet war. In starker Spannung legte ich mich schlafen, aber der Schlaf floh meine Augen. Stumm horchte man hinaus auf die Straße, ob nicht verdächtige Zeichen herannahender Schergen zu hören seien. Es mochte 2 Uhr sein, als ich vom benachbarten Mattiesen’schen Hause her Lärm und Stimmen hörte. Ich sprang aus dem Bett und sah vor dem Hause Wachen mit aufgepflanztem Bajonett, die Fenster in beiden Etagen hell erleuchtet. Nun wußte ich, daß es nur eine Frage der nächsten Stunden sein würde, wann die Schergen auch zu mir kommen würden. Es mochte ¾ 3 Uhr gewesen sein, als mit Kolben an die Haustür gedonnert wurde und auf meine Frage, wer da sei, die Antwort erfolgte: „Haussuchung“. Herein traten ein junger lettischer Unteroffizier und 3 oder 4 andere Soldaten, die mir ein Papier vorwiesen, sie müßten meine Schwägerin verhaften. Auf meine Einwendung, die Dame sei krank und habe sich niemals mit Politik befaßt, beharrte der Führer auf seiner Weisung. Während die Leute in meiner Wohnung im Salon eine mehr als oberflächliche Suchung vornahmen, ließen sie sich von einer Durchsuchung der obern Etage, wo meine Schwägerin wohnte, nicht abhalten. Ich muß aber feststellen, daß die Leute recht manierlich vorgingen, die ganze Suchung mehr von oben hin durchführten, sich auf ein Dutzend silberner Löffel beschränkten und es ruhig zuließen, daß meine Nichte ihren ihr abgeforderten Ring- und Armband mir übergab und ich sie in meine Tasche versenken konnte. Als ich mit dem jungen Letten unter vier Augen allein war, machte ich meiner Entrüstung über die Vorgänge sehr energisch Luft, worauf er mir deutsch antwortete: „Was wollen Sie? Sie gehören zur Intelligenz und wissen selbst, daß der Pöbel, wenn er toll wird, nicht zu zügeln ist. Ich tue, was ich kann, — im Nebenhause ist es mir soeben noch gelungen Wertpapiere für den Eigentümer zu retten“. Ihm war die ganze Sache sichtlich sehr unangenehm, er trieb immer wieder zur Eile an, um uns weitere Suchungen zu ersparen, und nach ca. ¾ Stunden gingen meine Schwägerin, ihre Tochter und ich, wir beiden als Begleiter ersterer, auf die Straße hinaus, dann durch die Gartenstraße zum Spritzenhause, dem Hauptquartier der Bolschewiks. Überall begegneten uns Patrouillen, überall sah man erleuchtete Fenster, Piquets vor den Türen. So kamen wir ins Feuerwehrhaus, wo wir durch lungernde Soldaten in schmierigen Uniformen und abgerissene Zivilpersonen die Treppe hinauf ins Sitzungszimmer gingen. Ein grotesker Eindruck, den man hier erhielt: Hinter einer Barriere an einem langen Tisch einige schmutzige, unruhige Schreiber, z. T. wahre Galgengesichter, an den Wänden Soldaten mit umgehängten Flinten, dann eine Anzahl von Damen und Herren aus der deutschen Gesellschaft, denen die Indignation und Erregung über die Verhaftung von den Gesichtern abzulesen war. Das Ganze war in die trübe Atmosphäre von Petroleumlampen und stickigen Dunst getaucht. Als wir eintraten, rief uns einer der Kerls entgegen: „Was werden die Frauenzimmer alle hierher geschleppt? Laßt sie doch wieder nach Hause!“ In der Tat wurden die Damen, — es waren etwa 8 zu der Zeit dort, darunter eine sehr alte Dame von über 70 Jahren — mit einem Begleiter in die „Bürgermusse“ weitergeschickt, um von dort mit einem amtlichen Passierschein weiter nach Hause entlassen zu werden. So ging es denn wieder vom Embachufer zur Bürgermusse, die unter sehr starker militärischer Wache stand. Überall, vor der Tür, im Vorraum und auf den Treppenabsätzen standen Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett, und oben im großen Saal ein ähnliches Bild wie im Spritzenhause, düster, unruhig, ekelhaft. Überall viele verhaftete deutsche Herren, viele Edelleute aller Altersstufen. Der uns hierher geleitende Bolschewik riet mir selbst, ich möchte mich lieber rasch aus dem Hause entfernen, ich liefe sonst Gefahr auch verhaftet zu werden. Als ich in seiner Begleitung das Hans verlassen wollte, verwehrte uns in der Tat die Wache den Austritt, aller Protest des Bolschewiks, er gehöre doch selbst zur Kompagnie, sei ein erzroter Gardist, verfocht nichts, und es war ein reiner Zufall, daß ein noch röterer Vorgesetzter uns in den Weg kam, der dem Soldaten den Befehl gab, uns passieren zu lassen. Ich eilte auf die Straße, blieb dort im Schatten eines Hauses und sah, wie in nicht abreißender Menge neue Verhaftete unter Soldatenkonvoi eingeliefert wurden, Schlitten mit gestohlenen Lebensmitteln, die aus den Wohnungen der „Burshui“ requiriert worden waren, angefahren kamen, Automobile heransausten, Gruppen Neugieriger, oft lachend und spöttische Bemerkungen austauschend, vor der Eingangstür Posto faßten. Schließlich kamen unsere Damen heraus und wir konnten den Heimweg antreten. Unterwegs dasselbe Bild wie beim Hingang; als wir in die Peplerstraße einbogen, hörten wir an der Dr. Ottoschen Wohnung das heftige Poltern von Kolbenschlägen durch die stille Nacht herübertönen. Gegen 5 ½ Uhr etwa langten wir endlich wieder zu Hause an.

Die beiden folgenden Tage verliefen für uns persönlich ruhig, aber die allgemeine Erregung wurde immer größer, je größer sich das Unglück erwies, das in jener Schreckensnacht über so viele deutsche Familien Dorpats und des Landes hereingebrochen war: mochten es doch über 300 Personen sein, die aus dem Schoß der Ihrigen, oft unter brutalen Mißhandlungen, meist unter Ausraubungen frechster Art gerissen worden waren: ganze Schätze von altem Silber, goldene Uhren, Ketten und Ringe, bares Geld und Dokumente, Wertpapiere, die in einzelnen Häusern sehr große Summen in sich schlossen, gingen mit den Räubern auf Nimmerwiedersehen aus den Häusern. Die Roheit, mit der die Haussuchungen vielfach durchgeführt wurden, wird durch die Tatsache grell beleuchtet, daß mehrfach den Beraubten die Ringe mit Gewalt von den Fingern gezerrt wurden. Es geht ins Groteske, was alles gemaust und gestohlen wurde, Wein, Papiros und Zigarren, Spiegel und Brillengläser, Wäsche aller Art und Stiefel, kurz alles, was nicht niet- und nagelfest war. Doch Einzelheiten zu erzählen, liegt nicht im Rahmen dieser Aufzeichnungen. Nur das sei nachdrücklich hervorgehoben, daß weit über den Wortlaut des berüchtigten Anweltschen Dekrets hinaus in Dorpat ein großer Teil der Verhafteten aus Personen bestand, die nicht zum baltischen Adel gehörten und daß man kritiklos aufgegriffen hatte, was den Häschern unter die Finger gekommen war: alte kranke Herren, die jeder „Politik“ ferngestanden hatten, Studenten, ja selbst Schüler. Andrerseits waren zahlreiche Glieder des Adels und zwar solche, deren Namen längst auf dem „schwarzen Brett“ standen, völlig unangefochten geblieben und wurden auch...

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